Kritikerleben mit Peymann. André Heller-Palimpsest I. Eine Elegie

von Nikolaus Merck

Berlin, 27. September 2015. Versteigerung im Berliner Ensemble, Peymann räumt den Fundus aus. "Zum vierten oder fünften Mal", sagt der Mann mit Zylinder, Frack und Lesebrille ("Ich kann das hier gar nicht lesen ...", - klopft die Taschen seines Fracks vergeblich ab - "Mann, jetzt habe ich keine Lesebrille", - an die Hilfstruppler hinter der Bühne gewandt: "Wo ist meine Brille ...?"). Bin ich hingegangen.

Obwohl die Berliner Zeitung maulte, Peymann verramsche deutsches Kulturerbe, wie er dazu komme, Brechts Modellbücher aus dem Archiv des Berliner Ensembles zu versteigern, wo doch das Brecht-Archiv zwar alle Modellbücher schon im Inventar, aber man wisse doch, sie unterschieden sich von Exemplar zu Exemplar und das sei doch und jedenfalls unerhört.

Der Matador ist mit 78 Jahren immer noch trés agil, wenn auch ein wenig betagt geworden. So richtig gut hört er nicht mehr (falls er je auf andere hörte), auch Zahlen und Namen waren ja nie so seins, außer Budgets und Abendeinnahmen könne er sie nie behalten. So wenig wie den Namen des Schauspielers Raphael Dwinger, der ihm beim Versteigern zur Hand geht.

Claus Peymann versteigert und Raphael Dwinger präsentiert ein Rapier aus Peter Steins "Wallenstein"-Inszenierung von 2007  © jnm

Peymann. Das ist mein Erwachsenenleben im Theater. Sozusagen. Seine Inszenierung von "Ritter Dene Voss" beim Theatertreffen1987 nahm die Scheu vor Thomas Bernhard, der Mann war ja komisch, wenigstens wenn Gert Voss als Wittgenstein die verhasst geliebten "Brand-teig-krapf-schhschhhsch-en" mampfte und in höchster Erregung über den Schwesterntisch ausspie (richtig los geht's ab Minute vier). Gelacht bis unterm Sessel. Die Jahresanfänge in Wien Mitte der 90er Jahre nach der Heirat mit der Lise, die Scherben der Silvesterfeiern klirrten unter Wiener Kehrbesen, der verschneite, leere 1. Bezirk und abends ins Burgtheater. Thomas Thieme auf riesigen Kissenthron auf der Vorbühne der Burg als Impressario von Smyrna, die Burgoperndiven um ihn herumflatternd, nach Rollen schnappend wie gierige Hundedamen, eine Selbstpersiflage von Graden, bei der Kritik durchgefallen, aber nie aus dem Gedächtnis verloren Thomas Thiemes heiser hoher Tenor, die Primadonnen abwehrend: "Hat Stimm' wie Katz! Hat Stimm' wie Katz'!" Eine Erholung nach den vielstündigen Berliner Castorf-Exzessen, abtrünnig geworden gleichsam von den eigenen Theater-Überzeugungen.

Da erscheinen sie wieder all die schwankenden Vergangenheiten, wenn Zirkus-Theaterdirektor Peymann die Kostüme aus großer Zeit versteigert. Das Jackett von Gert Voss' Ludwig Wittgenstein aus "Ritter Dene Voss", "ganz ohne Fettflecken", sagt der BE-Prinzipal, "wenn Sie wissen was ich meine ... Brandteigkrapfen, ja, auf sowas achtete der Gert", es geht weg für 430 Euro. Nur manchmal erlaubt sich der ewige Theaterdirektor dort vorne auf der Bühne solch performativ gesetzte Emotion, während er das Inventar seines Künstlerlebens ausräumt. Und der Berichterstatter erinnert jene denkwürdige Handke-Verstiegenheit "Zurüstungen für die Unsterblichkeit", wo ein überdimensionierter Tischfußball-Tisch von Achim Freyers Bühne stürzte und nur ein kühner Fluchtsprung zwei Zuschauer, 1. Reihe rechts, vorm plötzlichen Burgtheater-Tischfußball-Tod bewahrte und das versehentlich eingeschaltete Hinterbühnen-Mikro Gert Voss' Kommentar laut und vernehmlich in den Saal übertrug: "So ein Scheißstück!"

Fidel ging's zu beim Peymann, für Unterhaltung wusste der Theaterdirektor stets zu sorgen. Noch als er über den Berichterstatter ein einjähriges Pressekarten-Verbot verhängte wegen unbotmäßiger Verkrittelung einer Voraufführung der "Heiligen Meike Droste der Schlachthöfe" war das vor allem ein die Bedeutung des Schreibers überhöhender Witz.

Aber der größte Talmi-Zampano des Theaters ist er geblieben, wie er jetzt auf der Bühne die Parade der Toten als Räumungsverkauf zugunsten von Flüchtlingsinitiativen und -helfern inszeniert. Ein Goldlamékleid aus Thomas Langhoffs Inszenierung von George Taboris Goldberg-Variationen, Autor und Regisseur, sie leben längst nicht mehr. Ein Traum in rotem Tüll aus Einar Schleefs "Puntila"-Inszenierung, das Kostüm des Piccolomini von Peter Fitz aus Peter Steins Wallenstein, auch Schleef und Fitz sind tot. Als auch noch die Schäfchen auf der Bühne erschienen, die Walter Schmidinger einst so entzückend tremolierend im "Wintermärchen" von Bob Wilson über die Bühne trieb, gibt es für den Berichterstatter kein Bleiben mehr. So viele – zu viele Tote, die nur die Erinnerung aufbewahrt.

Der Samstagsnachmittagshimmel überm Hof des BE strahlt in Septembermilde, irgendein Lieber Gott schmeißt mit Schlagsahne Schäfchenwolken ins Blau. Soll Peymann doch alles ausräumen, Brechts und Weigels Zeug, die Überbleibsel der Wekwerths und Schalls, den Helm aus der "Mutter Courage" von 1949, die Joppe vom Voss, die Schäfchen des Schmidinger, die Kleider, die Masken, der ganze Kram – fort damit. Weg mit den Erinnerungen. Platz für ein neues Morgen.

"Vielleicht versteigern wir heute zum letzten Mal", sagt Peymann. "Aber wir sind ja noch anderthalb Jahre hier, vielleicht gibt es auch noch eine allerletzte Versteigerung, bei der versteigere ich mich dann selbst." Eine schöne Idee. Dann nehme ich mir beim nächsten Mal den Peymann mit nach Hause und stelle ihn in den Flur, da ruft er dann: "Kennt Ihr mich nicht? Ich bin der Peymann!" Die Wildschweine in Köpenick, heißt es, erstarren bei diesem Ruf und fliehen Garten und Brombeerhecken des wirklich größten Theaterdirektors seit Max Reinhardt.

 

Mehr dazu: am Montag den 28. September 2015 verschickt das Berliner Ensemble eine Presseaussendung. In der wird mitgeteilt, knapp 800 Besucher hätten an der fünften Versteigerung unter Leitung von Claus Peymann teilgenommen. Einnahmen von 17.505 € seien erzielt worden, mit denen die Vereine "Moabit hilft!" und "Freedomus" in der Flüchtlingshilfe unterstützt würden.

 

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