Presseschau vom 3. August 2015 – Die FAS über die Droge Realismus und die Lage des Theaters

Finger weg vom Realismus!

Finger weg vom Realismus!

3. August 2015. Das "Theater als Institution" habe für viele "seine Selbstverständlichkeit verloren", schreibt Simon Strauss in seiner Bestandsaufnahme zur Lage des Theaters in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (2.8.2015). Dessen "Coolnessfaktor liegt weit hinter dem Galeriewochenende, einer 'Game of Thrones'-Session oder der Wagneroper." Allerdings sei Theater "nie ein Massenvergnügen" gewesen und "sein Status schon immer gefährdet. (...) Der Druck, unter dem das Theater heute durch konkurrierende Erzählmedien steht, ist also nicht neu. Aber die Chance, darauf wagemutig und radikal zu reagieren, war vielleicht nie so groß wie jetzt." Allerdings habe das Theater vielerorts nicht nur den "Gestus des Widerstandes" verloren und kämpfe mit der Tatsache, dass viele Zuschauer nicht mehr verstünden, warum sie sich "an feste Orte und Zeiten des Kulturkonsums" halten sollten.

Vor allem sei aber "auch das theatrale Spiel an sich" ein Problem: "Das 'So tun als ob'", das "ungeschickt Unrealistische des Vorgangs." Das Theater dürfe sich in Sachen Realismus nicht mit den Erzählweisen von Kino und TV zu messen versuchen, sondern müsse "begreifen, dass die Blicke ihrer Zuschauer, ihre ästhetischen und wirkungsprinzipiellen Bedürfnisse immer stärker an die 'Droge Realismus' gewöhnt sind." Und darauf mit einem Gegenprogramm reagieren – also nicht "die Bühne zum schlechten Imitator realistischen Erzählens machen", "die Filmsequenzen immer länger werden" lassen oder die Plots auf Boulevard hin geradebiegen, sondern sich radikal "zum Unrealistischen und Gegenweltlichen des Theaters" bekennen.

Es gehe um "Alteritätserfahrungen" und "direkte Augenblicklichkeit, die auf der Bühne anders, stärker wirkt als im Film oder in der Serie, weil man den Bildern beim Entstehen zuschauen kann. Weil sie offen bleiben, auch ganz anders möglich wären und im besten Falle direkt und unverblümt auf den Zuschauer losgehen". Es gebe "eine geheime, nicht genau zu entschlüsselnde Wahlverwandtschaft zwischen der Gleichzeitigkeit von Schauen und Spielen, die auf keinem Filmset der Welt, aber in jedem noch so kleinen Provinztheater zu Hause ist. Eine magische, wechselseitige Kraft, die sowohl die Erfahrung des Spielers als auch des Zuschauers grundsätzlich prägen und verändern kann." Meistens immer dann, "wenn ein Regisseur nicht auf Aktualisierung und Identifikation, sondern Illusion und Verstörung setzt, seinen Stoff widerspenstig, abwegig und unkontrolliert auf die Bühne bringt". Wenn das Theater die Wirklichkeit überdrehe, wenn es "mit offenem Visier an Texte herangeht, sie als Gegner oder Verbündete ernst nimmt, nicht wenn es am Gegenwärtigen kleben bleibt oder versucht, Vergangenheit durch richtige Betonung nachzustellen", wenn es sich zu "Unfertigkeit, Augenblicklichkeit und Abhängigkeit vom Zuschauer" bekenne, dann werde es "in einer immer rationaleren, realistischeren und vorhersehbaren Kulturwelt seinen besonderen Platz behalten."

(ape)

Kommentare  
Presseschau Realismus: im Gegenteil!
Das Gegenteil ist zu beobachten. Die Theater diskreditieren ohne Not ihr ureigenstes Mittel: Die Fabel. Dadurch treiben sie die Zuschauer aus den Häusern vor die Bildschirme. Die Beliebigkeit in den rein subjektiv assoziativen, sogenannten postdramatischen Inszenierungen verzwergen große Themen und verunmöglichen Schauspielkunst. Von uns Filmschaffenden bekommen sie dann genau dss, was sie im Theater vermissen: packende Geschichten, Identifikationsfiguren, Spannung. Das Ganze verpackt in schlüssige Bild- und Tonkonzepte.
Das alles könnte Theater auch. Sogar deutlich besser sls die zweidimensionale, konservierte Kunstform Film. Der Vorteil, dass die Geschichten im Theater live und unter Beobachtung entstehen, wird leichtfertig verschenkt. Binge - watching im Theater wäre doch mal was?!?
Stattdessen beraubt sich das Theater seiner Chancen zugunsten temporärer Theatermoden, die sich auch schon seit 30 Jahren enervierend wiederholen. Dass der privatistische Angang an große Themen und Geschichten erweiternd sein soll, erschließt sich gerade mal den Theaterschaffenden selber. So machen sie sich zu ihren eigenen Totengräbern. Gut für unser Gewerbe - schade um die deutsche Theaterlandschaft! PS. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.
Presseschau Realismus: Angebot ausbalanciert
Der Autor hat mit vielem Recht. Gerade auch mit seiner Kritik und Zuschauer-Nachwuchs-Panik. Sein Artikel ist eine sehr kluge und schöne (subjektive) Suche nach der zentralen Erregungs-Quelle von Theater. All seine genannten Lieblinge des Gegenwartstheaters sind bezaubernde (nachvollziehbare) Beispiele elitären Kunstgeschmacks. - Leider geht die Schlussfolgerung des Autors nicht logisch auf! Denn: Würden alle Theater ausschließlich 1 (extreme) ästhetische Norm anbieten, dann wären sie mindestens so mittelschlecht besucht, wie Strauss den Status Quo schildert, wenn nicht wahrscheinlich sogar noch viel schlechter. Viele Theater ballancieren ihr Angebot tatsächlich einfach aus. Aus wirtschaftlichen Gründen; das sind kulturelle bzw. kulturpolitische Phänomene. Und zwar aus mehreren Gründen.1.) Mit einer gefälligen Westsidestory schafft man die Basis der Akzeptanz, um ein avancierteres Projekt wagen zu können - mit vollem Risiko. Wenn die Westsidestory dabei noch klasse gemacht ist, geht die Rechnung auch künstlerisch auf. Dass dabei 2.) mehrere ästhetische Parteien von Steuerzahlen bedacht werden, ist dann ein demokratisches Angebotsverständnis von Theater, welches die einen gut finden und die anderen schlecht. - Dass man bei diesem ganzen subventionierten Spielplatz auch dauernd noch und unaufhörlich die eigene Identität und (Selbst-)Legitimation befragen kann und muss, ist ein wunderbarer Luxus einer entwicklungsorientierten Gesellschaft.
Presseschau Realismus: anderer Realismus-Begriff
Wenn man einen völlig anderen Realismus-Begriff hat als Strauss und das sichtbar "ungeschickt" gemacht - eben gespielte - Realistische als das Theatrale, also die Kunst an der Theaterkunst zu schätzen weiß, kann man diesen Beitrag von ihm doch ganz ausgezeichnet finden.
Presseschau Realismus: gegen Identifikation, für Illusion?
Da gibts aber schon n paar Widersprüche bei dem, was da gewollt wird... Gegen "Identifikation", aber für "Illusion"? Waren das in Bezug auf Theater bisher nicht eher Begriffe, die zusammengehörten?
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