Murmel Murmel

von Christoph Fellmann

Zürich, 17. Oktober 2015. Eine Alte umarmt verzweifelt einen Alten, und der geht weg. Ein Mann fragt sich, warum eine Frau auf ihn zukommt. Ein anderer Mann kommt, bleibt stehen und blickt zu Boden. Dann ist es still. "Aber das bist ja du", sagt die Alte, und der Alte antwortet: "Ich bin hier. Ich war die ganze Zeit hier." Und das trifft ja auch ein bisschen zu auf Jon Fosse, den norwegischen Autor, dessen Texte ein paar Jahre lang auf allen Bühnen zu sehen waren, dann nicht mehr, und der jetzt doch zurück ist – nämlich mit der deutschsprachigen Erstaufführung von "Meer" am Zürcher Schauspielhaus. Im Mai 2014 wurde es in Bergen uraufgeführt, es soll sein letztes Theaterstück sein. Fosse schreibt heute lieber Prosa und Lyrik.

Ein Langgedicht von der Einsamkeit

Und auch "Meer" klingt wie ein Langgedicht. Wenn die Stücke von Jon Fosse schon immer die Sprache auf das Unausgesprochene eingekürzt haben, und wenn sie ihre Handlung aus dem Stillstand der Figuren entwickelten, so wirkt dieser letzte Bühnentext erst recht wie eine Klausur, in der Fosse seine Kunst konsequent aushungert. Da entschlüsselt sich keine Handlung, da deutet sich auch zwischen den abgebrochenen Zeilen und Stummelsätzen kein Drama mehr an. Da sind nur noch sechs Figuren, reduziert auf das, was sie verbindet oder einmal verbunden hat. Womöglich, denn sicher ist hier nichts. Die Frau, der Mann, die ältere Frau, der ältere Mann, der Kapitän und der Gitarrenspieler sind sich fremd, ja, aber vielleicht auch gerade darum, weil sie sich kennen. Oder weil sie einmal die ein- und dieselbe Person waren. "Meer" ist ein Langgedicht nach den Motiven der Verlassenheit, der Einsamkeit, der Sprachlosigkeit.

Meer 0265 560 Matthias Horn uMelancholie im Museum: Stefan Kurt und Henrike Johanna Jörissen vor Jan van Goyens "Flussmündung" © Matthias Horn

Und manchmal ist da auch nur ein existenzialistisches Grundraunen. Es gibt hier noch die eiskalt montierten Dialoge, in denen Fosse seine Meisterschaft beweist: Dann erklärt der ältere Mann seiner älteren Frau, dass sie zu einer anderen geworden ist: "Ein bisschen kenne ich dich noch." In anderen Passagen klingt der Text aber, als habe ein böser Mensch eine Parodie auf das Fosse'sche Unbehaustheitsdrama verfasst. "Das Meer ist einfach etwas, das ist", heißt es dann. "Hier ist doch einfach nur nichts." Jedoch: "So ist doch auch das Meer." Exakt, denn so ein "Meer" ist ja immer auch eine patente Metapher.

In der Gruft für spätmelancholische Bildungsbürger

Gegen den hohen Ton und den Bedeutungsschwurbel ankommen könnte wohl nur, wer auf die Inszenierung dieses Textes verzichtet. Das hat die Intendantin Barbara Frey nicht getan, und konsequenterweise lässt sie nun dagegen auch nicht anspielen. Im Gegenteil, sie verortet das Meer in einem Kunstmuseum, in dem an jeder einzelnen Wand die "Flussmündung" von Jan van Goyen hängt. Dazu spielen "Lieder ohne Worte" von Felix Mendelssohn Bartholdy, und fertig ist die Gruft für spätmelancholische Bildungsbürger, denen das Leben zwischen die Zeilen gerutscht ist.

Hier zeigt Frey den Text bei schwachem Licht als leise, stimmige Séance. Die Figuren erscheinen wie verlebte Geister, um sich selbst zu begegnen, ihren Versionen und ihren Vorstellungen, die sie über sich und die anderen kultivieren. "Ich bin der Gitarrenspieler", sagt der Luftgitarrenspieler und stellt sich vor, wie er ein Solo spielt. Und die junge Frau stellt sich vor, wie sie es hört und schön findet. Und wir stellen uns vor, dass sie wirklich etwas hört, schließlich befinden wir uns ja auf offenem Meer, pardon: im Theater.

