Wenn dein Karma ins Bodenlose fällt

von Matthias Weigel

Berlin, 29. Januar 2015. Ich kann mich noch sehr gut an meine Schulzeit erinnern. Für das Abitur hatte ich nur zwei Minuten Zeit. Die in die Oberschicht Hineingeborenen durften dreimal so lange für den kleinen Intelligenztest überlegen und konnten mit ihren guten Noten ihr Studienfach später frei wählen. Meine Note 3 langte gerade mal für Event-Management und Chemie – und ich musste nebenher noch arbeiten, um das Studium zu finanzieren. So sah mein Einstieg in das "Spiel des Lebens" aus, im Mai 2014 in Berlin.

Unterprivilegiert, aber ehrgeizig

Was nach platter Übersetzung von Bildungs- und Sozialdebatten ins Theater klingen mag, ist tatsächlich eine perfekte Verschiebung, die die Gruppe Prinzip Gonzo für ihr "Spiel des Lebens" als Produktion des Ballhaus Ost in den Rathenau-Hallen in Berlin-Oberschöneweide gefunden hat: Nur weil ich zufällig am Eingang die Karte mit den unprivilegiertesten Spiel-Voraussetzungen gezogen habe, werde ich bestimmte Stationen nicht kennenlernen können? Wird mir ein Teil des Spieles verschlossen bleiben? Ich werde hier nicht mit dem Zeigefinger über vermeintliche Unterschichten-Probleme aufgeklärt. Vielmehr starte mit einer gehörigen Portion Frust und Ehrgeiz in das Spiel: Jetzt erst recht.

spiel des lebens gonzo2 560 olaf selchow xFit fürs Leben im Chefsessel: Ein Dreier-Abiturient geht seinen Weg © Olaf Selchow

Nicht selten mangelt es interaktiven Formaten an einer Dramaturgie, einem Ziel; es geht dann mehr um die Atmosphäre, den Ort. Beim "Spiel des Lebens" möchte man am liebsten alles gleichzeitig machen: Erst Geld verdienen, gleich das Startkapital im Strand-Cocktail-Urlaub verprassen oder mit einer Hochzeit Karma-Punkte verdienen? Als Ehepaar wäre auch der Strandurlaub günstiger. Aber dann reicht das Kapital nicht mehr für die Studiengebühr, und man müsste noch einen Billig-Lohn-Job einschieben...

Dass das Gewusel in der aufwändigen, zweistöckigen Spielhalle mit zentraler Festbühne so einen Sog entwickeln kann, liegt auch an dem stabilen technischen Rückgrat: Die Spielleiter scannen mit ihren Smartphones die QR-Codes der Mitspieler und buchen mal eben Geld ab, verbessern den Gesundheitswert oder ziehen Karmapunkte ab. Ein großer Flatscreen zeigt die Highscores in Echtzeit.

Underdog siegt bei der Bürgermeisterwahl

Mein Leben entwickelt sich als Aufstiegsgeschichte des Underdog: Bei den Bürgermeisterwahlen vertrete ich das Wahlprogramm "5% Geldabzug bei der (wohlhabenden) Hälfte aller Mitspieler" und werde glatt gewählt. Mein Amtszimmer ist nur für mich reserviert, im schweren Ledersessel bekomme ich von meiner Sekretärin einen Cognac gereicht. Und was ist die erste Amtshandlung eines richtigen Bürgermeisters? Klar, am Glücksrad – äh, Beschäftigungsrad drehen. Ergebnis: Allen Mitspielern werden 3% Punkte abgezogen – und mir zugebucht. Darauf brauche ich erstmal eine Zigarre.

Als ich später wieder hinaus trete, sind nicht nur meine Karma- und Gesundheitswerte ins Bodenlose gefallen, sondern eine große Projektion auf der Bühne tut meine Skrupellosigkeit kund. Etwas mulmig will ich mich ins sandige Urlaubsparadies retten, aber nicht ohne noch schnell zu heiraten (der Sparfuchs kommt durch, warum sonst Heiraten?). Verschiedene Nebenstränge halten mich immer wieder auf, und vor dem Standesamtszimmer ist schließlich – eine lange Schlange.

spiel des lebens gonzo1 560 olaf selchow xDem Glücklichen (und Zahlungskräftigen) winkt das Urlaubsparadies © Olaf Selchow

Diverse Verhaltensweisen und Identitäten auszuprobieren, ohne dass es außerhalb des Spielraumes Konsequenzen nach sich zieht: das ist es, was uns an Spielen reizt. Die Installationen der dänischen Gruppe SIGNA beispielsweise (etwa Club Inferno in Berlin) basieren meist auf einer schauspielerischen Behauptung – die Spielleiter erfinden Biographien bis ins Kleinste, die Zuschauer müssen sich selbst als Figur erfinden, um in Interaktion zu treten. Ein Maximum an Handlungsfreiheit. Aber wenn alles möglich ist, passiert oft genug – wenig.

Und der Gong des Lebensendes tönt

Beim "Spiel des Lebens" hingegen können vorbereitete Handlungsketten beschritten werden, jede Entscheidung zieht Folgen nach sich. Lehrer, Standesbeamten, Bankangestellte und Psychotherapeuten sprechen zwar auch als Figuren zu uns, aber Immersion – das völlige Eintauchen – ist nicht das Ziel. Über die im Flug vergehenden vier Stunden hat vielmehr jeder Spieler einen eigenen stark verästelten Entscheidungsweg beschritten. Dann kommt der Gong des Lebensendes.

Der Moment der Abrechnung ist gekommen. Erst jetzt nehme ich mir Zeit, durchzuatmen. Ich stehe immer noch in der Schlange vor dem Standesamt, habe trotz (oder wegen) des Vermögens keinen Urlaub gemacht. Dabei hätte ich so gerne einmal noch den Strand gesehen. Wenigstens ein Bier an der Bar hätte ich mir vom Ersparten holen können. Mit dem angehäuften Geld kann ich ja sowieso nichts mehr anfangen, jetzt, wo das Spiel des Lebens vorbei ist.


Spiel des Lebens
ein Projekt von Prinzip Gonzo, Thea Hoffmann-Axthelm und Markus Schubert
Idee, Konzept und Realisation: Prinzip Gonzo (Alida Breitag, David Czesienski, Robert Hartmann, Holle Münster, Tim Tonndorf), Thea Hoffmann-Axthelm und Markus Schubert, Ausstattung: Thea Hoffmann-Axthelm, Software: Markus Schubert, Assistenz: Barbara Juch, Nele Liekenbrock, Hospitanz: Desireé Luttermann.
Mit: Elmira Bahrami, Roland Bonjour, Josephine Fabian, Maximilian Held, Theresa Henning, Jan Jaroszek, Toni Jessen, Recardo Koppe, Laura Mitzkus, Claudio Rimmele, Tina Rottensteiner, Katharina Schenk, Robert Speidel, Hannah von Peinen, Olga Wäscher.
Dauer: 4 Stunden, keine Pause

www.prinzip-gonzo.de
www.ballhausost.de


Mehr über Games und Theater: Playing Democracy: Ein Vortrag über das neue Game-Theater und seine politische Relevanz von Christian Rakow (11/2013), Theater in Games – Wie Computerspiele die alte Bühnenkunst neu inszenieren von Jan Fischer (12/2013).


Trailer von "Spiel des Leben", Premiere am 16. Mai 2014 in Berlin-Oberschöneweide


{youtube}v=vVHg8R-8YMs{/youtube}