The Tod must go on

von Wolfgang Behrens

Berlin, 13. November 2014. Das erste Mal seit langem wieder im Gorki Theater gewesen. Irgendeine Repertoirevorstellung. Auf dem Programm steht "Mr. Sloane". Soll vor ewigen Zeiten mal ein Skandalstück gewesen sein. Der Zuschauerraum gähnend leer, ungefähr vier Reihen sind besetzt. Auf der Bühne spielen sie Boulevard, vom Skandal von einst ist nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Man amüsiert sich ein wenig, zusammen mit ein paar Unentwegten, die gekommen sind und in den Sitzen lümmeln, und fragt sich, ob das Gorki Theater nicht vielleicht doch das nächste Haus sein wird, das Berlins Kultursenator zum Abschuss freigeben wird.

Wie sich die Zeiten ändern!

Ja, so war das damals, als das letzte Mal "Seid nett zu Mr. Sloane" (Entertaining Mr. Sloane) von Joe Orton in Berlin gespielt wurde, fast 20 Jahre ist es her. Bernd Wilms war Intendant und hat das Gorki in der Folge recht konsequent in Richtung Boulevardisierung getrieben, was das Theater möglicherweise sogar gerettet und seinem Leiter später den Intendantenposten am Deutschen Theater eingetragen hat.

Wie anders steht das Gorki Theater jetzt da! Mit der Intendantin Shermin Langhoff hat es sich zum Diskurstheater Nr. 1 gemausert, auf allen Werbemitteln prangt das von der Zeitschrift Theater heute verliehene Prädikat "Theater des Jahres 2014", und mit dem Berliner Senat gerät man vorerst nur noch in Clinch, weil gerade ein vom Haus unterstütztes Künstlerkollektiv in seiner Auslegung des Kunstbegriffs recht weit ging. Und in dieser Situation spielen sie am Gorki tatsächlich wieder "Mr. Sloane"? Wie verrückt ist das denn!

mr sloane1 560 ute langkafel uNymphomane Songromantik: mit Mareike Beykirch und Jerry Hoffmann © Ute Langkafel

Natürlich war das Ding vor 50 Jahren bei seiner Londoner Uraufführung und der deutschen Erstaufführung in Hamburg ein absoluter Schocker. Nymphomanin, 40, verführt blutjungen Untermieter. Ihr Bruder ("der sozusagen ein warmer ist", wie der Theater heute-Mitbegründer Ernst Wendt 1964 schrieb) verführt ihn ebenfalls. Und zum Dank haut der Untermieter mal eben auf den Vater der beiden drauf, bis der tot ist (noch einmal Ernst Wendt: "Abnormes also, zur Belustigung ausgestellt"). Was einst wie ein monströser und verstörender Plot daher kam, hat sich mittlerweile freilich abgeschliffen – übrig geblieben ist nur das well-made-play: Scharfzüngige Dialoge, aus der Wohlbürgerlichkeit ins Aberwitzige abgleitende Situationen.

Nurkan Erpulat, Regisseur mit Faible für Boulevardkomödien

Hausregisseur Nurkan Erpulat, der ja durchaus ein Faible für böse Boulevardkomödien hat (Herr Kolpert und – ähm, ja, warum nicht: Der Kirschgarten), hat sich in seiner Neuinszenierung aus dem well-made-play vor allem das "made" herausgegriffen. Alles auf der Bühne präsentiert sich von Beginn an als Gemachtes: An der vieltürigen Klipp-Klapp-Wohnzimmerschrankwand, die das Hauptelement von Magda Willis Bühne bildet, stehen am Anfang alle Türen offen, so dass man durch sie hindurch die Bühnentechniker sieht, die später hinter die jeweiligen Klappen die passenden (und witzigerweise ständig wechselnden) Schrankinhalte fahren werden. Im Vordergrund bauen sich die Schauspieler zu ihren Figuren um.

mr sloane3 560 ute langkafel uKurz vor dem aktuell größten Bühnentod Berlins: Jerry Hoffmann und Thomas Wodianka.
© Ute Langkafel

Und dann treiben sie dem Stück den Boulevard aus – indem sie ihn übererfüllen. Verlegenheiten, Begierden, Aggressionen: Alles wird so überdeutlich ausagiert, als wäre man im Comedy-Impro-Workshop. Jerry Hoffmann als Mieter und sexuelle Projektionsfläche Mr. Sloane hält seine Hände fast durchgehend in ostentativer Bescheidenheit an den Hosennähten, Mareike Beykirch spielt ihre hysterisch-lüsterne Kathy mit einer mühsam gewahrten und um so offensiver ausgestellten Befangenheitsoberfläche (hochgezogene Schultern, einwärts gedrehte Füße), und Aleksandar Radenković gibt den öligen und unter Hochdruck stehenden Großkotz-Bruder Ed mit durchaus brillanter Übertreibung. Diese Figuren sind nicht schräg, sie zelebrieren ihre Schrägheit – und für den, der das noch nicht mitgekriegt hat, greifen sie immer mal wieder zum zufällig sich im weißen Zottelteppich verbergenden Mikro und schmettern kurze Einschübe aus Musicalsongs wie "There's no business like show business" oder "Who am I anyway?".

