Presseschau vom 3. Juli 2015 – Die Perlentaucher-Debatte Literaturkritik im Netz

Retrograde Fantasie oder das nächste heiße Ding

Retrograde Fantasie oder das nächste heiße Ding

3. Juli 2015. Am 24. Juni hat Wolfram Schütte, in anderen Zeiten der big shot für Literatur- und Filmkritik in der Frankfurter Rundschau (als die noch die berühmte FR war) im Perlentaucher seinen Vorschlag veröffentlicht, eine Zeitung für Literaturkritik im Netz zu etablieren. Seither gab es eine Reihe von Beiträgen zu dieser Idee. Wir fassen zusammen.

Die Zeitung

Schüttes Begründung ist die nämliche wie bei Entstehung von nachtkritik.de. "Die Kritik (ob über Bücher oder über Filme) sorgt sich mittlerweile über ihren 'Bedeutungsverlust' beim noch Zeitung lesenden Publikum (...) In der Annahme, dass über kurz oder lang das Print-Zeitungslesen weder weiterhin alltäglich, noch möglich sein wird; dass Rezension & Kritik für Buch (& Film!) in der Printpresse an Raum & Bedeutung verlieren, drängt sich automatisch das Internet als Ersatz, bzw. Fortsetzung mit anderen Mitteln auf. "

Eigentlich gebe es ja Literaturkritik die Masse im Netz, blöde bloß, dass der und die Interessierte und Interessierbare sie nicht im Vorbeigehen finden könne. "Wichtig scheint mir der hier beschriebene Wahrnehmungsvorgang, der nicht zielbewusst oder zielgerichtet ist – wie das algorithmische Suchen im Internet –, sondern beiläufig, zufällig, schweifend in ein Finden übergeht." Also solle ein Portal her, eine digitale "Zeitung für Literatur", die als "Findebuch" (bzw. Fundgrube) für die literarisch Interessierten funktioniere. Und als Zeitung daherkommen solle, weil die Zeitung die Fähigkeit besitzt der Leserschaft "Serendipity" zu "schenken", also das "Entdecken von Dingen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie entdecken wollte" (Marcel Weiss).

Bezahlt werden sollte die Unternehmung nach Schüttes Vorstellungen einerseits von den Verlagen (sie sollen das Projekt "finanziell stützen"), andererseits von den Leser*innen. "Die Besucher & Nutzer sollten als fester Club angesehen, angesprochen werden. Die Exklusivität gehört durchaus dazu." Eine Stiftung wäre vorstellbar, die Unabhängigkeit der Redaktion (drei bis fünf ausgewiesene, "jüngere" Literaturkritiker*innen mittleren Alters) unabdingbar. Diese digitale Zeitung für Literatur solle als "Zentralpark" fungieren für die Präsentation der Verlagsprogramme. "Von hieraus wird zu allen anderen literarischen Blogs & Website verlinkt, die sich der Literatur widmen." Auch soll man über die Zeitung Bücher bestellen können, "über eine angegliederte Institution, die nicht Amazon ist" oder über eine nächste Buchhandlung.

Aufzeigen des Möglichkeitsraums

Marcel Weiss (Perlentaucher, 24.6.2015) wendet sich gegen die Idee der hierarchischen Organisation des Suchens und Findens via eine Redaktion. Er plädiert stattdessen für ein Netzwerk wie es in Teilen schon in Form etwa von Twitter oder Goodreads' Timeline existiere. "Der Punkt ist das Aufzeigen des Möglichkeitsraums. Dieser wird online bestimmt von Netzwerken. Hierarchien sind eine Untermenge von Netzwerken. Und deswegen schränkt ein auf Hierarchie setzendes Vorgehen immer ein, wenn man die Netzwerke nicht mitdenkt."

Alexander Kluge (Perlentaucher, 25.6.2015) wünscht dem Projekt Glück und Gedeihen, weil es ein Projekt der Wiederhestellung von Öffentlichkeit sei. Denn: "Ich bin entsetzt über den offenkundigen Verfall von Öffentlichkeit. Zum Schluss ist alles nur noch Werbung und verwaltetes Medium." Aber weil das Internet "überraschende Volten schlägt", könne es eben auch anstatt die die Realität stumpfsinnig "durch Ungeduld, Kurzfassung, Anpassung und organisierte Gleichgültigkeit" zu übertreffen, umgekehrt auch gut sein für "Wunder der Aufmerksamkeit" [Dazu kammer nur sagen Inch Allah, lieber Alexander Kluge – der Säzzer].