Mit passendem Goldrahmen

Die reduktionistische, um nicht zu sagen: kitschige Betulichkeit, mit der hier ungefähr über Identität nachgedacht wird, hängt also im passenden Goldrahmen. Da und dort verstärkt Barbara Frey den Effekt noch, etwa, indem sie bestimmte Spielerinnen und Spieler sich in besonders bedeutsamen Momenten synchron bewegen lässt.

Doch wird der Text bei Gelegenheit auch schon mal mit leiser Ironie kredenzt, etwa in der angedeutet komödiantischen Note, mit der Stefan Kurt und Jirka Zett ihren Kapitän und Gitarrenspieler behaupten; oder in einer Szene, da die Spielerinnen und Spieler chorisch choreografiert das Museum abschreiten, die Zeilen ehrfurchtsvoll vermurmelnd. So resultiert ein so sorgfältiger wie zwiespältiger Theaterabend, der es immer wieder schafft, den schwierigen Text zum Leuchten zu bringen. Nur, um schon über die nächste bedeutungsschwere Zeile mit dem Leuchtstift drüber zu fahren.

 

Meer
von Jon Fosse
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Barbara Frey, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Bettina Walter, Licht: Rainer Küng, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Stefan Kurt, Jirka Zett, Henrike Johanna Jörissen, Hans Kremer, Susanne-Marie Wrage, Claudius Körber.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Zum zweiten Mal nach "Winter" vor neun Jahren am Theater Basel tanze Barbara Frey in "Meer" mit Jon Fosse "den stillen, sparsamen Sprach-Tango", so Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (19.10.2015). "Und die Intendantin des Zürcher Schauspielhauses tanzt ihn virtuos." Frey führe ihre Schauspieler "mit dem Rhythmusgefühl einer feinsinnigen Musikerin in einen Sitz-, Steh-, Liege- und Schwebetanz erster Güte. Das Schwere wird leicht, die Melancholie zeigt ihre komischen Seiten, das Schmerzliche schmerzt."

Dass der Abend keine Soiree zwischen matt und ermattend sei, liege "an der Regie, die keine Angst vor einem krass symbolistischen und dennoch Pathos-allergischen Zugriff hat", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (19.10.2015). "Sie akzentuiert mit Klaviermusik von Mendelssohn Bartholdy, mit dem Bühnenbild und, nicht zuletzt, dem sprechenden Körpertheater des tollen Ensembles". Die Frage, wieso das Theater heute solche Meditationen erzählen sollte, rücke in den Hintergrund, "wenn da auf wunderbar reduzierte Weise viel geschieht, was wie ein künstlerisch aufbereitetes Echo unserer Seufzer aus der Jugend klingt".

"Meer" markiere in Fosses Dramenkomplex keine ästhetische Wende, findet Stephan Reuter in der Basler Zeitung (19.10.2015): "Es ist Variation, keine Innovation." Barbara Frey besitze das psychologische Feingefühl für ein Traumspiel Marke Fosse. "Ihre Inszenierung hält die Spannung über die (70 Minuten kurze) Distanz. Ihr Ensemble spielt sparsam, aber hoch konzentriert, mit und ohne Worte."

Martin Halter von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.10.2015) nennt Jon Fosse den "Kapitän der Millenniumsmetaphysik“ und bespricht "Meer" als "letztes dramatisches Wort, eine Art Vermächtnis, manchmal auch fast eine Selbstparodie". Noch einmal lasse Fosse "all seine namenlosen Archetypen, Sprechweisen, Pausen- und Schweigeformen, die man auch in Zürich ziemlich gut kennt, zu Wasser und sanft aufs Meer hinaustreiben." Ganz geheuer ist dem Kritiker das Stück nicht: "Schwer zu entscheiden, ob das religiöse Mystik, unsagbar tiefer nordischer Existentialismus oder unsäglicher Grübelmonsterkitsch ist." Barbara Feys reduzierter Fosse-Abend sei "halb" gelungen; nicht jeder Akteur auf der Bühne zeige sich "reif für den Kunstgottesdienst".

 

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