Umstrittenes Berliner Dries-Verhoeven-Projekt vorzeitig beendet
Konsequenzen
Berlin, 5. Oktober 2014. Dries Verhoevens umstrittenes Projekt Wanna Play? – Liebe in Zeiten von Grindr wird vorzeitig beendet. Das teilte am Abend das Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) mit, das die Performance am Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg produziert hat.
Dries Verhoeven hat dort am 2. Oktober einen verglasten Container aufgestellt. Dort chattete er über die Dating-App Grindr mit homosexuellen Männern. Auf einer LED-Wand hinter ihm konnten Passanten die Kommunikation mitverfolgen, inklusive Profilnamen und Profilfotos der Chattenden, die nicht wussten, dass sie Teil eines Kunstprojekts waren. Die Bilder waren zunächst kaum verfremdet zu sehen. Einer der Betroffenen hatte juristische Konsequenzen angekündigt. Die Aktion hatte auch darüber hinaus für Empörung gesorgt.
Inzwischen hat sich das Theater in einer Stellungnahmen entschuldigt und weist auf eine weitere Diskussionsveranstaltung am 15. Oktober um 20 Uhr im HAU1 hin.
(sle)
Mehr dazu: Die Twitter-Diskussion zu "Wanna Play" lässt sich unter #WannaPlay nachverfolgen, wenigstens in Teilen.
Einen ausführlichen Bericht über die öffentliche Diskussion mit HAU-Chefin Annemie Vanackere und Dries Verhoeven am Abend des 5. Oktober 2014, nach Absage der Kunstaktion, findet sich auf Kreuzhainer. Portal für Friedrichshain-Kreuzberg (6.10.2014).
In einem Kommentar auf queer.de (6.10.2014) schreibt Kevin Junk: "Die Kritik an der Praxis, private Konversationen auf einen Bildschirm auf einer belebten Kreuzung zu projizieren, ist gerechtfertigt." Den Künstler aber in "moralische Geiselhaft" zu nehmen, als hätte er diese Möglichkeit erst konstruiert, gehe "viel zu weit". Es sei möglich, "wie in Ägypten und Uganda geschehen, schwule Männer via Grindr zu bestimmten Orten zu locken und dadurch homophoben Attacken auszusetzen." Was Verhoeven zeige, sei "wie delikat und zerbrechlich die Illusion von Privatsphäre im Internet eigentlich ist". Die Installation sei "in ihrer Komplexität und ihrem Scheitern" ein wichtiger Impulsgeber für viele Diskussionsstränge. Was also sei mit der Liebe in Zeiten von Grindr? Anscheinend sei Verhoevens Frage so aufregend, so antreibend, so wichtig, dass eine ganze Schar von Männern ausraste. Verhoeven habe "den Finger in eine Wunde gelegt" und müsse offenbar nun dafür bezahlen.
In einem langen Bericht, der die Aktion von Verhoeven beschreibt und kritisiert schreibt der Kulturwissenschaftler Jan Schnorrenberg auf kleinerdrei (6.10.2014): "Die öffentliche, ungefragte Zurschaustellung geschützter Räume und Intimität ist ein Übergriff. Nichts weiter." Da könne der Anspruch "noch so subversiv und kreativ" oder "emanzipatorisch" sein. "Wenn im Namen von Privatsphäre und Gesellschaftskritik Räume ohne Zustimmung der Menschen die sie nutzen geöffnet werden, dann ist das ein gewaltvoller Akt, der für die Beteiligten unkalkulierbare Gefahren mit sich bringen kann."
Der Bericht von süddeutsche.de (6.10.2104) findet sich hier.
Und der Bericht der Berliner Morgenpost (6.10.2014) findet sich hier.
Der jüngste Bericht der Berliner Zeitung: hier.
Eine sehr differenzierte Analyse des Projekts und seines Scheiterns von Malte Göbel, Enrico Ippolito und Martin Reichert veröffentlichte die taz (7.10.2014).
Der Skandal an "Wanna Play" sei: "Dass er eine neue Sozialtechnologie rückübersetzt in eine Situation, die ausstaffiert ist nach dem alten Vergesellschaftungsmodell der Intimität des Privaten", schreibt Roger Behrens in der Jungle World (16.10.2014) und schließt eine Reflektion über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Kommunikationsvermarktung an.
Hier die Presseschau zum taz-Interview mit Dries Verhoeven vom 24. Oktober 2014.
(jnm)
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Letzteres immerhin klang in ihrer Antwort durch: nicht Qualität, sondern Seilschaften. Man kennt sich aus den Niederlanden.