Paywall erstickt das Gespräch

Sieglinde Geisel (Perlentaucher, 25.6.2015) findet die Idee sehr gut, meldet aber Zweifel an in dreierlei Hinsicht: "Eine Paywall erstickt das Netz-Gespräch, das fluide Teilen und Geteiltwerden, das virale Wachstum. Wenn unser erträumtes Literaturmagazin relevant werden soll, müssten wir andere Modelle erproben: Mäzenatentum, Stiftungen, Genossenschaft, Crowdfunding, whatever". Außerdem müsse die Literaturkritik wieder Maßstäbe entwickeln und sich auf das "Neue Spiel" der Kritik im Netz wirklich einmal einlassen: "Wozu ein Imitat [die Zeitung im Netz], wenn man etwas Neues erfinden kann? Die Redaktion ist nicht allein. Das Neue Spiel bezieht seine Energie aus dem Kontakt mit den Lesern, ihren Kommentaren und Ideen, ihren Bedürfnissen, ihrer Neugier."

Macher gesucht

Michael Kötz (Perlentaucher, 26.6.2015) weist darauf hin, dass es einen Web-Unternehmer bräuchte, um mit der Sache Geld zu verdienen: "Ein Unternehmen wird nur begonnen, wenn eine Chance auf Gewinn besteht." Diejenigen, die für "die Werbung oder den Verlaufs-Link bezahlen", müssten volles Vertrauen in das neue Projekt haben. "Wann haben sie das? Wenn es ein Dutzend namhafter Kritiker sind, die das Projekt machen". Die entscheidende Figur aber sei der Web-Unternehmer, der müsse "mindestens die Management-Fähigkeiten haben, die ein Filmfestivaldirektor hat, der auch die Geschäftsführung macht, darunter wird es ein Desaster." Denn: "Auf gar keinen Fall darf das Lesen der Website a) verlangen, dass man sich anmeldet (das ist out!!) oder b) dass man irgendetwas dafür bezahlen muss (geht gar nicht, siehe die doofen Zeitungsverlage, die das machen – und deren Artikel dann nicht gelesen werden!!)."

Zu klein, zu unterwürfig

Jörg Sundermeier (Perlentaucher, 30.6.2015) geht noch einmal einen Schritt zurück. Die Kritik in den Printmedien gehe nicht an der mangelnden Lesefähigkeit des Publikums zuschanden, sondern am Profitstreben der Verlage, die allen Inhalt auf Infotainment polten. Die Blogs könnten die verdrängte Literaturkritik "nicht allein beherbergen". Es fehlten dafür schlicht die "notwendigen vielen Leserinnen und Leser". Zudem müsse der qualitätshaltige Blog erst einmal im Netz gefunden werden.

Dazu komme, dass keine freie Autorin sich noch die eingehende Auseinandersetzung mit großen, vom Mainstream abliegenden Werken leisten könne. Man verdient damit einfach nicht genug. Was wiederum dazu führe, dass die Kritiker*innen immer ärger in den Betrieb, von dem sie unabhängig sein sollten, verstrickt seien: "Sie schreiben Nachworte, Vorworte, geben Texte heraus oder haben gleich einen Beratervertrag." So gingen Maßstäbe verloren, Fähigkeiten und Qualität. Und wieso solle das bei Schüttes Findebuch im Internet anders sein? Und obendrein: die Finanzierung! In die Stiftung, die Schütte sich vorstelle, würden gewiss wiederum die Verlage einzahlen, und die sorgten zuletzt schon dafür, dass missliebige Autoren zum Verstummen gebracht würden und sei es durch den verbreiteten Willen der Intellektuellen, sich auch jenen Mächtigen, die ihre Macht nicht direkt ausüben könnten, vorauseilend zu unterwerfen.

Beispiel: Los Angeles Review of Books

Nikola Richter (Perlentaucher, 30.6.2015) macht sich anerbötig, Schütte Wege zur Literaturkritik im Internet zu zeigen. Ist doch schon alles da, findet sie. Man muss nur wissen, wie mit den neuen Medien umgehen. Was es aber wirklich brauche, sei "eine neugierige kritische Haltung. (...) Im Netz: Weniger 'I like' als auch eine Auseinandersetzung mit den Inhalten."