Dreier mit Diskurspep

Erpulat hat da durchaus auch etwas im Stück entdeckt: Die Figuren erfinden sich bei Orton oft genug ihre eigenen Geschichten, um sich als Persönlichkeiten selbst zu konstruieren. In der extremen und fingerzeigenden Betonung äußerlicher Zeichen werden noch Sedimente dieser mitunter fast verzweifelten Selbstkonstruktion mitgeführt. Erpulat bleibt dabei jedoch nicht stehen: Der Diskurs zur Selbst- und Fremdkonstruktion wird gleich mitgeliefert. Mareike Beykirch etwa breitet plötzlich Gender Theory aus. Und wenn es anfangs noch gänzlich egal scheint, dass Jerry Hoffmann – der Darsteller des Mr. Sloane – Sohn eines ghanaischen Vaters ist, werden die sexuellen Zuschreibungen, denen er im Stück unterliegt, irgendwann so massiv, dass er sich in einen Text der portugiesischen Autorin Grada Kilomba flüchtet: "Das Schwarze Subjekt wird als ein der Natur näheres dargestellt. (…) Eine alte koloniale Strategie ist es, das Schwarze Subjekt als kindlich zu konstruieren."

Ein wenig aufgepappt wirkt dieser Diskurs allerdings, und man kann sich schon fragen, ob Erpulat, um diese Schauplätze aufzumachen, ausgerechnet den guten alten "Mr. Sloane" ausgraben musste. Wobei das alles ziemlich wurscht wird, wenn Thomas Wodianka zum letalen Schluss als Vater Kemp den wohl schönsten Bühnentod stirbt, den man derzeit in Berlin sehen kann. Nach seiner Strangulation mit dem Mikrofonkabel mutiert der vorher so böse karikierte Mümmelgreis zum völlig irren, "The show must go on" schmetternden Freddie-Mercury-Stehaufmännchen. Wie da einer nicht gehen kann und will, sich zäh in seinem Leben verbeißt, festsingt gewissermaßen, das ist – ob mit oder ohne Diskurs – für einen kurzen Moment einfach gnadenlos komisches, großes Theater.


Seid nett zu Mr. Sloane 
von Joe Orton 
Deutsch von Brigitte Landes 
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Bernd Schneider, Musik: Tilmann Ritter, Licht: Jens Krüger, Dramaturgie: Holger Kuhla. 
Mit: Mareike Beykirch, Jerry Hoffmann, Aleksandar Radenković, Thomas Wodianka, Tilmann Ritter.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.gorki.de


Kritikenrundschau

Dirk Pilz preist in der Berliner Zeitung (15.11.2014) die "Freddie-Mercury-Sterbenummer" von Thomas Wodianka. "Sie ist hinreißend komisch und himmelschreiend traurig zugleich, sie ist berührend selbst in den hinteren Herzkammern, sie ist herrlich schräg und doch genau richtig.“ Auch der Rest und die Praxis, "das Boulevardeske" des Stücks "nicht zu verstecken, sondern zu verdrei- und vervierfachen", gefällt dem Kritiker. Mit seiner Diskurshinzumischung kreiere Erpulat eine "Parabel über Vereinnahmung, über Selbst- und Fremdkonstruktionen, über Macht und Missbrauch, Ausgrenzung und falsches Einverständnis" und trete "ganz auf Augenhöhe mit den Ansprüchen des Gorki, die gesellschaftlichen Hintergrundkräfte sichtbar zu machen.“

"Spaß" hatte auch Patrick Wildermann vom Tagesspiegel (15.11.2014) im Gorki Theater und pointiert: "Broadway trifft Splatter-Boulevard. Die Kleinbürgerhorrorshow." Mit Blick auf die Reflexionen der Hauptfigur schreibt der Kritiker: "Geht es also um die Ausgrenzung des anderen, Fremden aus Neidmotiven? Auch. Darüber hinaus aber stellt Erpulat seine tolle Inszenierung unter das Motto 'Alles nur Show'".

