Schwitzhütten-Katharsis

von Alexander Kohlmann

Hamburg, 8. Juni 2015. Es sieht aus wie eine Szene aus der Sex-Orgie in Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut", wie die Zuschauer mit weißen Masken auf Einlass in das "Cabinet of Political Wonders" warten. Um eine Orgie geht es hier auch, jedoch nicht um sexuelle Aktionen, sondern um politische Spielarten. Zwischen Lenin und amerikanischem Popcorn werden die Besucher Eindrücken von politischen Brand-Reden des 20. Jahrhunderts ausgesetzt. Reden, die von dem slowenischen Künstlerkollektiv um Ana Vujanović als Performance begriffen und in Installationen verwandelt werden.

In jeder Ecke der Halle entstehen neue Bilder aus der Dunkelheit. Die Zuschauer wandeln frei durch den Raum, lassen sich von einer Ideologie zur anderen treiben. Auf einem Fernseher spricht eine Schauspielerin Rosa Luxemburg, in einem Klassenzimmer können Krisenherde der Welt auf der Tafel verfolgt werden. Vietnam, Irak und Jugoslawien ziehen vorbei. Ein Performer mit Schnabel-Maske spricht von den "Verbrechern im Weißen Haus", während ein anderer auf einer Tafel ein riesiges Wandgemälde von Lenin mit Kreide zeichnet. Dessen Reden laufen in Endlosschleife auf einem alten Plattenspieler. Nelson Mandela und Michael Gorbatschow werden groß projiziert.

Auch wenn es nicht leicht fällt, die meistens auf englisch performten Reden zuzuordnen, die Politik-Orgie fasziniert und zieht die Besucher in ein immer dichter werdendes Gestrüpp aus konkurrierenden Geisteshaltungen. Bis wir ganz zum Schluss vor dem gewaltsamen Ende des Wettstreits der politischen Ideale stehen. Auf eine Handvoll Sand werden Bilder prügelnder Polizisten aus aller Welt geworfen. Die Choreografie der Zerschlagung, sie ist überall dieselbe. Das ließ sich in den ersten Tagen des diesjährigen Live-Art-Festivals (noch bis 13.6.) tatsächlich live beobachten.

Der Archetypus des Zusammenpralls: "Now (The Clash)"

"Nochmal, räumen sie jetzt den Platz, oder wir müssen unmittelbaren Zwang anwenden", schallt es aus Polizeilautsprechern auf dem Bahnhofsvorplatz. Rauch versperrt die Sicht. Dazwischen kämpfen Polizisten gegen Demonstranten. Immer wieder rücken die schwarz-gekleideten Männer vor. Sie tragen weiße Helme, Schlagstöcke und Plastik-Schilder. Unter denen können sie sich einigeln wie unter einem Schildkröten-Panzer.

Clash 560 FrankEgel uKnäuel aus Demonstranten und Polizisten in "Now (The Clash)" © Frank Egel

Das sieht ja aus wie bei Asterix, sagt eine ältere Hamburgerin, zuckt ihre Schultern und geht weiter. Was da vor dem Hamburger Hauptbahnhof passiert, ist nicht, wie einige Passanten mutmaßen, eine Neuauflage der Krawalle zum 1. Mai, sondern eine Performance des israelischen Künstlers Omer Krieger. Der hat für "Now (The Clash)" Protestbewegungen in aller Welt beobachtet, im Gezi-Park, auf dem Taksim-Platz und in Ost-Jerusalem zum Beispiel. Die daraus entwickelte Struktur soll den Archetypus des Zusammenpralls zwischen Polizei und Bürgern abbilden.

Inzwischen fliegen Steine. Vermummte Demonstranten, allesamt sehr jung und oft weiblich, attackieren die Polizisten. Die weichen in der Choreografie immer wieder zurück. Sie sind keineswegs nur die Täter, sondern immer wieder auch die Angegriffenen. Menschen, die ihre Körper der Staatsmacht zur Verfügung stellen – und an vorderster Front den Zorn der Massen ertragen müssen. Und Demonstrierende, die auch die Lust am Krawall als Selbsterfahrung eint. Die Choreografie ist tatsächlich viel differenzierter als es zunächst scheint und hinterlässt ein ziemlich zwiespältiges Gefühl.

Öffnung der Geistes-Poren in der "Hamamness"

Um eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Körper geht es in der Installation "Hamamness", die ebenfalls zum Festivalprogramm gehört. Dahinter verbirgt sich ein voll funktionstüchtiges türkisches Bad aus Plastik-Zelten. Wie eine Ufo-Fatamorgana leuchten sie in der riesigen, dunklen Halle in bunten Farben von innen heraus. Es geht hier nicht um Wellness, sondern darum, durch das "Öffnen der Poren kulturelle Verpanzerungen zu lösen", erklärt Festival-Kuratorin Nadine Jessen. Wer das Plastik-Raumschiff betritt, erlebt leicht bekleidete Körper in größtmöglicher Entspannung. Ein radikaler Szenenwechsel ist das nach der inszenierten Gewalt auf dem Bahnhofsvorplatz.

Hamamness 560 AnjaBeutler uDie Zelte leuchten. © Anja Beutler

Im Kampnagel-Foyer bespricht die Architektin und Städtebauforscherin Nina Gribat derweil in einem öffentlichen Close Reading einen Text von Judith Butler. Wer will, kann sich dazu setzen und noch einmal aus gendertheoretischer Perspektive auf die "Krawalle" vor dem Bahnhof schauen. Das Interessante an Butlers Text sei, so Gribat, "dass sie über Körper im Protest nachdenkt und dabei von einem Konzept der Verwundbarkeit ausgeht".

Während die Wissenschaftlerin spricht, verschwimmen die Bilder des Kampfes auf der Straße und der kollektiven Nacktheit im türkischen Bad zu einem großen Ganzen. Die politischen Reden und Ideen aus dem "Cabinet of Political Wonders" hallen noch nach, und das Festival-Thema beginnt vor dem inneren Auge zu verschwimmen. Ein seltsamer, schöner Zustand, der vielleicht auch durch die ätherischen Stoffe in der Schwitzgrotte begünstigt wurde – wo für die Abendstunden spontane Performances angekündigt sind. Und bestimmt zwischenmenschliche Begegnungen zwischen Künstlern, angehenden Demonstranten und vielleicht auch ein paar Polizisten, ohne Uniform, stattfinden werden.

Cabinet of Political Wonders
Konzept: Ana Vujanović, Co-Autoren: Saša Asentić, Siniša Ilić, Marta Popivoda.
Mit: Tänzerin: Kristin Schaw Minges, Schlangenmensch: Santeri Koivisto.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

Now (The Clash)
Konzept/Choreografie: Omer Krieger.
Mit: Jelena Bosanac, Manuel Funk, Ehsanul Karim, Filomena Krause, Ida Krombach, Alexey Markin, Mariana Schneider, Therese Schneider, Anna-Sophie Schönbeck, Justus Schwerdtfeger, Natascha Simons, Claudia Laackmann, Ekaterina Pilipenko, Sofie Ruffing.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.kampnagel.de/live-art-festival

 

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