Vom Verspüren eines sympathischen Aktivierungsschubes

von Tobias Krone

München, 1. November 2015. Am Münchner Hauptbahnhof ist derzeit wenig los. Kaum Geflüchtete, die hier ankommen. Die freiwilligen AnkunftshelferInnen schöpfen Luft, das Kulturpublikum ebenfalls. Nach dem Open Border Kongress in den Kammerspielen und dem großen Dankes- und Willkommens-Open-Air mit Herbert Grönemeyer auf dem Königsplatz gönnt die beseelte Stadt sich und den Geflüchteten etwas Ruhe.

Und auch das Art In Resistance-Wochenende des Spielart-Festivals am vergangenen Wochenende im Müncher Kulturzentrum Gasteig trägt zur Erdung bei. Es soll ja auf der Welt noch andere Konflikte geben als die abrupte Selbstoffenbarung einer Einwanderungsgesellschaft am Grunde einer heiß gelaufenen Debatte. Aber wie steht es um die Kunst – und ihre Beziehung zum politischen Widerstand? Aus 800 Einsendungen haben Sophie Becker, Tilmann Broszat und Gottfried Hattinger eine Ausstellung und ein Programm an Performances organisiert – es ist eine umfangreiche Schau zum politischen Potential von Kunst geworden.

Grenzziehung mit dem Lineal

Wer über Syrien redet, redet dieser Tage von "den Flüchtlingen" – und damit von uns. Das Wenige, das sich auf dem Performance-Festival mit den Konflikten im Nahen Osten beschäftigt, erscheint umso klüger ausgewählt, da es nicht momentane Hysterien reflektiert, sondern den Blick in die Weite öffnet: So erklärt der Libanese Rani Al Rajji während der partizipativen Performance "Once upon a sweet Levantine Evening" (gemeinsam mit den deutschen Künstlerinnen Franziska Pierwoss und Sandra Teitge) dem Publikum an einer Festtafel, wie englische und französische Diplomaten das südliche ottomanische Reich 1916 unter sich aufteilten: Sykes und Picot, zwei westliche Diplomaten, malten damals mit dem Lineal Grenzlinien in den Sand, die bis heute für das blutige Chaos verantwortlich gemacht werden. Während dieser partizipativen Lehrstunde wird Griespudding mit dickem, süßem Sirup gereicht, dann Marmorkuchen – und schließlich Punsch Imperial.

Mit dezenten Gesten untermalt Al Rajjis Ensemble die Erzählung des 20. Jahrhunderts zwischen Beirut und Bagdad: Kur vor Schluss etwa – Al Rajji ist in der Gegenwart angelangt – müssen seine beiden Partnerinnen Franziska Pierwoss und Sandra Teitge die Dessertrunde verlassen: ein Verweis auf die gegenwärtige Radikalisierung, verkörpert durch den IS. Trotz dieser leicht lakonischen Zwischentöne herrscht die authentische Freundlichkeit des generösen Gastmahls vor. Es scheint, als wolle das Ensemble die Chance der Münchner Willkommens-Haltung dazu nutzen, mit dem Publikum nun einmal auf einer Ebene über Kolonialismus und Verantwortung zu diskutieren. Ein stimmigeres politisches Timing hätte man ihm dazu nicht wünschen können.

Identitätspolitik von CIA bezahlt

Bis heute mag es schon als Widerstand erscheinen, wenn nicht-weiße Subjekte, also die Nachfahren der ehemals Kolonisierten, überhaupt das Wort ergreifen. Der Kenianer Ogutu Muraya beginnt also seine engagierte Performance "Nobody Knows my Name" ohne Worte. Murayas monologische Erzählung wird über filmische Bilder, projizierte oder zuvor eingesprochene Texte ins Rollen gebracht. Ogutu Muraya 280 www afrovibes nlOgutu Muraya  © www.afrovibes.nlCollagen in der Tradition des Surrealismus führen den Erzähler nach Paris, der weißen Kulturmetropole schlechthin, wo 1956 an der Sorbonne-Universität der erste internationale Kongress schwarzer Intellektueller stattfand. Bilder von Augen, von Quallen und von Schnecken drängen sich in den Kongressbericht, Spannung entsteht. Erst zum Schluss ergreift Muraya selbst das Wort und verrät die Pointe der Geschichte, die ihn während seines Politikstudiums nicht mehr losließ: Der erste internationale Kongress schwarzer Intellektueller 1956 an der Sorbonne war unterwandert von der CIA, um kommunistische Aufwallungen zu unterdrücken: "Nobody Knows my Name" ist der stille Aufschrei eines Nachfahren, seine Performance voller Klarheit und eindringlicher Rhythmik.