Die Schauwerte dieser als "burleske Migrationskomödie" auftretenden "Farce" überzeugen auch Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.11.2014). "Gespielt wird mit Schwung und Witz, getanzt mit Spaß am Schabernack, gesungen mit viel Herz und komischem Schmerz und begleitet vom Keyboarder Tilman Ritter." In der "hysterisch-beliebigen Nummernrevue" gehe der Inszenierung ihr politischer Biss zwar verloren. Doch auch wenn "eine konsequentere Regie nicht schaden würde, passt die eitle, mittelmäßige Möchtegern-Show auf ihre Art recht gut zum höhnischen Spott dieser schrillen Gesellschaftssatire."

Im Detail gabe es "viel zu entdecken", "en gros aber nichts als Posen und Klischee, nichts als musikalisches Tingeltangel und lärmendes Gezeter, mit dem Holzhammer auf Pointe getrimmt", kritisiert Michael Laages für "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (14.11.2014) und macht seinem Ärger über die aktuellen Leistungen des Gorki Theaters Luft: "Langsam verdämmert" der "gute Ruf des kleinen Theaters mit den 'postmigrantischen' Flausen im Kopf; hinter der 'Neuen Wache' Unter den Linden gelegen, vermittelt es derzeit den Eindruck, als wolle es den Ku'damm-Boulevard von ganz früher herüber holen in die neue Mitte."

"Erpulat spielt auch nicht Ortons böse Farce, er beutet das Stück nur aus, um daraus einen Comedy-Klamauk zu zwirbeln", wettert Peter Hans Göpfer im rbb Kulturradio (14.11.2014). "Es regiert hier 110 Minuten ein gnadenloses Übertreibungs- und Überdrehungstheater. Nichts von Lebenslüge, nichts von bürgerlicher Doppelmoral. Die Schauspieler werden zu Ulktypen dressiert und gezwungen, unter ihrem eigenen darstellerischen Niveau zu agieren."

Kommentare  
Mr. Sloane, Berlin: virtuos, aber zu plakativ
Erpulat und sein Ensemble spielen virtuos auf der Klaviatur der Farce, geben perfekt choreografiertes, zwei drei Umdrehungen der Schraube zu weit gedrehtes Boulevardtheater, das seine eigene Theatralität jederzeit ausstellt. Die groteske Entlarvung eines einseitig dominierten Integrationsdiskurses als Unterdrückungsinstrumentarium wird präzise durchgespielt – und hat sich doch schnell erschöpft. Zu plakativ stellt Erpulat seine – einzige – Kernthese aus, als dass sich ein gradueller Erkenntnisprozess im Zuschauer vollziehen könnte. Was zu sagen war, ist schnell gesagt, und so kann sich das Publikum bald am hochkomischen Geschehen auf der Bühne ergötzen, ohne weiter groß nahzudenken, welche Stachel es ins gesellschaftliche Fleisch schlagen könnte. Nurkan Erpulat macht es sich und dem Zuschauer zu einfach, lädt ein sich zurückzulehnen, stellt keine Fragen. So unterhaltsam, so technisch brillant und so klug gedacht der Abend ist, so wenig fordert er sein Publikum, so wenige Spuren wird er hinterlassen.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/11/14/alles-nur-show/
Mr. Sloane, Berlin: Was ist klug daran?
Was für ein fragwürdiger Kraftaufwand, bei dem einem Schauspieler ständig zeigen wollen, was für coole Säue sie sind (Muskeln zeigen, singen, tanzen, lässig den Text runtersprechen) und ihre Figuren in einer Art Dauer-Würgegriff halten, um in ja keinem Moment etwas Größeres zuzulassen, das vielleicht außerhalb ihres Denk- und Spielvermögens -geschweige denn: im Text- liegen könnte. Auch hat man den Eindruck, der Regisseur hat diesen Text einmal gelesen und dann ein paar Stichwörter angestrichen, die ihn beim Oberflächen-Turnen und coolen Regie-Posen nicht behindern.
Das ist eine Technik, die sich auf jedes andere Stück, das man im Vorhinein für obsolet und minderwertig ansieht, übertragen lässt. Was daran "klug gedacht" sein soll?
Mr. Sloane, Berlin: Laientheater mit simpler Lesart, 1
(liebe nk-Redaktion, es wird leider etwas länger, ich wäre dankbar, wenn Sie nicht kürzen würden, auch wenn der nk-Kritiker angegriffen wird.Danke. Also:-)

Bin einigermaßen erstaunt über den gestrigen Abend und über diese Kritik. Herr Behrens scheint vollends auf die eine (überdies banale und unstimmige) Konzept-Ansage hineinzufallen und guckt dann gar nicht mehr hin. Sonst hätte er folgendes doch merken müssen:
Boulevard, den man mit Boulevard überschreibt, ist weder lustig noch innovativ. Die Strategie: „Boulevard als Metapher, was mit Überzeichnung und doppelter Ironisierung gezeigt wird“ ist hinlänglich bekannt und hat den längsten Bart der neueren Theatergeschichte. Man hört, das Gorki hätte den Anspruch, zeitgemäß zu sein? Stattdessen: Stilmittel, die schon seit ca. 1997 eigentlich verboten sind (weißer Flokati!, Popsongs!!, Show-Lichtrahmen!!! Was bitte, geht denn da ab? Haben die die letzten 15 Jahre Theater verschlafen?). All das zeugt von inszenatorischer Denkfaulheit und führt zu einer Spielweise wie aus dem Laientheater. Das versteckt sich hinter der Behauptung Trash zu sein und bleibt, trotz großen schauspielerischen Kräfte-Aufwands, einfach nur lahm und albern.

