Iphigenie auf Cannabis

von Christoph Fellmann

Zürich, 26. März 2015. Thoas ist der König auf Tauris – aber regieren auf der Insel, die wir heute als die Krim kennen, tut der Schauder. Der Iphigenie ist er, wie sie schon in der vierten Zeile ihres eröffnenden Monologs berichtet, ein ständiger Begleiter in ihrem unfreiwilligen Exil. Und der Schauder zwingt ihr einen Blick auf, der wiederum die Einheimischen schaudern lässt. Zunächst Arkas, den Vertrauten des Königs, und bald auch diesen selbst. Die vollendete Sprache dieses Dramas von Goethe sei eine "dünne Haut", hat Heiner Müller bemerkt, darunter "bebt es": Der Schauder der Iphigenie ist tief in den Text eingewirkt, nur, um an geeigneter Stelle aufzuplatzen.

Iphigenie im White Cube ihrer gequälten Seele

Joachim Schloemer holt im Theater Neumarkt sogar einen Heiner Müller auf die Bühne, um die Qualität des Textes zu erklären, den er gerade spielen lässt. Was umso weniger nötig wäre, als ihm eine ganz und gar dünnhäutige Iphigenie zur Verfügung steht. In einem kleinen, weißen, rollbaren Bühnenkasten kauert und tigert Sabine Waibel, doppelt gefangen in ihrem Exil und in ihrem Trauma, das aus langer Vorgeschichte in ihr hochsteigt. Ihre Iphigenie hat viele Tonfälle – trotzige, wütige, sehnsüchtige. Es bebt in ihr ja auch das Blut der Atriden, ihrer Vorfahren, die sich umgebracht haben. Als sie von der Ermordung auch ihrer Eltern erfährt – von Agamemnon und Klytämnestra –, steigert sich der Schauder in den Wahnsinn. Und das Spiel ins Affektierte.

Iphigenie1 560 Caspar Urban Weber uSabine Waibel ist Iphigenie © Caspar Urban Weber

Schloemer trägt nun dick auf. So wird nun bedeutungsvoll auf Nähe und Distanz gespielt, umso mehr, als die Bühne die ganze Längsseite des Neumarkts in Anspruch nimmt. Der Orest von Maximilian Kraus kriegt seine vom Blut der Mutter – eben Klytämnestra – besudelten Hände schon gar nicht mehr auseinander und versucht sich mit aller Gewalt selbst ins Grab zu werfen. Sichtlich traumatisiert, der Mann. Und zu guter Letzt, als mit Iphigenie auch die Gelegenheit zur Zeugung eines Stammhalters entschwindet, steigert sich selbst der zuvor so ruhige und gewissenhafte Thoas von Martin Butzke in den Furor: "Leb wohl!", schreit er Iphigenie und Orest mit der letzten Zeile hinterher, den wiedervereinten Geschwistern.

Love it – don't fear it!

Und was man hört, bevor nun das Black einsetzt, ist der Einschlag von Bomben. Mag der Fluch über den Atriden auch gebannt sein, der Untergang der Krim ist nah. Dass das Happy End belastet ist mit altem und neuem Schauder, das ist an diesem Abend schon richtig gedacht. Bloß mit dem Leuchtstift hätte man es nicht unbedingt inszenieren müssen. Der voluminöse Pathos ist umso fragwürdiger, als er der Regie dann doch nicht ganz geheuer scheint. Die Folge sind Brüche, die im schlechtesten Fall nicht mehr als Gags sind: Dann wird im filmischen Vorspann  griechischer Salat verspeist, oder Iphigenie muss kurz mal kiffen, um vom Wahnsinn runterzukommen.

Im besten Fall hat der Bruch immerhin System, wenn auch ein krudes: Pylades, der Gefährte von Orest, ist zu drei so genannten "Motown-Girls" aufgefächert, die bei Yanna Rüger, Janet Rothe und Solene Garnier ein paar handgedengelte Elektropop-Nummern trällern, um die optimistisch-opportunistische Botschaft zu verbreiten ("We like it / We love it / Don't fear it"). Warum das so ist, versteht zwar kein Mensch. Entscheidend ist aber sowieso etwas anderes: Sowohl der Pathos dieser Inszenierung als auch ihre brachialen Brüche perforieren die dünne Haut des Textes so lange, bis sie nicht mehr hält. Joachim Schloemer zeigt eine "Iphigenie", aus der schon früh aller Schauder entwichen ist.

Iphigenie auf Tauris
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Joachim Schloemer, Bühne: Jo Schramm,  Kostüme: Nicole von Graevenitz, Video: Joachim Schloemer, Jo Schramm,  Musik: C. Mysia, Dramaturgie: Ralf Fiedler.
Mit: Sabine Waibel, Martin Butzke, Maximilian Kraus, Yanna Rüger, Janet Rothe, Solene Garnier.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch



Kritikenrundschau

Joachim Schloemer "visualisiert die schillernde Unruhe in der Sprache und die inneren Konflikte der Figuren durchdacht", schreibt Katja Baigger auf der Zürich-Kulturseite der Neuen Zürcher Zeitung (28.3. 2015). Aber sie fragt sich, "was die eigenwillige Interpretation des antiken Chores (der bei Goethe gar nicht existiert) bezweckt. Zum Verständnis des komplexen Stoffs trägt sie nicht bei, sondern erzeugt unbeabsichtigt eine Parallelwelt, welche die Inszenierung in zwei Teile zerfallen lässt. Daran vermag die verkopfte These im Programmheft nichts ändern, dass die mehrheitsfähigen Sentenzen eines Arkas oder Pylades dem heutigen Pop-Phänomen entsprächen."

 

Kommentar schreiben