Expedition in die Krise

Sowohl Ruhe als auch Dialogizität ließ der deutsch-griechische Krisendisput der vergangenen Monate ja vermissen. (Wir erinnern uns.) Die Arroganz der deutschen Politik auf der einen Seite, das wilde Krisengestammel der Gebeutelten auf der anderen schufen eine Kakophonie, die einen Austausch an Argumenten unmöglich machte. In diesem Krieg der Ignoranz bedarf es eines Kommunikationskanals.

Die Performance-Band Maiden Monsters aus Berlin nahm sich dieser Aufgabe an – die drei Theaterfrauen Tanja Krone, Wanja Saatkamp und Doris Kleemeyer reisten in einem Kleinbus durch Griechenland, führten Interviews mit Passanten, Aktivisten und Medienmachern und nahmen lokale MusikerInnen auf. Alles zusammen betteten sie ein in einen treibenden Beat, dem "Sound of Crisis". Sprecherin Tanja Krone deklamiert, ja, rappt die Monologe der Ohnmacht über die Sounds, und ordnet damit das Gestammel zu einer Art Sinfonie der Klagen an. Auch die bunte Trachten-Kostümierung der drei lässt sich als Sampling der folkloristischen Bezüge ihrer Reise-Ziele verstehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Hintergrund läuft der Film von der Griechenlandfahrt – Bilder des Krisenlands, Bilder seiner Notkliniken, seiner Notfernsehsender. Allein das Überleben in diesen uneuropäischen Umständen ist Widerstand. Kunst kann sich ihm stellen, aufnehmen, recyclen und das Ganze dann als Disko abfeuern. Das kommt lässig. Und in der vermeintlichen Passivität der drei Matroschken bringt es einen subversiven Charme zutage.

Unterm akustischen Presslufthammer

Im Gegensatz dazu die Brachial-Film-Performance der (männlichen) Klang- und Videokünstler The Erasers and DEAD CLASS aus Athen und Berlin: "Uropa/A Road to Knowhere" ist eine Reise durch die europäische Nacht in einem alten BMW Dreier: Athen – Rom – Paris – Berlin zu laut wummerndem Industrial Techno. Nachdem sie sich mit Red Bull vollgedröhnt haben, steigen zwei Männer (Giorgos Kakanakis, Chistos Passalis) immer wieder aufs Neue in den Wagen, um textliche, von Filmprojektionen unterstützte Assoziations-Touren durch die europäischen Metropolen zu drehen.

Es sind vom Verfremdungs-Großmeister David Lynch inspirierte Streifzüge in Stroboskop-Kälte durch die Widerstands-Historie Europas: In Rom wird den Brigate Rosse, der italienischen RAF, in Paris dem Mai 68, in Berlin Benno Ohnesorg gedacht, am Ende dann das Auto auf der Bühne mit einem Hammer malträtiert. Die Stunde unter dem akustischen Presslufthammer lässt eine Leere zurück – etwas unmotiviert flattern immer wieder europäische Werte durch den Raum, die – klar – in Berlin schließlich alle symbolisch beerdigt werden. "Beware of Meaning" – dieser ab und an eingeblendeten Mahnung muss man schon sehr beflissentlich Folge leisten, um die Anhäufung von ziemlich hohlen Phrasen mal eben wegzuzwinkern.

