Geteilte Erinnerungen

von Sascha Westphal

Essen, 14. Juni 2015. Dunkel, fünf Stimmen, über den Raum verteilt, eher leise, so als ob sie von den gemeinsamen Erinnerungen nur vorsichtig, quasi verschwörerisch sprechen könnten. Auf der dreigeteilten hinteren Wand Videoprojektionen in Schwarzweiß. Wörter, Textfetzen und Gräser, die sich nicht bewegen. Kein Lüftchen geht in diesen Bildern. Eine hermetische Welt, fest verschlossen in der Zeit, die war und nicht mehr ist. Noch ist das Gras unberührt, das über das Vergangene gewachsen ist. Doch schon bald wird es niedergetrampelt werden.

Vergessen ist vielleicht eine Option, aber keine Lösung in Henriette Dushes Erinnerungstext "Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke". Das deutet sich schon in diesem nur schwach erleuchteten Dunkel an, in dem sich eine merkwürdige Konstruktion aus vier ineinander verkeilten Metalltürmen verbirgt. Ein praktischer Zweck lässt sich kaum erahnen. Sie wirkt mehr wie ein Kunstobjekt, eine Art Skulptur, die durchaus auf das documenta-Gelände passen würde: vielleicht ein Symbol für verschlungene Erinnerungen oder einfach nur das Wirrwarr der Vergangenheit.

Fehlende Wörter

In diesen ersten Momenten ist Ivna Žics Uraufführung eher Installation als Inszenierung. Das Zusammenspiel von Martina Mahlknechts Video- und Bühnenarrangement schafft einen wunderbaren Resonanzraum, in dem Sätze wie "Nein!, ich habe meine Finger überhaupt nicht, ich / Ich habe wirklich nicht, kein einziges Mal habe ich, Gott ist mein Zeuge" lange nachhallen können. Lange genug, um den Palmetshofer-Sound und -Duktus verklingen zu lassen. Eine vage, beinahe geisterhafte Erinnerung an diese ganz eigene, verknappte Palmetshofer-Sprache bleibt zwar über der Bühne hängen und verdichtet sich immer mal wieder zu deutlichen Assoziationen. Aber Ivna Žic gelingt es, den Text von der Last seiner Vorbilder zu erlösen.

VonderlangenReise2 560 Birigit Hupfeld uMutter und Töchter: Flora Pulina, Ines Krug, Silvia Weiskopf, Julia Goldberg, Stephanie Schönfeld
© Birigit Hupfeld

Was zunächst noch ein wenig zu vertraut klingt, erweist sich als weites (Sprach)Feld. Und das reicht von buchhalterisch-sachlichen Auflistungen von Koffer- und Kisteninhalten, "2 Anoraks, 6 Blusen, 12 Schlüpfer" und so weiter, bis zu beinahe poetischen Verdichtungen: "Das ist doch kein Leben mehr, kein schönes zumindest, oder?, man muss doch nicht jedes Versprechen, was man einmal, also wenn man merkt, dass es vielleicht". Die fehlenden Wörter, das sind die Leerstellen, die offenen, nicht mehr zu klärenden Fragen im Leben einer Mutter und ihrer vier Töchter.

Die Widersprüche knapp unter der Oberfläche

Vor Jahren, als Deutschland noch geteilt war, als der "antifaschistische Schutzwall" noch Westen und Osten, realen Kapitalismus und versuchten Kommunismus, Farbe und Grau voneinander schied, lebten die fünf Frauen in der DDR, zugleich geborgen und gefangen. Irgendwann wollte dann der Ehemann und Vater einfach nur noch weg, rüber über die Grenze in die Weite und die Freiheit, oder was er dafür hielt. Ein Ausreiseantrag wurde gestellt und irgendwann sogar genehmigt. Und seither kreisen die Gedanken endlos um die Tage davor und die Wochen danach. Die Schikanen der "grauen Männer", der "Lehrerin im häufig getragenen orange-knisternden Pullover" und der Grenzer im Zug, aber auch das Verstummen des Vaters im Westen und die schwindelerregende Farben- und Warenvielfalt, beim ersten Kaufhausbesuch in der neuen Nicht-Heimat lassen weder die Mutter noch die Töchter los.

Alleine der Mutter, die das, was war, eigentlich nur hinter sich lassen will, hat Henriette Dushe eine klare Identität gegeben. Sie spricht für sich und kämpft mit jedem ihrer Worte für das Vergessen, für ein Ende, einen Schlussstrich. Damit steht Ines Krug meist alleine. Während die vier Töchter die mittlerweile voneinander getrennten Metalltürme erklimmen, bleibt sie unten, eine Isolierte, die tapfer versucht, die Familie zusammenzuhalten. Müde und melancholisch wirkt Ines Krug meistens. Aber sie kann auch wütend werden, etwa wenn die Rede und die Erinnerungen auf die "Scheiß-Russen" kommen. Dann brechen auch Jahre später noch die Widersprüche und Ressentiments auf, die im sozialistischen Bruderstaat immer knapp unter der Oberfläche schwelten.

Chance auf Selbstfindung

Die Töchter sind Chor und Einzelne, Paare und Kombattanten zugleich. Worte und Identitäten fließen zwischen Julia Goldberg, Flora Pulina, Stephanie Schönfeld und Silvia Weiskopf frei hin und her. Immer wieder bilden sich neue Konstellationen. Mal kämpfen zwei gegen zwei, mal umkreisen drei die Mutter wie die antiken Erinnyen, während Stephanie Schönfeld als einzige Ines Krug beisteht. Choreographien von heillos verhedderten Lebensgeschichten. Jede Bewegung, jeder Schritt bringt immer beides mit sich, die Gefahr des Identitätsverlusts und die Chance auf Selbstfindung. So schälen sich fortwährend kleine Persönlichkeitsminiaturen aus dem Kreisen der Erinnerungen heraus: Momente absoluter Klarheit wie der, in dem Silvia Weiskopf mit einem maliziösen Lächeln erzählt, wie sie einen Stein auf einen schlafenden Flamingo geworfen hat, um einmal seinen Kopf zu sehen. Und schon erinnert man sich an die Türme zu Beginn: Unschuld und Bosheit, Sehnsucht und Zerstörung sind eins, im Westen wie im Osten.

 

Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke (UA)
von Henriette Dushe
Regie: Ivna Žic; Bühne und Video: Martina Mahlknecht; Kostüme: Sophie Reble; Komposition der Bühnenmusik: Johnannes Kühn; Dramaturgie: Vera Ring.
Mit: Julia Goldberg, Ines Krug, Flora Pulina, Stephanie Schönfeld, Silvia Weiskopf.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-essen.de

 

Mehr zu Henriette Dushe? "Von der langen Reise..." gewann 2014 die 3. Essener Autorentage "Stück auf!".  Außerdem ist die Autorin Trägerin des Grabbe- und des Reinhold Michael Lenz-Preises und Gewinnerin des Autorenpreises des Heidelberger Stückemarkts 2013.

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