Wie Nutten oder Taxifahrer

von Thomas Rothschild

17. September 2015. Es sind die Schauspielerinnen und Schauspieler, die im Theater buchstäblich im Rampenlicht stehen. Gleichwohl ist Theater ein Ergebnis kollektiver Arbeit, zu der die Schauspieler zusammen mit dem Regisseur einen zwar entscheidenden, aber keineswegs den alleinigen Teil beitragen – wenn auch Besprechungen gelegentlich diesen Eindruck erwecken mögen. Wie oft wird schon die Kunst der Beleuchter gewürdigt, wie oft das Handwerk der Kostümschneider? Wer könnte die Namen von Inspizienten oder von Maskenbildnern nennen, ohne die am Theater nichts läuft?

Zu den Berufsgruppen, die an größeren Häusern nicht fehlen dürfen, gehören die Theaterfotografen, die dokumentieren, was bei Proben und fertigen Inszenierungen zu sehen ist. Sie liefern das visuelle und ebenso unbefriedigende Gegenstück zur verbalen Beschreibung durch Rezensenten. Unbefriedigend sind sie beide, weil weder Worte noch starre Bilde wirklich reproduzieren können, was sich auf der Bühne ereignet. Sie bleiben stets nur Annäherungen.

Fotos kurz nach dem Auftritt

Margarita Broich war Theaterfotografin und Schauspielerin dazu, aber es führte in die Irre, katalogisierte man das schmale Bändchen, das jetzt in aparter Aufmachung erschienen ist, unter dem Stichwort "Theaterfotografie". Es handelt sich vielmehr um Schauspielerporträts, und da wiederum um eine Auswahl, die keine Repräsentativität für sich beanspruchen kann. Zwar sind auch einige der Stars des deutschen Theaters dabei, aber andere, viele andere fehlen. Kein Nachschlagewerk also, sondern ein Bilderalbum, ganz in der Tradition der ehrwürdigen Insel-Bücherei.

Cover Alles Theater BroichZur Kunst der Porträtfotografie gehört es, den richtigen Moment zu wählen. Margarita Broich hat Schauspielerinnen und Schauspieler unmittelbar nach ihrem Auftritt festgehalten, wenn sie nicht mehr spielen und doch spielen, wie jeder auch im Leben eine Rolle spielt, wenn sie also von der Theaterrolle zurückkehren in ihre Lebensrolle, nicht mehr ganz dort und noch nicht ganz hier. Sie bannt den magischen Moment der Rückverwandlung aus dem Als-Ob zur Wirklichkeit, nicht ad hoc, nicht aus dem Versteck, sondern arrangiert. Sie fotografiert die Menschensorte Schauspieler sitzend oder stehend, umrahmt von einer charakterisierenden Umgebung oder auch ohne Hintergrund, und einmal, ausnahmsweise, als Gruppe – diesmal doch spontan – nach Robert Wilsons "Dreigroschenoper" am Berliner Ensemble. Die schönste Komposition liefert ihr Corinna Harfouch im Weißclownkostüm vor einer abblätternden Tapete wie von Anna Viebrock und einem Karteischrank aus den fünfziger Jahren, darüber ein Foto von Heiner Müller. Einzelne, Michael Maertens zum Beispiel, posieren. Manche sind noch in Maske und Kostüm, andere haben sich bereits abgeschminkt.

"Auf der Bühne bin ich erlöst vom Script meines eigenen Lebens" (Sophie Rois)

Begleitet werden die Fotos von Aussagen der Abgebildeten zur Situation, in der sie ertappt wurden, oder über Gott, die Welt und vor allem über sich selbst, und Brigitte Landes hat sie in eine druckfähige Form gebracht hat, als handelte es sich nicht um authentische Äußerungen, sondern um literarische Dialogteile. Ihre Sprecher werden so, über den Text, wieder zu Rollenträgern. Dabei scheint Landes aber Duktus und Wortwahl der mündlichen Aussagen beibehalten zu haben. So darf Alexander Scheer es "geil" finden, wie "Castorf das Ding gebaut hat", und bekennen, dass er hinterher "komplett im Eimer" ist.

Bei Sophie Rois kommen Modewörter wie "durchsurfen" oder "grenzwertig" nicht vor. Sie sagt: "Auf der Bühne bin ich erlöst vom Skript meines eigenen Lebens." Was Angela Winkler in den Mund gelegt wird, ist pure Poesie und passt zu dem Bild, das man – nicht nur die Fotografin – sich von ihr macht: "Zuallerst bin ich doch ein Mensch und dann Schauspielerin. Und wenn ich auf der Bühne stehe, will ich vom Leben erzählen und tue es, glaube ich, auch."

Was die Schauspielerinnen und Schauspieler zu sagen haben, ist manchmal interessant, gelegentlich auch nur geschwätzig. Judith Engel, die neben ihrem Hund posiert und von sich mitteilt, dass sie gegen Eitelkeit allergisch sei, schafft es, in vier Zeilen fünf Mal "ich" zu sagen.

Otto Sander spricht genau drei Sätze: "Kellner, Nutten, Taxifahrer und Schauspieler. Alles dasselbe. Dienstleistendes Gewerbe." Und das Foto drückt genau dies aus.

Einer konnte nichts mehr sagen. Er war schon tot. Kollege Udo Samel hat für ihn gesprochen. Eine Huldigung an den großen Walter Schmidinger. Bei ihm vermisst man am schmerzlichsten, was weder Foto noch gedruckter Text, zum Glück aber CD und DVD aufbewahren können: die Stimme.

Angela Winkler und Martin Wuttke träumen von einem Theater ohne Zuschauer. Gewiss steckt dahinter auch ein Stück Koketterie, aber nicht nur. Von Samuel Finzi und Wolfram Koch gibt es keine Einzelporträts. Sie sitzen, sichtlich erschöpft, zusammen auf einer Bank hinter der Bühne. Eben noch waren sie Wladimir und Estragon. "Das Schönste ist, wenn es einem gelingt, sich zu verwandeln und doch man selbst zu bleiben", sagt Udo Samel.

 

Alles Theater. Fotografien.
von Margarita Broich. Texte: Brigitte Landes.
Insel Verlag, Berlin 2015, Insel-Bücherei Nr. 2016, 79 Seiten, 18 Euro

 

Mehr Buchbesprechungen auf nachtkritik.de gibt es hier.

 

mehr bücher