Hamlet - Marco Štorman nutzt Shakespeare am Stadttheater Ingolstadt als pulsierende Assoziationsfläche
Bilder-Puzzle am Rande der Wahnwelt
von Christian Muggenthaler
Ingolstadt, 6. Dezember 2014. Zügig zeigt sich, wo die Reise hingeht in diesem "Hamlet": Hinein in ein dichtes Feld der Assoziationen, der Textcollage, der neu zusammengestellten Zusammenhänge und Sinnbezüge. An einer Art Regietisch, auf dem allerlei technisches Gerät versammelt ist, reißt Denise Matthey Wortfetzen aus Zeitungen und Zetteln und reiht sie neu aneinander. Eine Kamera überträgt die Ergebnisse ihres Tuns auf die groß dimensionierte Projektionsfläche im Bühnenzentrum, bis zuletzt, garniert mit einer ins Bild geschobenen Pistole, die den Abend prägende, zentrale Frage fett vor aller Augen stellt: Was können wir tun?
Was verdammt noch mal können wir tun angesichts all dessen, was wir medial aus aller Welt ins Bewusstsein gespült bekommen, all des Unrechts und der Grausamkeit? Wenn der Geist von Hamlets Vater spricht, wird das untermalt von Bildern aktueller Kriege, Krisen und Notlagen. Und so sitzt man denn da in Marco Štormans klug komponierter Inszenierung und hat das Grundproblem Hamlets gleich selbst am Hals: Wie bitte geht die korrekte Reaktion auf deutlich wahrgenommenes Unrecht, wenn man zugleich in sich eine lähmende Ohnmacht aufsteigen spürt? Hilft Gewalt? Hilft der schützende Kokon soliden Irrsinns? Weltflucht vielleicht?
Dialogisches Befragen
Štorman stellt diese Frage in den Mittelpunkt, nimmt den Text ausgiebig auseinander und setzt ihn rund um das Grundproblem neu zusammen. Gleich zu Beginn stellen sich Matthey als Horatio und Béla Milan Uhrlau als Hamlet die Frage nach dem Sein oder Nichtsein; sie sprechen den Text als Dialog und gewinnen ihm so in Rede und Gegenrede neue Dimensionen des Wägens und Sinnierens ab. Dass sie dabei daherkommen in der Anmutung von Ulrike Meinhof und Andreas Baader, baut zugleich schon die nächste Assoziationskette auf: Was bewirkt Wut?
Und so geht es eng anliegende eineinhalb Stunden immer an derlei Assoziationsketten entlang. Guerilla, Generationenkonflikt, Schuld, Rache: Das sind die Themen, die da mehr oder weniger offensichtlich durchdekliniert werden. Štorman verschwendet wenig Zeit damit, die – wohl als bekannt vorausgesetzte – Hamlet-Geschichte schlicht nachzuerzählen und lässt viele Szenen unter den Regietisch fallen. Er braucht sie nicht. Stattdessen geht er weit unter die Oberfläche des Textes mitten hinein in dessen Untiefen und zieht daraus existenzielle Fragen und ans Absurde grenzende Bilder heraus: Polonius in der Uniform britischer Grenadiere, eine Europafahne schwenkend. Laertes im Bobbycar. Hamlet als durchgeknallter Prinzenbub' mit der Knarre in der Unterhose.
Konzentrierte Figurenzeichnung
Klaffende Unsicherheit. Paare, die sich aneinanderklammern. Klein sind sie alle vor der stark auf Fluchtpunkt gearbeiteten Schachtel-Riesenbühne, gebaut von Frauke Löffel. In der Mitte ein Rechteck voll Erde, zugleich Grab des Vaters und Graben zwischen den Spielebenen. Groß und größer wird darin aber Uhrlau in der Titelrolle: umwerfend, wie er den Wahn seiner Figur wachsen lässt und ihn zugleich fortwährend ins Komische herunterbricht, wie er vorderhand glimmt und hintenrum grinst. Genau darin besteht in dieser Inszenierung die Stärke der Figur: in ihrer ironischen Haltung. Denn das ist immerhin eine.
