Tetralogie der Sommerfrische

von Thomas Rothschild

Reichenau, Juli 2015. Es ist nicht frei von Ironie. Da wurden 1988 die Festspiele Reichenau gegründet, als traditionalistische Reaktion auf Claus Peymann, der zwei Jahre zuvor die Direktion des Burgtheaters übernommen hatte, und auf das, was man irreführend Regietheater nannte. Inzwischen gilt Peymann selbst vielen geradezu als der Inbegriff des Altmodischen, und sein engster Mitarbeiter Hermann Beil hat sich als Dauergast in Reichenau etabliert.

Der Ort

Zu den Besonderheiten dieser Festspiele gehört neben dem Staraufgebot die Location. Reichenau, knapp hundert Kilometer von Wien entfernt an der Raxalpe gelegen, von wo das berühmte Wiener Hochquellenwasser kommt, ist zusammen mit dem nahen Semmering ein legendärer Ort wie St. Moritz, Sils-Maria oder Altaussee. Zahlreiche Prominente haben um 1900 hier ihre Sommerfrische verbracht. Heute gibt der verblichene Glanz eine auratische Kulisse ab für Dramen just solcher Autoren, die damals dort die Gebirgsluft genossen und Liebschaften pflegten, allen voran Arthur Schnitzler. Ein Hauch von Dekadenz (die man durchaus positiv bewerten kann) hängt über der Szene. Sarah Kane oder René Pollesch würden hier einigermaßen exotisch wirken. Im heruntergekommenen aristokratischen und großbürgerlichen Ambiente von Reichenau wäre auch für Friedrich Wolfs "Floridsdorf" ebenso wenig Platz wie zu Zeiten Schnitzlers für die streikenden Arbeiter der nahen Wiener Neustädter Lokomotivfabrik, in der während des Zweiten Weltkriegs KZ-Insassen an der Produktion von V2-Raketen mitwirken mussten.

Weibsteufel1 560 c Dimo Dimov Festspiele Reichenau uDer Weibsteufel Katharina Straßer räkelt sich in Reichenau  © Dimo Dimov / Festspiele Reichenau

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Konservative Sommerfrischler

Das Rezept der Gründer Peter und Renate Loidolt ist so erfolgreich, dass sich ein fester Stamm von Schauspielern und Regisseuren herausgebildet hat, der Jahr für Jahr anreist. Sie haben hier ihre Sommerresidenz aufgeschlagen wie die Wiener Philharmoniker in Salzburg, genießen tagsüber die Landschaft wie einst Peter Altenberg oder Heimito von Doderer, und treffen auf ihr Publikum, das genau weiß, was es hier erwartet. Mit schockierenden Inszenierungen oder eigenmächtigen Eingriffen in die vertrauten Texte ist nicht zu rechnen. Wenn die Worterklärung für "konservativ" "an dem Althergebrachten festhaltend" lautet, darf man die Festspiele getrost konservativ nennen, ohne jemandem nahe zu treten. Ein wenig hat es auch den Anschein einer Trotzreaktion, wenn die regelmäßig wiederkehrenden Schauspieler von Reichenau schwärmen. Einige von ihnen mögen sich – zu Recht oder aus Selbstüberschätzung – tatsächlich von Regisseuren "vergewaltigt" fühlen. Die unterschiedlichen Varianten des Theaters finden sich ihr jeweiliges Publikum wie die Filme in den Kinos und die Programme im Fernsehen. Verteidigenswert bleibt die Möglichkeit der Wahl.

Hinzu kommt, dass, was als konservativ oder fortschrittlich zu gelten habe, nicht ein für allemal feststeht, dass es vom sich verändernden Kontext abhängt. Die Burschenschaften waren um 1848 fortschrittlich und wurden im Kontext des zunehmenden Nationalismus reaktionär. Das ist in den Künsten nicht anders. So manche Neuerungen auf der Bühne, die gegen ein verstaubtes Theaterverständnis rebelliert haben, sind mittlerweile selbst nur noch Kopien ihrer selbst, konventionell und konservativ im engsten Sinne des Wortes. Sie lassen eine Schauspielkunst, die inzwischen fast in Vergessenheit geraten ist, revolutionär erscheinen, wie die zur Norm erstarrte ungegenständliche Kunst einst den tot gesagten Realismus in Popart oder Fotorealismus plötzlich wieder modern aussehen ließ. Die Vorstellung von der Evolution der Künste als einer teleologischen Entwicklung ist nicht nur falsch, sondern auch dumm. 