MOTUS Caliban Cannibal 6 c Valeria Tomasulo scaled"Caliban Cannibal"  © Valeria Tomasulo  

Angst und Melancholie

Doch wo wollen KünstlerInnen explizit Aktivisten sein, oder, um im Modejargon zu bleiben,"Artivist"? Wie zu vermuten, erlebt der Artivist seine Hochkonjunktur derzeit in den Ländern des arabischen Frühlings. Dass der Artivismus auch als eine Art Sackgasse erlebt werden kann, bezeugt der tunesische Berber Mohamed Ali Ltaif in einer Außenstelle des Festivalwochenendes, an der Schwere-Reiter-Straße. Zusammen mit der italienischen Performerin Silvia Calderoni begibt sich der bildende Künstler bei der Performance "Caliban Cannibal" in ein Notunterbringungs-Zelt.

Caliban, so heißt der vermeintliche wilde Sklave in Shakespeares "Sturm", Ltaif ist hier der vermeintliche Artivist. Im Zelt, nach Außen per Video übertragen, stellen die beiden sich existentiellen Fragen. Ltaif macht keinen Hehl aus der Sehnsucht nach einer Kunst "weit weg von der Politik". Doch die Revolution und ihre Folgen erlauben kein abseits bleiben. Ein intensiver, zärtlicher Film entsteht, der den Austausch dokumentiert – Calderonis Angst vor der Freiheit begegnet Ltaifs Melancholie ob einer postrevolutionären Realität, die seiner Kunstvorstellung die Luft raubt.

The Vacuum Cleaner Mental 1 c Sophie NathanPsychose und Widerstand? Oder: heut bleib ich im Bett. The Vacuum Cleaner: "Mental" 
© Sophie Nathan

Unter einer Decke stecken

Wie steht es in Westeuropa um den Artivismus? Ein britischer Künstler namens James Leadbitter alias "the vacuum cleaner" erzählt von seinem eigenen Beispiel in der Im-Bett-Performance Mental, die das Spielart-Team in einer Privat-Wohnung im Bahnhofsviertel organisiert. Der lange Zeit stark suizidgefährdete Brite erfährt als Jugendlicher, dass er sich immer nur dann fühlen kann, wenn er sich in handfesten Aktionen politischen Widerstands betätigt. Doch die britische Justiz und die Inlandsgeheimdienste observieren ihn sogar, wenn er sich lediglich in linken Gartenprojekten engagiert, das raubt ihm zusehends die Lebensenergie.

Das Stündchen mit Leadbitter und etwa 15 ZuschauerInnen unter einer Decke gerät intim, aber weit weniger fesselnd als erwartet: Klarsichtfolie für Klarsichtfolie verliest er zu heroischem Philadelphia-Funk vom Plattenspieler seine Diagnosen – und die Geheimdienstdokumente, die er über sich gesammelt hat, die tatsächlich einigermaßen beunruhigen. Die Geschichte endet mit einer Klinik der Kunst, die Leadbitter zur erfolgreichen Überwindung seiner Persönlichkeitsstörung eröffnete. Kunst als Widerstand gegen eine repressive Psychiatrie, wo der politische Widerstand immer wieder aufs Neue unterminiert wird. Ein Phänomen ist the vacuum cleaner auf jeden Fall – auch wenn in Mental die reale Paranoia des Überwachungsstaats vom Narzissmus des Künstlers stark relativiert wird.

"Großtransaktionen, tun sich nicht richtig lohnen"

Beim Sprechen über Artivismus darf man von der Letztkonsequenz nicht schweigen: der Weltrevolution. 1976 mussten der österreichische Autor Heinz R. Unger und die Rock-Band Schmetterlinge diese direkt vor Augen gehabt haben, als sie ihre umfangreiche Pop-Oper "Proletenpassion" während der Wiener Festwochen uraufführten.