Legitimiert wird das von dieser einen Dramaturgie-Idee: Sloane ist schwarz und das soll uns was über die Konstruktion des „Fremden“ erzählen. Da lacht das Kritikerherz, ob einer so auf dem goldenen Tablett gereichten simplen Lesart. Super! Und auch noch politisch so korrekt. Leider ist das nicht nur undialektisch und dramaturgisch falsch sondern überdies auch politisch äußerst fragwürdig, dass Sloane bis zum Schluss „gut“ bleibt bzw. „neutral“ oder eben nur „Projektionsfläche“.
Ist die Rolle des Schwarzen als netter, neutraler und ansonsten eigenschaftsloser Mensch inmitten von grotesk überzeichneten Weißen nicht mittlerweile ein neues schwarzes Stereotyp auf deutschen Bühnen, und letztlich wiederum rassistisch? Die weißen Schauspieler dürfen aufdrehen während der schwarze nur dasteht und sich wundert. Das alles im Sinne der richtigen Aussage – die aber künstlerisch und damit auch politisch völlig falsch ist. Dass auch das Stück auf diese Art nicht funktioniert wäre als Kollateralschaden zwar enorm, aber zu verkraften, wenn es wenigstens zu etwas führen würde, was als Erkenntnis nicht so unglaublich abgestanden, banal und gratis wäre. Warum wird Sloane nicht auch als Schwarzer am Ende eine wirkliche Negativ-Figur (wie das Stück es vorgibt)? Da hätte man doch mal was zu denken, zu erleben und etwas, womit man sich wirklich auseinandersetzen müsste. Mit den eigenen Vorurteilen zum Beispiel, nicht nur mit den Vorurteilen über diese. Dann würde das eigene Denken ansetzen. Aber von solchen Kategorien wie „selber denken“ ist man im Gorki scheint’s weit entfernt. Weder will man es tun müssen, noch es den Zuschauern zumuten. Andere haben was vorgedacht und das wird brav nachgebetet.

(Fortsetzung folgt...)
Mr. Sloane, Berlin: Laientheater mit simpler Lesart, 2
(Forts.:-)
Nicht nur das ästhetische, auch das theoretische Niveau bleibt erschreckend flach. Das soll das Gorki sein, das angeblich als erstes und einziges Theater ernst macht mit dem Verhandeln von gender/race-Thematik? Man ist sich noch nicht einmal zu blöd, die beiden größten und hinlänglich bekannten Allgemeinplätze dieser Diskurse (Geschlecht ist gesellschaftlich konstruiert, das schwarze Subjekt als Projektionsfläche weißer Neurosen und Komplexe) auch noch von den Schauspielern aussprechen zu lassen! Es scheint, als hielte das Gorki seine Zuschauer für bescheuert. (...)