Prof Bernhardi1 560 c Dimo Dimov Festspiele Reichenau uMinister Flint (Peter Matic) und der Professor Bernhardi (Joseph Lorenz): Jö, lieber Professor, es gibt halt Höheres im öffentlichen Leben, als ein Wort zu halten  © Dimo Dimov / Festspiele Reichenau

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
Unrecht im Namen des höheren Ziels

Hermann Beil also, der Thomas Bernhard-Experte als Schnitzler-Connaisseur, hat sich nun nach dem "Einsamen Weg" und dem "Weiten Land" "Professor Bernhardi" vorgenommen. Ein Konversationsstück? Wenn das bedeutet, dass es auf pointierten, elegant formulierten Dialogen beruht: ja. Wenn das besagt, dass es sich in seichten Gefilden bewege, keinen Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit habe: nein. "Professor Bernhardi" hat in den mehr als 100 Jahren seit seiner Entstehung an politischer Brisanz – leider! – gewonnen. Das Thema des Antisemitismus hat sich im Schatten des Holocaust in den Vordergrund gedrängt, zu Lasten des anderen Themas: das Unrecht gegenüber dem einzelnen Menschen im Namen einer Ideologie, eines angeblichen "höheren Ziels". Der Pfarrer rechtfertigt sein Schweigen über seine Bernhardi entlastende Einsicht vor Gericht mit der höheren Verantwortung, die er der Kirche gegenüber habe, und der Unterrichtsminister Flint entschuldigt seinen Wortbruch damit, "dass es Höheres gibt im öffentlichen Leben, als ein Wort zu halten". Beide suspendieren somit zugunsten von Ideologien und Institutionen ihre Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen Bernhardi.

Hermann Beil setzt konsequent auf Sprachregie, die den Dialogen Gewicht verleiht. Er drückt aufs Tempo. Umso effektiver erscheinen die Ritardandi und Pausen. Publikumsmagneten sind Joseph Lorenz mit geballter Faust hinter dem Rücken in der Titelrolle und Peter Matić als Flint. Sie bewegen sich innerhalb eines differenzierten Ensembles, aus dem lediglich Alexander Knaipp in der kleinen, dramaturgisch aber wichtigen Rolle des unglücklichen Landarztes Feuermann herausfällt: Er verfügt nur über ein Register.

Bankier Borkman2 560 c Dimo Dimov Festspiele Reichenau u"Bankier Borkman": erschöpft vom Liebes-Lebens-Ringen von rechts Martin Schwab, Regina Fritsch und Julia Stemberger   © Dimo Dimov / Festspiele Reichenau

Ibsen an der Rax

Alfred Kirchner – auch er vor vier Jahrzehnten Mitglied des Peymann-Teams in Stuttgart – hat unter dem Titel "Bankier Borkman" Ibsens Schauspiel von 1896 inszeniert, mit einem weiteren langjährigen Peymann-Star, mit Martin Schwab in der Titelrolle. Kirchner entdeckt in Ibsen, vielleicht unter dem Einfluss des genius loci, den Jugendstil. Es sind die Schwestern Rentheim, verkörpert von Regina Fritsch und Julia Stemberger, die diese Konzeption visualisieren. Im Kontrast zu diesen zu Hysterie neigenden Konkurrentinnen steht die Geliebte von Borkmans Sohn Erhart Fanny Wilton als emanzipierte Frau, die nicht zögert, die junge Frida als Maitresse des jüngeren Erhart vorzusehen für den Fall, dass er sich von ihr trennt. Der Regisseur macht den Norweger so fast zu einem Zeitgenossen von Schnitzler und von Freud, der den Sommer ebenfalls gern in Reichenau verbracht hat. Martin Schwab spielt einen zugleich mürrischen und vitalen Egomanen, dessen Vermessenheit und Uneinsichtigkeit fast notwendig in den Tod führen. In ihm hat, wie in mehreren Ibsen-Figuren, Nietzsche mehr noch als Freud Spuren hinterlassen. Der Reichenauer "Bankier Borkman" erweist sich als Schauspielertheater im besten Sinne, ohne deshalb bewusstlos zu sein.

