Ohne Krieg kein Gegner

von Reinhard Kriechbaum

St. Pölten, am 14. März 2015. Eines frühen Nachmittags steht Nikolaj, lange Zeitsoldat im Kaukasus, plötzlich vor der Wohnungstüre seines Heims. Seine Frau Irina ist gerade auf dem Sofa mit dem Nachbarn beschäftigt. Trotzdem wirft sie sich dem Ehemann an die Brust, und Sergej, Freund und Seelentröster in den vergangenen fünf Jahren, schaut ziemlich blöd drein. Nikolaj schaut auch drein: Kaum ein Wort bringt er heraus, und mit körperlicher Nähe zur Ehefrau spielt sich schon gar nichts ab. Ein Kriegs-Traumatisierter, dem das, was für ihn die letzten Jahre hindurch Ordnung war, jäh abhanden gekommen ist: "Wenn du treffsicher bist und kein Krieg ist, das ist so richtig Scheiße."

Warum Nikolaj überhaupt in den Krieg gezogen ist, wird er dem greisen Nachbarn und Kriegsveteranen Andrej später so erklären: "Weil ich im Krieg weiß, wo der Gegner ist." Wo aber ist der Gegner im Mietshaus, in der Post-Sowjetunion, in der vagen neuen Wert- und Geldordnung? Solche rätselhaften Nicht-Gegner hat Anna Jablonskaja durch ihre fast zwanzig Theaterstücke taumeln lassen.

Nur wenig Zeit für Ruhm war ihr, der in russischer Sprache schreibenden Ukrainerin, damit beschieden: 29 Jahre war sie erst alt, und im Westen begann sich ihre Originalität gerade prominent herumzusprechen, als sie 2011 bei dem Anschlag eines Selbstmordattentäters auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo ums Leben kam. Verloren hat das Theater damals eine geradezu beängstigend präzise Menschenbeobachterin. Anna Jablonskaja hat es verstanden, den Aberwitz eines ausgeklinkten Gesellschafts- und Wertesystems mit unprätentiöser Hinterlist zu schildern. Mit hinterfotzigem Humor, aber eingestreuter philanthropischer Empathie.

Drehbühne mit leicht überdrehten Requisiten

Was ist schon auffällig an all den Verhaltensauffälligen in diesen "Familienszenen"? Die Mutter ist notgeil, so wie der Nachbar. Der Halbwüchsige ist pubertär verstockt. Die alte Witwe, die ein paar Stockwerke höher wohnt, ist ein wenig dement, und Opa Andrej, der neben sich auf dem Sofa ein Stalin-Porträt stehen hat, spricht gerne dem Wodka zu und gibt sich im übrigen abgeklärt-spöttisch und lebensweise.

familienszenen2 560 alexi pelekanos uMit kleinem Drall ins Durchgedrehte: Simon Zagermann, Tobias Voigt, Marion Reiser, Helmut Wiesinger spielen "Familienszenen"
© Alexi Pelekanos

Regisseur Sarantos Zervoulakos setzt im Niederösterreichischen Landestheater in St. Pölten die Drehbühne in Bewegung. Alles wie genommen aus ukrainischen Privatwohnungen, was da an Sofas, Stehleuchten und anderen Dingen vorbei fährt (Ausstattung: Raimund Orfeo Voigt). Alles nur ein ganz klein wenig überdreht, so wie die Autorin der "Familienszenen" ihren Figuren eben auch nur einen kleinen Drall ins Durchgeknallte gibt. Ein Panoptikum, das jäh zum Pandämonium wird und sich zuletzt doch ganz spielerisch auflöst, ohne Mord und Totschuss. Ein Schießgerät ist immer bei der Hand, denn "es schläft sich besser mit einer MP", sagt Nikolaj, scharf wie eine lebende Zeitbombe.

Zellkern der Hilflosigkeit

So grotesk diese "Familienszenen" daherkommen: Immer wieder finden die Figuren kurz zu sich und zum anderen. Berührend, wenn der Veteran und Nikolaj sich über ihre Soldatenvergangenheit austauschen. Zu seinem Sohn findet Nikolaj erst einen Draht, wenn er ihn ins Boxen einführt – und doch endet gerade diese Episode beinahe im Fiasko eskalierender Gewalt. Tragikomisch, wie der verstockte Junge auf ein Metallrohr eindrischt und Sergej – Nachbar, Liebhaber der Mutter und des vermeintlich bösen Buben Biologielehrer – hilflos über die Zellkerne von Zwiebelhäuten referiert.

Das Zurücknehmen der Emotionen, die jähe Aufrichtigkeit hat der Regisseur und haben seine Schauspieler gut im Griff: Simon Zagermann ist Nikolaj, vor dem man sich nicht (oder gerade?) fürchten muss, weil er den Rohling nur aus Verunsicherung spielt. Marion Reiser (Irina) muss ihr Unglück vielleicht ein wenig lautstark und andauernd beheulen. Christine Jirku und Helmut Wiesinger sind die beiden Alten: ur-sympathische Fossilien einer vergangenen Gesellschaftsordnung, die sie nicht gebrochen, sondern gestählt hat. Das lässt sie mit einer gewissen spöttischen Distanz  aufs Heute und seine Tragödien blicken.

"Hattest du wen ihm Krieg?", fragt Irina ihren Mann, nachdem er sie zum wiederholten Male von sich gestoßen hat. "Ja", sagt er, "da hatte ich mich." Selbstverloren taumeln sie dahin, die Protagonisten der Anna Jablonskaja. Man hält ihnen die Daumen, dass sie irgendwie wieder in sich hinein finden.

Familienszenen
von Anna Jablonskaja
deutsch von Olaf Kühl
Regie: Sarantos Zervoulakos, Ausstattung: Raimund Orfeo Voigt, Dramaturgie: Julia Engelmayer.
Mit: Simon Zagermann, Marion Reiser, Wojo van Brouer, Tobias Voigt, Christine Jirku, Helmut Wiesinger.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.landestheater.net

 

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