Das Stück erzählt die Geschichte der Klassenkämpfe aus der Perspektive von unten. Nun hat die Regisseurin Christine Eder gemeinsam mit der feministischen Songwriterin Gustav aus Wien und dem Hamburger Musiker Knarf Rellöm versucht, das Heldenepos für die nächste Generation flottzumachen: Proletenpassion 2015 ff. heißt die Show in der bis zur Decke mit Demotransparenten tapezierten Muffathalle. Die Songs entstaubten sie, kleideten sie in Elektro- und R'n'B-Gewänder.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gustav singt die brechtsch vor sich hin holpernde Lyrik mit großer Emphase: Da steckt jede Menge unironisches Pathos drin – und eine unwiderstehliche Power, die hier sowohl Band als auch die DarstellerInnen Claudia Kottal, Tim Breyvogel und Bernhard Dechant aufs Bühnenparkett bringen. Aber aktualisieren lassen sich die Liedtexte, mit ihrer Schlachtformations-Poesie und den onkeligen Pointen beim besten Willen nicht. Das Kollektiv fügt auch noch weitere Monologe hinzu: Allen Ernstes verliest der Musiker Knarf Rellöm bar jeglicher Sprechtechnik die minutenlange Analyse des Faschismus des bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitrov, nicht ohne am Ende zeigefinger-erhoben zu vermerken: "Dieser Text wurde 1935 geschrieben."  Sowas wirkt furchtbar altklug und lässt allenfalls die GenossInnen der marxistischen Abendschule im Publikum zustimmend mit dem Gebiss klappern. Energetisch war's ein dufter Abend, aber Revolution macht man so nicht.

Die performative Intervention "Institut für Widerstand im Postfordismus" versucht es anders. Intellektueller und zeitgemäßer. In einem zeltartigen Isolations-Bereich werden Besucher einzeln über Videocollage und theoretische Texte mit dem Geist der nahenden Revolution (prognostiziert von den mitwirkenden WissenschaftlerInnen bis 2030) infiziert und anschließend mit einem pseudo-therapeutischen Gespräch konfrontiert: Wie hoch ist mein Widerstandspotenzial? Warum setze ich es nicht ein? Wo werde ich es einsetzen?  Zwar ist diese Anrufung des revolutionären Subjekts ein Widerspruch in sich, aber einen sympathischen Aktivierungsschub verspürt man beim Verlassen des Widerstands-Instituts dann tatsächlich.

 

Spielart Festival
vom 23. Oktober bis 7. November 2015 in München. Das Spielart Festival präsentiert seit 1995 im Zwei-Jahrestakt neue Strömungen der internationalen Theaterwelt.
Eine Festivalübersicht mit Links zu zahlreichen Nachtkritiken gibt es hier.

www.spielart.org

 

Kritikenrundschau

Das Spielart-Festival, schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (5.11.2015) habe in München, wo es "keine freie Produktions- und Spielstätte à la Kampnagel in Hamburg oder HAU in Berlin gibt", stets eine "Entdecker-, Vermittler- und auch Wegbereiterfunktion übernommen." Mit Matthias Lilienthals neuen Kammerspielen und ihrem "Hybridtheater aus Repertoire und freier Szene" bekomme Spielart allerdings "ein Problem". Das Festival laufe Gefahr, "sein Alleinstellungsmerkmal zu verlieren." Und was tue es "gegen diese drohende Profilschwammigkeit? (...) es ergießt sich in üppigste Kleinteiligkeit." Statt wenige "große, bedeutende Inszenierungen von überregionaler Strahlkraft einzuladen", suchten die Festivalmacher "ihr Glück im Überangebot dessen, was sie 'transnationale Vielstimmigkeit' nennen. Heißt im Klartext: Und hier, aus diesem Winkel der Welt, hätten wir auch noch was Interessantes." Das gelte besonders für das Festival-im-Festival "Art in Resistance", das "an beflissener Überladenheit, an der Fülle seines politischen Wohlmeinens" und "an Unentschiedenheit" gelitten habe. Die "Fülle an globalem Krisenherdmaterial ist so beeindruckend wie erschlagend." Es seien am Ende "die theatralisch verspielten, ästhetisch oder poetisch überhöhten Produktionen, die den größten Eindruck hinterlassen, nämlich den von Kunst." Dazu zählt für Dössel vor allem "Archive" von Arkadi Zaides und das "Roadmovie-Projekt 'Transit Monumental'", das "neben Witz auch inszenatorische Verve" habe. Die 50 Einzelbeispiele von "Art in Resistance" ergäben eine "Puzzlearbeit" kein "großes Protestgemälde". Fazit: Das Festival Spielart sei gut beraten, "sich wieder mehr mit dem Wald statt mit den Büscheln und Bäumen darin zu beschäftigen."

 

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