Missverständnis Liebe

von Esther Slevogt

24. Februar 2015. Ins Theater gehen, das war ja mal was. Ich denke nur daran, wie mein eigener erster Theaterbesuch zelebriert worden ist: Das pubertierende Kind in eine Samtbluse der Mutter gesteckt und mit dem Schauspielführer in der Hand vor der heimischen Bücherwand fotografiert. (Man traut sich kaum noch, das so aufzuschreiben). "Minna von Barnhelm" stand bevor, und ihre Zofe Franziska wurde von Ilse Ritter gespielt, in den 1970er Jahren am Düsseldorfer Schauspielhaus. An die Inszenierung kann ich mich kaum erinnern. Nur das Tellheims Diener Just dauernd die Treppe herunterfiel und dies mit der bewunderungswürdigen Präzision eines Stuntmans absolvierte. Die Stimmung im Theater war festlich, der Piccolo in der Pause Teil des Theaterrituals. Betreutes Trinken unter mütterlicher Aufsicht.

Im Stein

Mittelpunkt des Treibens im Foyer – und von meiner Mutter und den anderen Abonnenten mit respektvollem Kopfnicken bedacht – war eine wuchtig wirkende Dame mit Miss-Marple-Appeal: Frau Fink, die Vorsitzende der Theatergemeinde. Sie war schon allein deshalb eine sagenumwobene Figur, weil sie Schauspieler persönlich kannte. Das Theater verströmte Sätze, die sich über jene Jahre wie schützende Schirme spannten. "Haben Sie auch Ahnungen zuweilen?" stand beispielsweise groß auf das Programmheft von "Leonce und Lena" gedruckt, das in Düsseldorf damals ein junger Regisseur inszenierte, der Luc Bondy hieß. Ein Abend, der von rätselhaft versponnenen Gestalten bevölkert war. Ja, Ahnungen! Exakt so stand man doch dem Leben gegenüber. Das Theater schien wie der Hort eines anderen Wissens, mit dem es wie eine mythische und erhobene Macht in mein Schülerleben strahlte.

kolumne estherDann zwei, drei Jahre später der Schock, der zunächst noch wie das Glück ausgesehen hatte: weil ich in die Statisterie des Schauspielhauses aufgenommen worden war. In einem Bühnenbild von Erich Wonder sollte ich einen Stein darstellen, jawohl, einen Stein. Kaum hatte ich zur ersten Probe die Stätte meiner Sehnsucht erreicht, musste ich unter eine Decke kriechen und dort gefühlte Ewigkeiten zusammengerollt verharren. Unter dieser Decke aber wurde vielleicht die Kritikerin geboren.

Denn ich sah zwar nichts, hörte aber die Theaterleute sprechen. Und zwar nicht nur die Texte von Kleist, dessen "Käthchen von Heilbronn" hier inszeniert wurde, sondern immer wieder auch Reden der Theaterleute über die Zuschauer. Insbesondere die Abonnenten schienen als besonders lächerliche Gestalten zu gelten. Als Leute, die vom Theater am allerwenigsten verstanden. Dabei verehrten sie das Theater doch so. Lag hier ein Missverständnis vor? Und wusste die arme Frau Fink davon? Frau Fink, die manchmal Begegnungen mit Schauspielern und Mitgliedern der Theatergemeinde im Theaterrestaurant ermöglichte, die einmal sogar Ilse Ritter dazu bewog, mir nach einer Krankheit zum Geburtstag einen Brief zu schreiben? War das alles auch nur Theater?

Etwas war faul an diesem System

Als ich schließlich am Premierenabend auf dem Bildschirm am Inspizientenpult die ersten Zuschauer ins Theater strömen sah und durch den Lautsprecher ihr geschäftiges Gemurmel auf die Hinterbühne übertragen wurde, taten sie mir leid. Nicht nur, weil sie so verachtet waren. Auch weil mir ihre Theaterliebe plötzlich schal erschien. Doch taten mir auch die Schauspieler leid. Wofür hatten sie wochenlang gearbeitet und probiert, wenn sie die Zuschauer nun als ignorante Eindringlinge empfanden? Und mich beschlich die Ahnung: Etwas war faul an diesem System. Die Beziehung von Theater und Publikum schien nachhaltig zerrüttet, auch wenn sich das Ende dieser Lovestory auf beiden Seiten noch einige Jahre erfolgreich verdrängen ließ.

Heute habe ich manchmal das Gefühl, das Verhältnis hat sich ins Gegenteil verkehrt: Das Publikum, das dumme, hat sich entwickelt und vom Theater emanzipiert. Das Theater jedoch hat sich nicht mitentwickelt. Vielleicht sollte sich Frau Fink langsam damit beschäftigen, Theaterleuten Begegnungen mit ihren Zuschauern zu ermöglichen. Aber Frau Fink ist ja schon lange tot.

 

esther slevogtEsther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben will sie eine Art Archäologie der Stadttheaterkrise von unten versuchen: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

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