Hier zeigt sich, was passiert, wenn Politische Korrektheit eins zu eins auf künstlerische Produkte übertragen wird: es wird platt, undialektisch und falsch. Das Gegenteil von „gut“ ist „gut gemeint“, das Gegenteil von „gut gemacht“ ist „schlecht“. Und das Gegenteil von Dialektik ist: Populismus. Es scheint, dass es Viele gibt, die darauf reinfallen und sich damit begnügen. Ich wünsche dem Gorki und seinen Machern sehr, dass sie es schaffen, sich aus diesem Missverständnis zu befreien und wirklich dem Anspruch gerecht zu werden, der hier einfach nur plakativ vor sich hergetragen wird, ohne ihm auch nur im Ansatz gerecht zu werden. Dazu braucht es freilich mehr als nur Thesen, dazu braucht es Kunst.
Mr. Sloane, Berlin: noch lang nicht allgemein
Liebe/r H.L., vieles von dem, was Sie schreiben, teile ich. Hätten Sie genauer gelesen, wäre Ihnen vielleicht aufgefallen, dass Wendungen wie "Alles wird so überdeutlich ausagiert, als wäre man im Comedy-Impro-Workshop" (letzterer ist für mich nun wirklich keine sehr positive Assoziation) oder "Ein wenig aufgepappt wirkt dieser Diskurs allerdings" durchaus in Ihre Richtung zielen. Ich habe sicherlich weniger scharf formuliert und würde Ihr negatives Urteil auch nach wie vor nicht in dieser Härte teilen. Ihre Analyse halte ich trotzdem für sehr scharfsinngig, aber ich gebe noch eines zu bedenken: Nur weil die postkolonialen und Gender-Diskurse ein paar Allgemeinplätze erzeugt haben, sind diese ja noch keineswegs falsch. Und sind es denn Allgemeinplätze? Sie sind es in bestimmten intellektuellen Kreisen, die man nun natürlich mit dem Kreis der Theatergänger gleichsetzen könnte. Ich glaube aber schon, dass man diese sogenannten "Allgemeinplätze" noch ein paar Mal laut aussprechen darf, denn ich brauche mich nur auf der Straße umzuhören oder den Fernseher anzuschalten, um zu sehen, dass diese Diskurse noch lange nicht bei der Allgemeinheit angekommen sind.
Mr. Sloane, Berlin: Höchstform am DT
Diese Kritik ist eine Beldeidigung für den Intendanten Bernd Wilms, der das DT gerade zu Anfang seiner Intendanz zur Höchstform gebracht hat. Gosch, Gotscheff, Thalheimer an einem Haus! Diskurs hin oder her. Von solcher Qualität kann das Gorki nur träumen! In dieser Kritik lese ich nur das Bemühen, eine wieder nicht gelungene Premiere am Gorki hoch zu schreiben.
Mr. Sloane, Berlin: Popularität und Verdienst
Ach Seilschaft! Was habe ich denn gegen Herrn Wilms gesagt? Manchmal werde ich es wirklich leid, ständig Dinge in den Mund gelegt zu bekommen, die nirgends stehen! Über Wilms am DT habe ich schon einmal gar nicht gesprochen, sieht man davon ab, dass ich erwähnt habe, dass er dort Intendant geworden ist - das aber stimmt ja offenbar, wie ich u.a. Ihrem Kommentar entnehme. Über Wilms am Gorki habe ich gesagt, dass er ganz bewusst das damals durchaus gefährdete Theater in Richtung Boulevard geöffnet und es dadurch "möglicherweise sogar gerettet" (Zitat aus obiger Kritik) hat. Wo bitte sehen Sie da eine Beleidigung? Das mit dem Boulevard ist keine Erfindung meinerseits, und wenn Sie's nicht glauben, dann zitiere ich hier eine Stimme von 1999 (die freilich - historische Ungerechtigkeit! - von Wilms' Taten am Deutschen Theater noch nichts wissen konnte), Detlef Friedrich in der Berliner Zeitung: Wilms "leitet zur Zeit das Ulmer Stadttheater im Herzen Berlins, das heißt, er sorgt prächtig für Popularität. Katharina Thalbach, Harald Juhnke, Ben Becker und andere 'Stars' ziehen die Zuschauer zuhauf an, aber es geht diesem Boulevardtheater doch wie der Straße, an der es liegt. Die Linden könnten auch ein Boulevard zum Bummeln sein, wenn sie nicht schon eine Autobahn wären." Was Friedrich hier recht kritisch anführt, kann man Wilms ja auch als Verdienst anrechnen.
P.S. Zu Ihrem Kommentar im Thread "Aus für Meese in Bayreuth" sage ich mal nichts. Da hat ein/e Kommentator/in unter dem Nickname "Siegfried, bewahre!" dankenswerterweise schon das Nötige gesagt.
Mr. Sloane, Berlin: lustig, aber harmlos
Als Joe Ortons Entertaining Mr. Sloane 1964 in London uraufgeführt wurde und wenige Monate später unter dem Titel Seid nett zu Mr. Sloane am Deutschen Schauspielhaus Hamburg herauskam, empfanden es viele Bundesbürger als Provokation. In der kurzen Übergangsphase zwischen den miefig-wohlanständigen Adenauer-50ern und dem Aufbeghren der Studenten 1968 wirkte diese böse funkelnde Komödie wie ein Kulturschock. Zwei Geschwister, die nymophanische Kath und der schwule Ed, versuchten schon lange, ihren Untermieter Mr. Sloane zu verführen. Als Mr. Sloane von ihrem Vater Kemp eines Mordes beschuldigt wird, bringt er ihn um. Die beiden Geschwister nutzen diese Situation und erpressen den attraktiven Mr. Sloane, ihnen jeweils sechs Monate abwechselnd als Liebhaber zur Verfügung zu stehen. Andernfalls würden sie seine Morde bei der Polizei melden.

