nachtkritik-Theatertreffen 2015: Das Ergebnis

29. Januar 2015. Sie haben gewählt! Aus 45 Inszenierungen des letzten Jahres, die von den nachtkritik-AutorInnen nominiert wurden. Eine Woche lang waren die Wahlurnen geöffnet. Bis zu zehn Stimmen konnte jeder Wähler abgegeben. Für die zehn wichtigsten Inszenierungen des vergangenen Jahres. Nun sind die Stimmen gezählt.

– 4768 Wähler gaben insgesamt

– 9338 Stimmen ab, also jeder Wähler durchschnittlich

– 1,96 Stimmen

Zum virtuellen nachtkritik-Theatertreffen 2015 sind eingeladen (in der Reihenfolge der Stimmenanzahl):

 

{slider=1. Spiel des Lebens von Prinzip Gonzo (558 Stimmen)
Konzept und Regie: Prinzip Gonzo (Alida Breitag, David Czesienski, Robert Hartmann, Holle Münster, Tim Tonndorf mit Thea Hoffmann-Axthelm und Markus Schubert)
Ballhaus Ost, Premiere am 16. Mai 2014, Ein Porträt der Produktion vom 29. Januar 2015|closed}Die Theater-Game-Umsetzung des bekannten Brettspiels war einer der seltenen Glücksfälle, bei denen die Interaktionen echte Konsequenzen hatten. Angefangen bei IQ-Tests zur "Einschulung" bis hin zur Wahl korrupter Bürgermeister entwickelte das aufwändige Game unglaublichen Sog, der die Zeit völlig vergessen ließ – bis man am Ende staunend auf sein Leben zurückblickte.

{slider=2. Faust von Johann Wolfgang von Goethe (457 Stimmen)
Regie: Martin Kušej
Residenztheater München, Nachtkritik vom 5. Juni 2015|closed}Martin Kušej inszeniert "Faust" als Albtraum unserer Tage. Da wird ein kleiner Junge als Selbstmordattentäter losgeschickt, man vergnügt sich mit osteuropäischen Prostituierten auf Crystal Meth und das Blut fließt wie in einem Splatter-Film. Aleksandar Denić hat auf der Drehbühne einen beeindruckend düsteren Stahlbau errichtet, der mal als Fightclub, mal als Disko, mal als Garage dient.

{slider=3. Dantons Tod von Georg Büchner (411 Stimmen)
Regie: Mario Portmann
Theater Erlangen, Nachtkritik vom 16. Mai 2014|closed}Hedonisten-Disco als blubberndes Entmüdungsbecken der gescheiterten Revoluzzer, mit Poet Büchner diesmal höchstpersönlich am Beckenrand als Werktreue-Wachmann in der Ratlosigkeit der Besserwisser. "Hm!", sagt er schließlich zusammenfassend zur Anarchie-Fehlzündung, während Danton im Salon die dort als Partyschlager so geliebte Marseillaise vor seinem Tod schnell noch in "O Tannenbaum" umgewidmet hat.

{slider=4. Antigone von Sophokles (388 Stimmen)
Regie: Wojtek Klemm
Theater Luzern, Nachtkritik vom 13. Dezember 2014|closed}Eine "Antigone" im Schweizer Flüchlingsbunker als Stück über eine Gesellschaft, die komplizierte Fragen der Moral an das Theater und an den hohen Ton seiner Klassiker delegiert hat; nur, um sich noch eine Weile länger einreden zu können, auf freier Bühne zu leben und nicht etwa in jener Festung, in die sich Europa zurückzieht.

{slider=5. Peer Gynt von Henrik Ibsen (364 Stimmen)
Regie: David Bösch
Residenztheater München, Nachtkritik vom 14. November 2014|closed}Ein souverän zwischen Innen und Außen, zwischen Mensch und Welt und zwischen Meditation und Krach ausbalancierte, größenwahnsinnige Geschichte vom Größenwahn.

{slider=6. Welt-Klimakonferenz von Rimini Protokoll (361 Stimmen)
Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel
Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Nachtkritik vom 21. November 2014|closed}Mitmachtheater funktioniert doch! Vorträge, Debatten, Workshops, Science Slams, persönliche Hintergrundplauderei – alles en miniature in rasanten Szenenwechseln von einem Kompetenzteam mit viel Wissen und Wissensvermittlungsgeschick performt: Durch teilnehmende Beobachtung wird so die Infotainment-Show zum Rollenspielerlebnis. Rimini Protokoll nutzen Säle, Bühnen, Nischen, Wandelgänge des Schauspielhauses in Hamburg zur Welt-Klimakonferenz-Simulation, das Publikum spielt die Unterhändler der UN-Mitgliedsstaaten, ist somit unmittelbar eingebunden in die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Standpunkten und erlebt, warum Klimaverhandlungen so schwierig sind – obwohl alle Länder das gleiche Ziel haben. Extrem anregend.