Dass dieser Abend trotz seiner kaleidoskopartig angelegten Anrichteweise nie den Blick aufs Wesentliche verliert, liegt an der konzentrierten Figurenzeichnung und Schauspielerführung. Ein gut funktionierendes Räderwerk. Dazu gehören auch die Kostüme von Sara Schwartz, die keinerlei historischen Zeithorizont, sondern allein die Typenschilderung bedienen. Ingrid Connonier als Gertrud etwa kommt daher in einem Kleid, wie es in seiner Unmöglichkeit eigentlich nur von Queen Mum getragen werden darf: eine Majestätsuniform, die zugleich von innerer Leere zeugt. Matthias Zajgier wiederum ist als Claudius im Frack ein aseptischer Snob.
Radikale Lösung
Denise Matthey, Enrico Spohn und Thomas Schrimm spielen als Horatio und Güldenstern, Laertes und Rosenkranz und Polonius und Osrik souverän ihre Doppelrollen. Mira Fajfers Darstellung der Ophelia verzichtet auf alles romantische Gehabe; sie wird zur mädchenhaft-selbstbewussten, solidarischen Freundin Hamlets. Es geht insgesamt an dem Abend eher wenig emotional zu. Ophelias Selbstmord, all die wild bewegten Morde am Stückschluss, all das kommt in Ingolstadt nicht vor, weil es bei aller Darlegung der zugrundeliegenden Probleme auf deren radikale Lösung gar nicht mehr ankommt. Denn besagte Darlegung ist ohnehin radikal genug.
Hamlet
von William Shakespeare
Deutsch von Frank Günther, Fassung Marco Štorman
Regie: Marco Štorman, Bühne: Frauke Löffel, Kostüme: Sara Schwartz, Musik: Thomas Seher, Video: Stephan Komitsch.
Mit: Béla Milan Uhrlau, Ingrid Cannonier, Matthias Zajgier, Mira Fajfer, Denise Matthey, Enrico Spohn, Thomas Schrimm.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater.ingolstadt.de
Štorman konzentriere sich in seiner "Hamlet"-Inszenierung auf "diese eine zentrale (wenn auch nicht ganz neue) These: Alles Private ist politisch. Um diesen Kern komponiert er seine Inszenierung, streicht beherzt, bewertet neu, fügt anders zusammen", schreibt Anja Witzke im Donaukurier (8.12.2014). "Keine Frage: Štormans Interpretation hat etwas. Sie ist klug, radikal, dabei eingängig, lässt sich rasch erzählen und leicht aus der Gegenwart verstehen." Sie besteche "durch Klarheit, Opulenz, Präzision und ja, auch Komik. Und vor allem – hervorragende Schauspieler." Allen voran Béla Milan Uhrlau, der "Hamlet in seiner Unreife und Verletztheit" mit "Klarheit und Zartheit" hinrotze. "Ein kühner Zugriff auf den Stoff. Dass dieser für manch einen zu kurz gegriffen schien, lässt die Reaktion des Publikums vermuten."
Štorman liebe es, "sein Publikum durch Verwirrspiel herauszufordern", schreibt Friedrich Kraft in der Neuburger Rundschau (8.12.2014). Die Dubletten in der Besetzung etwa erschwerten "das Verständnis der Handlung. Etwas arrogant und reichlich kopfig erscheint dieses grundsätzlich legitime Konzept der Zumutung." Kraft entdeckt in der Aufführung zudem aufdringlich Assoziierendes und reichlich Kurioses, am Ende gebe Štorman aber auch einen "Fingerzeig auf seinen Zugang zum Stoff: Widerstand durch spielerische Provokation." Auch wenn das alles "hoch professionell gemacht" und gute Schauspielerleistungen einschließe, gehe doch "die sprachliche Qualität, die Poesie des Originals" verlustig. "Was da auf der Bühne kühl seziert wird, vermag kaum emotional zu berühren oder gedanklich nachzuwirken."
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