Wegen der offen thematisierten Homosexualität und der auch sonst für damalige Wertmaßstäbe zu freizügigen Moral wirbelte Orton damals viel Staub auf. Seid nett zu Mr. Sloane war ein Dauerbrenner auf den Bühnen, wurde fürs Fernsehen und das Kino verfilmt, ist heute aber nur noch selten zu sehen. Wie kann man sich diesem Stück nähern, ohne dass es aus der Zeit gefallen wirkt?

Regisseur Nurkan Erpulat entschied sich für eine temporeiche, unterhaltsame Farce: alle Figuren sind überzeichnete Abziehbilder, die ihre Wortgefechte mit selbstironischen Musical-Einlagen unterbrechen. Gorki-Neuzugang Jerry Hoffmann spielt Mr. Sloane als sich unbedarft gebendes 20jähriges Landei. Mareike Beykirch und Aleksandar Radenkovic überbieten sich in ihren Flirtversuchen und Thomas Wodianka spielt den senilen Vater.

Eine gute Stunde lang ist das durchaus unterhaltsam anzusehen, ein wirksames Gegenmittel gegen trübe November-Stimmung. Das Ganze dreht sich bei zunehmender Spieldauer jedoch im Kreis. Im verzweifelten Versuch, dem Abend doch noch einen tieferen Sinn als bloße Comedy-Unterhaltung zu geben, lässt Erpulat den Mr. Sloane aus seiner Rolle fallen und an der Rampe einen Monolog über seine Rolle als schwarzes Sexobjekt und als Projektionsfläche für den Traum vom angeblich Urtümlichen und Wilden aufsagen. Gleich danach kippt der Abend wieder ins Groteske: der Todeskampf von Thomas Wodianka alias Vater Kemp, der sich erdrosselt in seinem Mikrokabel windet und doch immer wieder als Stehaufmännchen zu The show must go on ansetzt, die meisten Lacher.

Nach 1 Stunde 45 Minuten endete die zweite Aufführung von Nurkan Erpulats Stück, die weit von der mitreißenden Energie seines Verrückten Blutes entfernt war, aber viel Applaus bekam. Lustig! ist der meistgehörte Kommentar im Foyer. Lustig, aber auch harmlos.

Eine interessante Randbemerkung: Thomas Wodianka/Kemp zieht in einem seiner Tattergreis-Wutanfälle auch über die Penner hier, die einfach die Schilder… äh die Kreuze… gestohlen haben, eine Anspielung auf die hitzige Debatte über die Aktion des Zentrums für Politische Schönheit.

http://e-politik.de/kulturblog/archives/1403-seid-nett-zu-mr-sloane-am-gorki-wie-spielt-man-heute-ein-aufreger-stueck-aus-den-60ern.html
Mr. Sloane, Berlin: nur Affirmation, keine Dialektik
Lieber Wolfgang Behrens, dass Sie meine Kritik, die ja auf sehr fundamentale Punkte zielt, in vielem teilen, freut mich. Das habe ich aus Ihrem Artikel in der Tat nicht herausgelesen, weshalb diese Relativierung Ihrerseits sicher zum Verständnis beiträgt. Was Sie wiederum bei mir überlesen haben, ist, dass es mir überhaupt nicht darum geht, dass man Erkenntnisse der Gender- oder Postkolonial-Debatten nicht mehr aussprechen soll. Die Frage ist aber: wie kann das auf einer Bühne geschehen? Theater, gerade wenn es einen politischen Anspruch hat, sollte dialektisch sein, das wusste schon Brecht. Aufgesagte Thesen sind das Gegenteil von Erkenntnis. Denken findet nicht mehr statt, nur noch Affirmation. Die sich dann als kritisch geriert. Am Gorki kann man beobachten, wie sehr komplexe Theorien zu sehr unterkomplexem Theater führen. Und keiner scheint das wirklich zu bemerken, alle feiern sich in Ihrer vermeintlichen Subversion. Das finde ich bedenkenswert.
Mr. Sloane, Berlin: Selbstfeier am Gorki?
Wer feiert sich denn am Gorki? Was meinen sie ? Und woher speist sich so eine Beobachtung?
Mr. Sloane, Berlin: bei Fritsch wär's anders
"Es regiert hier 110 Minuten ein gnadenloses Übertreibungs- und Überdrehungstheater. Nichts von Lebenslüge, nichts von bürgerlicher Doppelmoral. Die Schauspieler werden zu Ulktypen dressiert und gezwungen, unter ihrem eigenen darstellerischen Niveau zu agieren."