{slider=7. Common Ground von Yael Ronen und Ensemble (322 Stimmen)
Regie: Yael Ronen
Maxim Gorki Theater Berlin, Nachtkritik vom 14. März 2014|closed}Ein Theater, das dokumentieren und erzählen kann, beides gleichzeitig, mit Humor, sogar mit sehr viel Humor, aber ohne billige Scherze. Ein Theater, das ein Stück neuerer Geschichte diskursiv und ohnmächtig, zuneigungsvoll und unversöhnt veranschaulicht und verlebendigt, mit Schauspielern, die von sich selbst erzählen, ohne Eitelkeit, ohne Betroffenheitskitsch, wild und warm und klug.

{slider=8. Evakuieren. Erster Flucht- und Rettungsplan für die Rhein-Main-Region von Akira Takayama (313 Stimmen)
Regie: Akira Takayama
Koproduktion von Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt, Staatstheater Mainz und Staatstheater Darmstadt, Nachtkritik vom 13. September 2014|closed}Drei Wochen lang konnten bei "Evakuieren. Erster Flucht- und Rettungsplan für die Rhein-Main-Region" Zuschauerinnen und Zuschauer, oder besser: Evakuierungsinteressierte, mit dem öffentlichen Nahverkehr 40 Evakuierungsstationen im Rhein-Main-Gebiet ansteuern. Eine großangelegte Schnitzeljagd für Alltagsmüde und Eskapisten – und eines der umfangreichsten und am sorgfältigsten ausgetüfelten Stadtraumprojekte überhaupt. Mit ungeheurer Detailgenauigkeit und großer Auseinandersetzungslust mit anderen Künstlern wie mit der Region gelingt es Akira Takayama, die Besucher*innen aus ihrem Alltag in andere Welten zu führen, Entortung erlebbar zu machen und Konnexionen zu Flucht- und Notsituationen weltweit herzustellen.

{slider=9. Schulden. Die ersten 5000 Jahre nach David Graeber (274 Stimmen)
Regie: Andreas Liebmann
Schauspiel Stuttgart, Premiere am 7. Februar 2014|closed}Was Andreas Liebmann am Schauspiel Stuttgart als Koproduktion mit dem Theater Freiburg und mit Schauspielschülern der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart erarbeitet hat, eine szenische Umsetzung der Überlegungen des Occupy-Aktivisten David Graeber, ließe sich in die modische Strömung der "Stückentwicklung" einordnen oder auch als spätes Exemplar des Agitprop. Die Realisierung freilich beweist, dass es in dem Genre große Unterschiede gibt. Keine Nabelschau, kein Exhibitionismus der Gefühle, sondern eine thematisch wie formal überzeugende Inszenierung, die intellektuelle Durchdringung und sinnliche Darbietung zu einer Einheit verschmilzt und das Publikum einbezieht, ohne es zu drangsalieren – auf dem Nebenspielplatz eher beiläufig angeboten und unter Gebühr gewürdigt.

{slider=10. Spur der Steine nach Erik Neutsch (269 Stimmen)
Regie: Cornelia Crombholz
Theater Magdeburg, Nachtkritik vom 26. September 2014|closed}Wer Kampf und Krampf der alten DDR nachspüren will, im Theater und überhaupt, kommt an diesem starken Stoff nicht vorbei – am Roman "Spur der Steine" von Erik Neutsch, legendär verfilmt mit Manfred Krug, Jutta Hoffmann und Eberhard Esche, jetzt dramatisiert von Dagmar Borrmann fürs Schauspiel in Magdeburg. Und ohne jede Ostalgie entfesselt die Inszenierung von Schauspiel-Direktorin Cornelia Crombholz am Beginn der eigenen Dienstzeit den furiosen Baustellen-Charme des Materials. Eine Welt wird hier erschaffen, und dafür muss geschuftet werden, bis zum Überdruss und gegen alle Bürokratie, alle ideologische Verirrung. Viele bleiben auf der Strecke, aber schlussendlich siegt der menschliche Impuls: sich durchsetzen zu wollen, heute hier wie damals dort; auf ein Werk zurückschauen zu wollen, auf eine "Spur der Steine", die jeder und jede für sich durchs Land wie durchs Leben gelegt hat. Großes Stück, prima Bearbeitung, bärenstarke Ensemble-Arbeit – in Magdeburg!