Ekkehard Knörer (Perlentaucher, 1.7.2015) macht in einem sehr umfangreichen Beitrag erst einmal einige unabweisbare Statements zur Lage: 1. Die Literaturkritik in den Zeitungen ist "kaputt". Häppchen-Journalismus. 2. Literaturkritik ist eine "Sache für recht kleine Kreise". Kommerziell kann damit kein Verlag überleben.
Schütte nun sehne sich mit seiner Idee nach der Bedeutung, die Kritik einst gehabt habe. Nur hätten sich eben die Orte der Reflexion pluralisiert. Serendipity, die Schütte anstrebe, lieferten die "Sozialmedien Facebook und Twitter in viel vollkommenerer Weise". Was fehle, sei nicht der zentrale Ort, sondern "smarte Konzepte für die anderen Zeiten, in denen wir leben". Dabei sei gegen das Prinzip Redaktion nichts einzuwenden. "Nichts, wirklich gar nichts spricht dafür, dass sich die bewährte Form 'Redaktion' angesichts von Blog-Einzelkämpfern und angesichts der auf den einzelnen zuschneidbaren Sozialmediendistribution erübrigt. (...) Alles spricht vielmehr dafür, dass sich das bestens ergänzt."
Das Problem sei die "fortlaufende Finanzierung". Dafür seien "die Klickzahlen für Kultur zu gering, die Werbepreise zu niedrig, die Werbetreibenden (...) viel zu wenig bereit zum Experiment". Der Perlentaucher sei so ziemlich das einzige Kulturmagazin, das im Netz halbwegs überlebt habe und "wenigstens ein paar Redakteure und Mitarbeiterinnen nicht gut, aber immerhin doch: bezahlt" – aber auch nur dank seinen "aggregierenden Servicefunktionen". "Im Theaterbereich ist die Nachtkritik in vielen Hinsichten ein phänomenaler Erfolg, in Sachen Finanzierung ist sie es nicht."
Aber doch fehle in Schland eine Zeitschrift, die den "Review-Formaten im angelsächsischen Raum entspricht". Die Los Angeles Review of Books sei ein Beispiel: Die Grenzen zwischen "High und Low, Pop- und Hochkultur, Akademischem und Trivialem" seien gefallen. Finanziert werde es in einer Mischung aus öffentlich und privat ausgeschriebenen Geldern, ergänzt durch Mittel der Leser*innen – ohne Paywall und mit für alle frei lesbaren Artikeln. Allerdings: In den USA gebe es eine "sehr lange etablierte Kultur der Crowd-Finanzierung". Hier nicht.

Die Leser sprechen zurück

Dana Buchzik (Perlentaucher, 2.7.2015) weist noch einmal auf den desolaten Zustand der (nicht nur) Literatur-Kritik hin. Sie werde dominiert von Gefälligkeitsrezensionen, verfasst von schwer mit dem Betrieb verfilzten etablierten Kritiker*innen. Es handele sich einfach um "erweiterte Verlags-PR". Die Aussichten: noch schlechter: Bis 2019 werde laut einer aktuellen Cisco-Studie "80 Prozent der globalen Internetnutzung aus Video Content bestehen".
Deshalb müsse sich die Literaturkritik künftig 1. auch nicht highbrow-Formaten wie etwa Filmen, Games, Unterhaltungsliteratur, Poetry-Slams widmen. 2. sich kurz fassen. 3. neue Formate ausprobieren und 4. sich darauf gefasst machen, dass sich eine Online-Leserschaft mehr Gehör verschaffen werde.
Leser allerdings, die produktiv an "ihrer" Zeitung mitwirkten, seien auch bereit, für den Mehrwert, den dieses Seite für sie darstelle, zu bezahlen. "Diese Unterstützung seitens der Leser sollte die Haupteinnahmequelle des Projekts darstellen."

Einen Preis statt der Zeitung

Florian Kessler (Perlentaucher, 3.7.2015) findet die Idee einer großen Online-Zeitung mit "'kanonischen' (zentralisierten)" Ansprüchen einfach eine "retrograde Phantasie": "Die Vergangenheit ist vorbei." Natürlich, eine Gesellschaft, die Literaturkritiker und vielleicht sogar einige Kritikerinnen beschäftigen wollte, und diese sogar noch halbwegs anständig finanzierte, sei sicherlich in "zumindest in diesem einen Punkt keine ganz schlechte Gesellschaft" gewesen. "Aber eine Gesellschaft wie die heutige, in der nicht nur ausschließlich professionelle Literaturkritiker das literarische Gespräch mitbestimmen können, ist dann eben auch zumindest in diesem einen Punkt nicht völlig missraten." "So kulturell verheerend" Amazon sein möge, "so kulturell großartig bleibt selbst jede Amazon-Kundenrezension". Einen großen Qualitätssprung habe das Netz gebracht: die Öffnung des Sprechens über Literatur – hin zum Publikum und hinein in die verschiedensten gleichberechtigten Diskurse und Interessen.
Die Frage sei, wie die Vielfalt der Auseinandersetzungen mit Literatur zu verbessern wäre. Am besten ließe sich das vielleicht durch einen großen, öffentlich verhandelten Preis für Literaturbeiträge – und zwar Literaturbeiträge jedes Kalibers – lösen.

(jnm)

 

Alle Artikel zu der von Wolfram Schütte angestoßenen Debatte über die Zukunft der Literaturkritik auf einen Blick gibt es hier.

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