Presseschau vom 3. Juli 2015 – In der Zeit macht Hanno Rauterberg sich Gedanken über die Fallen des Artivismus

Die Verneinung der Geistesfreiheit

Die Verneinung der Geistesfreiheit

3. Juli 2015. "Ein erstaunlicher Drang ins Politische erfasst weite Teile der Gegenwartskunst", stellt der Kunstkritiker Hanno Rauterberg in der aktuellen Ausgabe der Zeit fest, mal gebe sie sich "agitatorisch" wie bei Philipp Ruch und dem Zentrum für politische Schönheit, mal sei sie "nüchtern dokumentarisch" wie bei Milo Rau. Stets aber versuche sie, sich der Welt zu öffnen, "so dass manche bereits von einem 'Artivismus' sprechen". Allerdings gerate "die Kunst, die den Käfig der Selbstzweckhaftigkeit verlässt, nur zu leicht in andere, weit perfidere Formen der Gefangenschaft". Sie stelle sich selbst die größten Fallen, und zwar diese fünf (in der Reihenfolge):

Erstens "die Falle der Bevormundung": "Wenn der Artivist nicht sehr genau wüsste, was richtig und was falsch ist, dann gäbe es ihn nicht", so Rauterberg. "Er braucht eine aufklärerische Gesinnung." Wie aber wirke diese Gesinnung, "oft von Zorn getragen, auf jene, die von der Kunst erreicht, die mitgerissen und geläutert werden sollen"? "Sie wirkt zumeist wie nackte Bevormundung." Der Künstler erhebe sich über sein Publikum, "er verneint die Geistesfreiheit." "Und das Publikum (…) fühlt sich bedrängt und reagiert mit Verdrängung."

Zweitens "die Falle der Medialisierung". "Der Artivismus ist anschlussfähig, er fügt sich ins gängige Debattenmuster, er folgt den Regeln der skandalisierenden Kampagne. Er bietet gute Geschichten, plakativen Ungehorsam und gehorcht damit dem Nützlichkeitsdenken der Mediengesellschaft." Fürs politische Anliegen der Künstler bedeute das allzu oft die Verbannung in die Sphäre der Irrelevanz: "Nicht selten ist die Empörung über die künstlerischen Mittel (Särge! Blut! Kreuze!) weit größer als die Empörung über die beklagten Missstände."

Drittens "die Falle der Vereinfachung". "Kritik wird nur dort wirkungsvoll sein, wo sie so evident ist, dass sie keiner Entschlüsselungen bedarf", so Rauterberg. "Damit aber, in Verzicht auf die Ambivalenz des ästhetischen Ausdrucks, auf alles Enigmatische, macht sich die Kunst nicht nur nützlich, sie macht sich auch gleich und am Ende überflüssig."

"Artivistische Kunst" werde daran gemessen, ob und inwieweit sie mit ihren Aktionen tatsächlich Erfolg hat. "Sie muss sich dem Regime des Leistungsnachweises beugen, denn wer konkrete Ansprüche erhebt, kommt nicht umhin, sich zu diesen Ansprüchen auch zu verhalten." Sie konkurriere mit der Effizienz von Bürgerinitiativen, Gewerkschaften, NGOs, "mit all den Verbänden und Organisationen, die ebenfalls einer Agenda der Gerechtigkeit folgen". Meist werde die Kunst diesem Effizienzvergleich nicht standhalten. "Sie wird Zweifel auf sich ziehen, wo sie doch Zweifel säen wollte."

Viertens "die Falle der Kompensation". "Gelingt es (…) dem Artivismus, eine Aufmerksamkeitslücke zu füllen, erweist er sich als gesellschaftliche relevant und politisch nützlich, dann dient er am Ende leicht einem System, das er doch eigentlich unterwandern wollte." In manchen Staaten wie Großbritannien werde die Kunstförderung bereits auf ihre kompensatorische Wirkung hin geprüft: "Wird die Kunst (...) sozial wirksam (...)? Profitiert die lokale Wirtschaft davon, fördern die Kunstprojekte körperliche und geistige Gesundheit, verringern sie die Kriminalität?" Anhand solcher Leitfragen werde die Finanzierung von den sozioökonomischen Erfolgen der Kunst abhängig gemacht, so Rauterberg. "So (…) kann eine artivistische Kunst zum willkommenen Vorwand werden, staatliche Sozialförderung weiter zu kürzen."

Fünftens "die Falle der Freiheit". In libertären Gesellschaften sei die kritische Kunst längst zu einem Statussymbol der Mächtigen und Reichen geworden. Das mache es dem Artivismus in den westlichen Gesellschaften "nicht unbedingt leichter: Wenn sein Aufbegehren immer schon eingepreist ist, wie sollte er sich als Gegenmacht fühlen?"

Um diese fünf Fallen zu umgehen, mieden manche Künstler den Begriff der Ästhetik, weil er ihr Wollen und Wirken "so unernst erscheinen" lasse. "Andere wiederum wollen den Fallen des Plakativen entgehen, indem sie die Verständnishürden möglichst hoch legen: Sie betreiben Tiefenrecherche, legen dicke Aktenordner an, entwickeln eine kaum entschlüsselbare Formensprache." Einige folgten auch den Erkenntnissen der Philosophin Juliane Rebentisch, für die Kunst nur "indirekt und potenziell" politisch sei, – "aufgrund der Struktur der reflexiven Erfahrung, die sie ermöglicht".

Allerdings öffne sich auch im Abstand zur Welt eine weitere, sechste Falle der politischen Kunst, "die Falle der Selbstbestätigung", so Rauterberg: "Im ästhetischen Reich des Ungefähren umkreist sie ihre Themen mehr, als dass sie sie benennt oder diskursiv beleuchtet, und hinterlässt daher beim kritischen Besucher entweder ein großes Unbehagen, weil er über die Konflikte der Welt von anderen Medien weit gründlicher informiert wird." Oder aber der Besucher werde lediglich "bestätigt in seiner Auffassung, dass der Neoliberalismus ja wirklich viel Schaden auf der Welt anrichte". "Der Künstler überzeugt mit seiner Kunst nur die ohnehin Überzeugten."

(Die Zeit / sd)

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