Ein Stück österreichische Folklore

Die Tochter ist verheiratet, das Vermögen, anders als bei Borkman, gerettet, und alles ist gut, ganz ohne distanzierende Brechung, ganz ohne Hinweis auf die Verhältnisse, für die derlei steht. "Der Alpenkönig und der Menschenfeind" in der Regie von Michael Gampe bestätigt das Bild von den Festspielen Reichenau als musealem Unternehmen. Man kann freilich auch der Ansicht sein, dass das Wiener Volkstheater mit seinen Couplets, seinem Beiseitesprechen, seinen standardisierten Gesten eine unverwechselbare Tradition herausgebildet habe, die man mit dem gleichen Recht oder Unrecht pflegen darf wie Giorgio Strehler die Commedia dell'arte oder das Tokioter Nationaltheater Nō. Zudem ist, wie der "Datterich" für Südhessen, der "Alpenkönig" längst ein Stück österreichischer Folklore, in deren Geschichte Schauspielerpaare wie die Hörbiger-Brüder oder Otto Schenk und Helmuth Lohner sowie der unvergessene Josef Meinrad als Habakuk eingegangen sind.

Alpenkoenig1 560 c Dimo Dimov Festspiele Reichenau uRappelkopf (August Schmölzer) trifft Alpenkönig (Sascha O. Weis)
© Dimo Dimov / Festspiele Reichenau

August Schmölzer als Rappelkopf und Nicolaus Hagg als Habakuk kommen gegen die lebendige Erinnerung an diese Publikumslieblinge an. Dem Alpenkönig Sascha Oskar Weis hingegen mangelt es an deren Ironie der Rolle und dem Partner gegenüber. In der traditionalistischen Inszenierung wirkt es schon wieder wie ein Fremdkörper, wenn Rappelkopfs verstorbene Frauen als Filmprojektionen auftreten. Im Übrigen beweisen die Szene, in der der Menschenfeind die von Geld geblendete Köhlerfamilie delogiert, oder jene andere, in der dem Bedienten Habakuk mit der Erlaubnis, seine angeblichen zwei Jahre in Paris zu erwähnen, die Menschenwürde, das Recht, er selbst zu sein, zurückerstattet wird, dass es keiner Aktualisierung bedarf, um die anhaltende Gültigkeit des ernsten Subtextes von Raimunds Zauberspiel zu erkennen.

Frauenschicksale im 19. Jahrhundert

Die Österreicher Raimund und Schnitzler gehören, neben Nestroy, zu den Reichenauer Festposten, wie auch die Großmeister des psychologischen Realismus Ibsen und Tschechow. Neu hinzu gekommen ist in diesem Jahr Karl Schönherr, und das verdankt er rein äußerlich der Magie der runden Zahl: sein "Weibsteufel" wurde vor 100 Jahren uraufgeführt. Der passt aber auch von der Zeit der Handlung her gerade noch zum Programmschwerpunkt "Frauenschicksale im 19. Jahrhundert", der, nicht sonderlich originell, Dramatisierungen von "Anna Karenina", "Madame Bovary" und "Effi Briest" vorausgehen ließ.

Weibsteufel2 560 c Dimo Dimov Festspiele Reichenau uUnterdrückte Sexualität in der Stube: "Der Weibsteufel" mit Katharina Straßer und Bernhard Schir.
© Dimo Dimov / Festspiele Reichenau