So, so. Ich überspitze jetzt mal. Stünde da jetzt statt Erpulat Fritsch unter Regie, wäre die Einladung zum TT erstens nicht weit und zweitens die Bereitschaft des Kritikers, die positiveren Aspekte der Inszenierung zu sehen und zu beschreiben ebenso.
Mr. Sloane, Berlin: Akklamationsseligkeit
@ Nr.11:
Wollen Sie andeuten, dass die Theaterkritiker Herrn Erpulat bzw. das Gorki vorsätzlich schlecht behandeln? Das ist, mit Verlaub, albern. Das Gegenteil ist der Fall (wie man an den meisten anderen Kritiken sehen kann). Im Falle von Fritsch herrscht bei den meisten Kritkern zwar auch eine kaum nachvollziehbare Akklamations-Seligkeit. Das vorrangige Objekt dieses unkritischen Begeisterungswillens ist doch aber momentan das Gorki. Alle finden es toll, man will dazugehören, will zeigen, dass man auf der richtigen Seite steht, also lobt man alles in den Himmel, auch diese bodenlose Veranstaltung. Kaum einer traut sich da noch, wirklich hinzugucken. Das ist in der Tat ähnlich wie bei den letzten Fritsch-Arbeiten (dass "Dingsbums Nr.1" zum Theatertreffen eingeladen war, war wirklich lächerlich).

Zu Ihrer Frage, Nr.10 (sind Sie eigentlich der gleiche wie Nr.11 und grasen nach und nach alle kritischen Posts ab? naja, egal): das bürgerliche Stadttheater funktioniert traditionell so, dass die Zuschauer sich lediglich in dem bestätigen lassen, was sie eh schon wissen. Das gibt ein gutes Gefühl und belästigt einen nicht mit unbequemen Fragen. Dagegen steht ein politisches Theater, das aufrüttelt, verstört und zum Denken anregt, das es den Zuschauern nicht so leicht macht, sich einfach nur gut zu fühlen. Das Gorki funktioniert im Moment nach dem ersten Modell, und darin funktioniert es offensichtlich sehr gut: Man wird nicht mit komplizierten Wahrheiten belästigt, die eine eigene Positionierung erforderten, die Diskurse sind vorgekaut und fertig verdaut, man weiß schon vorher, welche Haltung man hat, dabei bleibt es dann auch. Man wird also in dem bestätigt, was man ohnehin schon wusste. Der Erkenntnisprozess wird umgangen. Das ist zutiefst anti-aufklärerisch und läuft damit dem erklärten Anspruch dieses Hauses zuwider (das vorgibt, dem zweiten Modell zu entsprechen, nämlich politisch relevantes Theater zu sein und Aufklärung zu betreiben - was es aber eben nicht tut!). Wir haben hier also nicht einfach ein erfolgreiches Unterhaltungs-Theater (dagegen, dass das Theater ankommt und unterhält, ist ja nichts zu sagen), sondern eine Mogelpackung! Es wundert mich, dass das keiner schreibt - es liegt so offensichtlich auf der Hand. Haben die Kritiker Angst, uncool oder politisch unkorrekt zu wirken?
Mr. Sloane, Berlin: Gegenschilderung
Zunächst einmal: Ich habe EINEN Kommentar geschrieben, und zwar den zehnten hier. Und zu Ihnen: Ich habe eine unmissverständliche Frage gestellt, aber immer noch keine Antwort erhalten.
Ich bin seit Spielzeitbeginn einige Male im Gorki gewesen. Fallen, Erotic Crisis, Kirschgarten und eben Sloane. Mich haben Erzählungen von Freunden quasi animiert und ich war teilweise begeistert. Nun gut, das muss wahrlich nicht jeder sein, ist ja Geschmackssache. Ob und wie das Theater seinem politischen Anspruch gerecht wird, müssen vielleicht auch andere beurteilen. (Für mich tut es das ziemlich). Aber ich habe nicht eine Sekunde gedacht oder das Gefühl bekommen, dass sich die Leute dort selber feiern. Im Gegenteil. Über Bekannte, die einige Schauspieler kennen konnte ich desöfteren in der Kantine oder draussen im Garten den Gesprächen lauschen und selber an denen teilhaben. Nichts aber auch nichts hatte da mit Selbstbeweihräucherung zu tun. Alle waren nett und herzlich und haben teilweise vollkommen offen und auch selbstkritisch und auch selbstironisch über die vorher gespielten Stücke und das Konzept dahinter gesprochen. Das widerspricht komplett ihrer Aussage. Um nur kurz auf Ihre Schilderungen einzugehen: Ich finde es schwierig, dem einzigen Theater Deutschlands, das offen dazu steht politisches Theater machen zu wollen und mit Verlaub das auch tut, die Relevanz abzusprechen.