 

Wir gratulieren den Gewinnern und bedanken uns bei allen, die mitgemacht haben! Mit den Erstplatzierten vom Prinzip Gonzo werden wir nun in Kontakt treten, um das nachtkritik-Theatertreffen-Kritikergespräch 2015 zu planen, in dem Theatermacher und Nachtkritiker gemeinsam mit dem Publikum über die Arbeit diskutieren werden.

 

Und was besagt das Ergebnis?

Jedes Jahr aufs Neue fragen wir an dieser Stelle: Was wurde hier eigentlich gewählt? Die zehn besten Inszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen? Die naheliegenden Einwände dagegen sind in den vergangenen Jahren schon vielfach vorgebracht worden: Nicht alle Aufführungen standen zur Wahl, und selbst die Nachtkritiker*innen, die für die Vorauswahl verantwortlich sind, werden in der Summe nicht alles, was vielleicht nominierungswürdig gewesen wäre, gesehen haben. Und ohnehin hat wohl kein*e einzige*r der Wähler*innen die Möglichkeit gehabt, die nominierten Aufführungen tatsächlich untereinander zu vergleichen – wonach sollen die Wähler*innen also die Qualität der Produktionen bemessen? Ein weiterer Einwand gilt der Repräsentativität: Für wen stehen die 4.768 Wähler*innen, welche Gruppe bilden sie ab?

Solche Nachfragen sind im Grunde bei allen Wahlen angebracht. Selbst eine Bundestagswahl kann nicht beanspruchen, den Willen der Bevölkerung repräsentativ abzubilden, denn die Gruppe der Nichtwähler*innen, deren Eigenschaften von der Gruppe der Wähler*innen ganz verschieden sein können, wird prinzipiell nicht repräsentiert. Und wer hat schon wirklich die Wahlprogramme aller Parteien genau studiert, um begründet seine Stimme abgeben zu können?

Es ist also bei der Wahl zum virtuellen nachtkritik-Theatertreffen wie bei allen Wahlen: Es geht um Mobilisierung, und es geht um einen gewissen Identifikationsgrad (z.B. mit Inhalten, Arbeitsweisen und Stilen), der dazu motiviert, das Kreuz an einer bestimmten Stelle zu machen. Wie diese Identifikation zustande kommt, das kann verschiedenste Ursachen haben: Neugier auf eine prominente Produktion, von der man Gutes gehört hat, kann eine Rolle spielen – man kann mutmaßen, dass etwa "Faust" und "Peer Gynt" vom Residenztheater München und "Common Ground" vom Gorki Theater in Berlin ihre Präsenz in der Endauswahl solchen Faktoren zu danken haben. Aber auch die Überzeugung, eine ästhetisch interessante oder eine für eine Region relevante Arbeit zu unterstützen, wird die Wahlentscheidungen beeinflusst haben.

Nicht zuletzt ist bei einer Wahl im Netz die Vertrautheit eines Theaters oder Produktionsteams mit dem Medium Internet als solchen und mit den sozialen Medien von großer Bedeutung. Der Sieg von Prinzip Gonzo, der sich schon früh abzeichnete, kommt so nicht von ungefähr: Eine Produktion, die sich auf der Schnittstelle von Theater und Games bewegt, ist der spielerischen Herausforderung, die eine solche Wahl im Netz auch darstellt, auf besondere Weise gewachsen – über die sozialen Netzwerke wird offenbar eine ganze Szene aktiviert. Was aber nicht heißt, dass eine solche Netzgemeinde jedesmal beliebig verfügbar wäre – es gibt Fälle (wie z.B. das Theater Dortmund), bei denen diesmal die Mobilisierung bei weitem nicht in dem Maße gelang wie in vergangenen Jahren. Das Identifikationspotential scheint eben nicht bei jeder Produktion gleich zu sein.

Wie auch immer: Die Auswahl, wie sie sich letztendlich darstellt, überrascht (zumindest uns) durch ihre erstaunliche Breite. Die Big Player sind ebenso vertreten wie die Provinz, die Freie Szene ist dabei, auch und gerade durch Koproduktionen mit den großen Häusern, es gibt Projekthaftes, Performatives, Stückentwicklungen, Inszenierungen klassischer Texte und eine Romanbearbeitung. Man möchte fast sagen: Irgendwie ist diese Auswahl für das derzeitige deutschsprachige Theater dann doch – repräsentativ.

(wb)

 

Hier geht es zu einer Würdigung des Siegers Spiel des Lebens von Prinzip Gonzo in einem Blogbeitrag von Matthias Weigel.

Zu den Gewinnern der letzten Jahre: Ergebnis 2014, Ergebnis 2013, Ergebnis 2012, Ergebnis 2011, Ergebnis 2010 und Ergebnis 2009. Und hier die Nominierungen, aus denen in diesem Jahr gewählt werden konnte.