Martin Kušej ist es vor sieben Jahren gelungen, Schönherrs von der Literaturkritik eher geschmähtes Volksstück von Anzengruber weg und zu Horváth hin zu rücken. Dabei waren ihm ganz entscheidend seine Darsteller Birgit Minichmayr, Nicholas Ofczarek und Werner Wölbern behilflich. In Reichenau spielt Katharina Straßer die Titelrolle, und sie verfügt über die erforderlichen Zwischentöne in Sprechmelodie und Körpersprache. Aber es fehlt ihr das gleichrangige Gegenüber. Bernhard Schir, der auch Regie geführt hat, in der Rolle des Grenzjägers besitzt nicht die physische Präsenz eines Ofczarek. Es will einem nicht einleuchten, dass sich die Frau mit ihrer unterdrückten Sexualität so buchstäblich auf diesen Mann wirft wie einst Büchners Marie auf den Tambourmajor, einen "Mann, wie ein Baum".
Die Mundart, die bei Kušej nur angedeutet wurde, wird in Reichenau zum beherrschenden Stilmittel. Anstelle eines angedeuteten Waldabschnitts – ganz realistisch das Inventar einer Stube: ein Tisch, Stühle, eine Bank, eine Truhe auf der deltoidförmigen Spielfläche des Neuen Spielraums, von wo "Der Weibsteufel" dorthin zurück fällt, wo er sich vor Kušej befand: in den Bereich einer Dramatik, die nicht unbedingt ins Repertoire drängt.

 

Professor Bernhardi
von Arthur Schnitzler
Regie: Hermann Beil, Bühne: Peter Loidolt, Kostüme: Erika Navas.
Mit: Joseph Lorenz, André Pohl, Florentin Groll, Rainer Frieb, Eduard Wildner, Peter Moucka, David Oberkogler, Thomas Kamper, Michael Pöllmann, René Peckl, David Jacob, Marcello de Nardo, Alexander Hoffelner, Karin Kofler, Peter Matić, Tobias Voigt, Hannes Gastinger, Alexander Knaipp, Philipp Stix.
Dauer: 3 Stunden 5 Minuten, eine Pause

Bankier Borkman
von Henrik Ibsen
Regie: Alfred Kirchner, Bühne: Peter Loidolt, Kostüme: Erika Navas.
Mit: Martin Schwab, Regina Fritsch, Stefan Gorski, Julia Stemberger, Hans Dieter Knebel, Fanny Altenburger, Chris Pichler.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

Der Alpenkönig und der Menschenfeind
von Ferdinand Raimund
Regie: Michael Gampe, Bühne: Peter Loidolt, Kostüme: Caterina Czepek.
Mit: Sascha Oskar Weis, Rainer Friedrichsen, August Schmölzer, Emese Fay, Alina Fritsch, Christoph Zadra, Florian Graf, Johanna Arrouas, Nicolaus Hagg, Tanina Beess, Maria Schuchter, Fanny Altenburger, Julius Hagg, Helena Strasser, Maria Stippich.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

Der Weibsteufel
von Karl Schönherr
Regie: Bernhhard Schir, Bühne: Peter Loidolt, Kostüme: Erika Navas.
Mit: Marcello de Nardo, Katharina Straßer, Bernhard Schir.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.festspiele-reichenau.com

 

Kritikenrundschau

"Die (…) Aufführung ist deutlich auf ein älteres Publikum zugeschnitten", schreibt Barbara Petsch in Die Presse (8.7.2015) über "Bankier Borkman". "Ibsens Menschen sitzen auf einem Riesengebirge von Vergangenheit, sie wüten wie Rübezahl, trauen sich aber kaum mehr hinab. Sie haben Angst, alle Knochen zu brechen oder Schlimmeres." Petsch findet die Inszenierung nicht einnehmend, "aber stimmig", "dicht und kompakt".

"Stückfassung und Inszenierung ringen um eine scharfe Kontur des Titelhelden. Als ekstatischer Weltenschöpfer und -träumer entspringt dieser John Gabriel Borkman dem Richard-Wagner-Universum", schreibt Margarete Affenzeller in Der Standard (9.7.2015). Martin Schwab zeige ihn als "von Herzen egomanischen Visionär". Auf eine Ökonomie des Schreckens habe die Inszenierung allerdings vergessen, so Affenzeller: "Steil steigt das Ensemble in puncto Lautstärke, geifernde Gesten, körperliche Attacken ein, sodass sich der Zustand des zwischenmenschlichen Grauens schon weit vor der Pause abnützt."

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