Damit kann ich leben. Qualität lässt sich nicht objektiv messen und Beziehungen, auch Arbeitsbeziehungen, basieren nun mal auf Vertrauen.
Aber was hat den Hauptstadtkulturfonds dazu bewogen, die Veröffentlichung privater E-Messages zu subventionieren, die doch während der Antragstellung in der NSA-Debatte so wütend bekämpft wurde? Winkt man auch dort nur einfach durch, was einem seine "Vertrauenspersonen" vorlegen? D.h. arrivierte Institutionen kriegen ohne kritische Prüfung Geld, Personen und Institutionen ohne Vitamin B nicht?
Berliner Filz?
Generell möchte ich darauf hinweisen, dass Art. 5 Abs. 3 GG auch für schlechte oder gar "bescheuerte" Kunst gilt. Um die Qualität oder Sinnhaftigkeit geht es hier überhaupt nicht. Die einzige Frage ist, ob andere Verfassungsgrundsätze verletzt werden und das ist m.E. alles andere als eindeutig. Ist das nicht der Fall ist ein solches Projekt zulässig und zu ertragen.
"Die erforderliche Täuschungshandlung meint wie im Strafrecht ein Verhalten, das darauf abzielt in einem anderen eine unrichtige Vorstellung hervorzurufen, zu bestärken oder zu unterhalten. Sie kann durch positives Tun, aber auch durch Unterlassen ausgeübt werden." - Abgesehen davon geht es in diesem Forum sehr wohl um die "Qualität" und "Sinnhaftigkeit" von Kunst.
Und natürlich dürfen wir über Sinn und Qualität der Aktion reden – diese Diskussion ist jedoch von der über ihre Zulässigkeit strikt zu trennen.
danke für den hinweis. Ich bin gegen Gewalt gegen Künstler. "Zurückschlagen" meine ich im übertragenen Sinn. Also präzise: Ich freue mich, dass endlich einmal einer, dessen "Authentizität" für ein Kunstprojekt ausgebeutet wird, SICH WEHRT. Und zwar auf der Basis des Grundgesetzes und aller anderen Gesetze, die hier gelten.
Abgesehen davon ist ein "Kunstprojekt", das Unbeteiligte unfreiwillig entblösst keine Kunst, sondern eine Art von Gewaltanwendung. Ich bin gegen Gewalt gegen unwissentlich in ein Kunstprojekt hineingezogene Menschen.
Ich würde mich total denunziert fühlen, kann also seine Reaktion nur zu gut verstehen. Man kann nicht jemanden in die Fresse schlagen und sagen: "Tut zwar weh, ist aber Kunst, also hab dich nicht so." Was am Heinrichplatz ablief, war "Versteckte Kamera". Und hier gilt meines Erachtens die Einschränkung. Für mich wurden die Kontaktierten Opfer arglistiger Täuschung. Wäre es klar offengelegt gewesen, wäre das was anderes. So wie es aber offenbar gelaufen ist, ist es für mich ein voyeuristischer Akt, mit der billigenden Inkaufnahme, jemanden gegen seinen Willen zu outen. So ungefähr: "Mal sehen, welcher Depp jetzt kommt, der sich zum Ficken verabredet hat." Und alle schauen zu. Bei Hölderlin heißt es: "Der Menge gefällt, was auf dem Marktplatz taugt." So empfand ich die Aktion.
"Da muss dann auch, ganz pauschal, das Internet den Kopf hinhalten, das, "wenn es einem die Möglichkeit gibt, sich hinter der Anonymität zu verstecken, ein Drecksladen ist. Ein unzivilisierter Drecksladen." Weil es "wahrscheinlich eher einschläfernd und entsolidarisierend und vereinsamend als bewusstseinsfördernd ist." Die Hoffnung auf Besserung aber gibt Ostermeier nicht auf, sieht die Zeitenwende schon zum Greifen nahe, "weil die digitale Welt die Sehnsucht nach dreidimensionalen Erlebnissen steigert". Smartphone also aus, rein in die Schaubühne und das Twittern auf später verschieben? "Die Entwicklung ist doch schon überdeutlich: Anti-Facebook-Bewegung, Anti-Internet-Bewegung. (...) Facebook ist ein Phänomen wie Discofox, tanzt heute auch keiner mehr.""
http://wolfauftausendplateaus.de/2014/10/subjekte-in-zeiten-von-grindr-wanna-play-nachtrag.html