Geben Sie doch konkrete Vorschläge statt die Ideen anderer bloss herabzustufen und die Menschen, denen das gefällt (weil sie es womöglich verstanden haben), als uncool oder ängstlich zu bezeichnen.
Sie machen es sich damit zu einfach.
Wieviele Stadtprojekte oder Performances oder Aktionen werden von zig Theatern initiiert, die auf "politisch relevante" Zustände abzielen, aber welches hat je den Innensenator auf den Plan gerufen plus diverse Großmedien?! (verweise hier auf die Aktion des Zentrums für politische Schönheit im Rahmen eines Gorki Festivals).
Mr. Sloane, Berlin: verquere Begründung
@ 13.: Ich kann Ihren Kommentar nachvollziehen, bis hin zu dem Punkt, an welchem Sie es ofenbar als eine Art Qualitätskriterium betrachten, dass der "Innensenator und die "Großmedien" auf den Plan gerufen wurden. Kann das denn sein? Eine Sehnsucht nach Beifall von der "falschen Seite"? Nee nee nee, also da war Schlingensief wirklich anders. Der hat nicht vornehmlich auf die Reaktion abgezielt, sondern ihm ging es allein um die Aktion selbst! Eine solch verquere Begründung für eine Kunstaktion ist für mich daher nicht akzeptabel.
Mr. Sloane, Berlin: Comeback der 70er?
Theater als Weckruf für Innenminister. Ich glaub die Siebziger brechen an.
Mr. Sloane, Berlin: Gorki-Plakativität
Sie haben meinen Punkt nicht verstanden und sehen deshalb auch nicht, dass ich Ihre "unmissverständliche Frage" längst beantwortet habe. Wer sich am Gorki feiert, sind ja nicht nur die Theatermacher, sondern auch das Publikum. Das Theater verkauft ein Gefühl, nämlich kritisch und subversiv zu sein, auf der richtigen Seite zu stehen, hip zu sein, und dieses Gefühl wird vom Publikum konsumiert. Natürlich ist das Gorki nicht "das einzige Theater, das offen dazu steht, politisches Theater machen zu wollen", wie Sie schreiben, da gibt es reihenweise andere (oder können Sie etwa ein Stadttheater nennen, dass nach eigenem Anspruch ausdrücklich KEIN politisches Theater machen will... wäre übrigens mal ein interessanter Standpunkt). Das Gorki formuliert diesen Anspruch aber derzeit sicher mit am plakativsten und ist mit dieser Strategie sogar so erfolgreich, dass Menschen wie Sie glauben, es wäre damit einzigartig. Die Beobachtung von Inszenierungen wie "Sloane" und die Art, wie das funktioniert und warum es das tut, lassen mich sehr daran zweifeln, dass es sich hier um mehr als um einen bloß äußerlich formulierten Anspruch handelt. Dass eine so mittelmäßige Inszenierung wie "Sloane" so enthusiastisch gefeiert wird, wäre an jedem anderen Ort der Republik zur Zeit nicht vorstellbar. Dieses Phänomen, dass in einem Theater, das sich politisch gibt, jede Kritikfähigkeit erlischt, versuche ich zu verstehen und einzuordnen. Leider ist nichts in Ihrem Kommentar dazu geeignet, dieser Beobachtung zu widersprechen, im Gegenteil.
Mr. Sloane, Berlin: in der Kantine lauschen
Zu 13: In der Gorki-Kantine Gesprächen lauschen... Alles klar.
Wir Zöpfe, Berlin: wieso die Absage?
Kein Wort zum Ausfall der Premiere "Wir Zöpfe" (sollte am Samstag stattfinden), auch nicht auf der sonst so aktiven facebook Seite des Gorki. Keine Erwähnung... Waren nicht alle Kritiker und Zuschauer vor Ort, als ihnen der Ausfall mitgeteilt worden war?

(offenbar wurden die akkreditierten Kritiker der Medien persönlich angeschrieben. Gründe über den angegebenen "Trauerfall" hinaus, wurden meines Wissens nicht genannt.
jnm)
Wir Zöpfe, Berlin: Text der Absage
Die Absage kam am Freitagnachmittag:

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich hoffe, diese Mail erreicht Sie noch rechtzeitig:

Aufgrund eines Trauerfalls wird die Premiere „Wir Zöpfe“ verschoben.

Das neue Premierendatum gebe ich Ihnen bekannt, sobald es feststeht.

PS: Es steht noch nichts fest.
Mr. Sloane, Berlin: neuer Premierentermin "Wir Zöpfe"
Gerade teilt das Gorki-Theater den neuen Premierentermin mit: Die Uraufführung findet am 4. Februar 2015 statt.
Mr. Sloane, Berlin: Premierentermin
Neuer Premierentermin: 4.2.15
Mr. Sloane, Berlin: nix auf Hompage + Facebook
Schön, dass die Presse immer rechtzeitig Bescheid bekam/bekommt. Auf der Homepage und dem schnellen facebook las uns liest man nichts.
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