Vom prallen Menschenleben

von Janis El-Bira

Berlin, 5. November 2015. Inklusion ernst zu nehmen hieße eigentlich, diesen Begriff streichen, sich seiner guten Gewissens entledigen zu können. Dann müsste man nicht eigens anführen, dass das alle zwei Jahre in Berlin stattfindende "No Limits"-Festival eine Veranstaltung ist, die inklusive Theaterformen zeigt, und könnte dürfte unerklärt lassen, dass dabei Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam auf der Bühne stehen sollen.

Assoziationsräume

Doch natürlich ist das (noch) nicht ganz so einfach. Deshalb tut "No Limits" sehr klug daran, sich zwar explizit der Inklusion zu verschreiben, aber zugleich darauf zu bestehen, ein "ganz normales" Theaterfestival zu sein: Inklusion bedeutet auch, dass die so mit "Eingeschlossenen" nicht immer einen Sonderstatus brauchen.

DieAuserwaehlten de utvalgte de utvalgte 2 foto ann iren debyTraumverlorene Theaterstunde: "Die Auserwählten"  © Ann Iren Ødeby

Schön veranschaulichte das beim gestrigen Eröffnungsabend in den Häusern des Hebbel am Ufer schon die im Foyer des HAU2 ausgestellte Videoreihe "The Democratic Set" des australischen Back to Back Theatre: Wie an einem endlosen Band ziehen da meist identische Holzcontainer durchs Bild, bevölkert vom prallen Menschenleben in allen erdenklichen Daseinsformen und Entwürfen. Der Titel ist Programm und alle Wertung außen vor.

Weniger optimistisch war hingegen eine parallele Performance der Künstlerin Noemi Lakmaier, die sich, selbst körperbehindert, von einem nicht-behinderten Mann immer wieder vollständig aus- und anziehen ließ, wobei sie völlig reglos blieb. Der entstehende Assoziationsraum im klinisch weißen Verschlag war bemerkenswert groß: Man dachte unweigerlich an den Machterhalt im Wohlmeinenden, während dem "behinderten" Körper auf minutiös einstudierte Art in die immer gleichen Kleider "geholfen" wurde.

Unerschütterliche Pathosgläubigkeit

Zur Primetime wurde die Bühne des HAU2 vom norwegischen Kollektiv "De Utvalgte" und deren gleichnamiger Produktion aus dem Jahr 2012 übernommen. Ungewöhnliche Dreingabe an jedem Sitz waren 3D-Brillen, die an der Bühnenrückwand den räumlichen Blick auf sich drehende Erdkugeln, die Arche Noah, kauzige Wissenschaftler in einem Planetarium und nicht zuletzt auch die Übertitel ermöglichte. Letztere übersetzten großenteils die von den Schauspielern zitierten und interpretierten Passagen aus Inger Christensens Langgedicht "Alphabet", einer Hymne auf die Polyphonie des Lebens auf Erden. "De Utvalgte" ist eine schöne, rätselhaft-traumverlorene Theaterstunde, in deren Mitte die durchaus heitere Feier aller Normabweichung wohnt: Das dreifach vorhandene 21. Chromosom der meisten der Schauspieler im Ensemble dürfte in diesem Sinne ganz selbstverständlich unter all jene Dinge zu zählen sein, von denen Christensens Dichtung bloß konstatiert, dass es "sie gibt".

Um kurz nach zehn bat man dann noch ins HAU1, wo der Blick von der Bühne in den aller Stuhlreihen entkleideten, in schweigendes Dunkel gehüllten Zuschauerraum ging. Es galt, einen weiteren jener Edelhengste zu bewundern, die von der belgischen Performance-Szene in unerschütterlicher Pathosgläubigkeit an die europäischen Futtertröge geführt werden. "Horse: an opera" heißt die Arbeit des Kollektivs Tibaldus en andere hoeren und überlebensgroß steht der titelgebende Gaul wie ein Menetekel aus Pappkartons in der Ecke. Die 70 sagenhaft bleiernen Minuten dieser Kunstanstrengung verheißen, das Verhältnis von Mensch und Pferd zwischen Troja und Fury performativ von hinten aufzusatteln.

UndressRedress 560 ManuelVason uObjekt der Wohlmeinenden: Markus Heinicke und Noemi Lakmaier in "Undress Redress"
© Manuel Vason

Subtilität der Lebkuchenherzen

Dabei greift man gerne und viel in die Zwischenablage: Eine lange Essenstafel und die einengende Rückwand des HAU-Parketts erinnern an Bühnenräume von Johannes Schütz, ziemlich Marthaler-esk wird mehrstimmig Wagner gesungen und ein tolles menschliches Sonnensystem zu Beginn kopiert doch allzu exakt die durchaus berühmte Eröffnungsszene von Béla Tarrs Film Die Werckmeisterschen Harmonien. Der exzessive "copy & paste"-Einsatz potenziert sich dazu mit jenen ewiggleichen Performance-Motiven, die längst zur symbolischen Subtilität eines Lebkuchenherzens herabgesunken sind. Jedenfalls lassen sich auch hier die Minuten zählen, bis wieder eine nackte Frau zu einer dieser unentschuldbar langweiligen Ritualwaschungen antritt oder ein griechisch-tragisch erblindeter Bartträger mit verbundenen Augen über die Bühne kullert.

Dabei hätte es eigentlich Anlass zum Staunen gegeben: Die Raumbeherrschung der Tibaldus-Leute ist verblüffend und der holzvertäfelte Zuschauersaal des HAU1 im Voll- und Halbdunkel ein wahnsinnig erhabener alter Theaterdrachen. So aber blieb der Eindruck einer glitzernden Christbaumkugel: Schön, aber komplett hohl. Dass indes auch bei dieser Produktion Menschen mit Behinderung mitwirken, übernimmt noch einmal die Ambition von "No Limits", ein "ganz normales" Theaterfestival zu sein: Sie sind einfach nur dabei.

 

NO LIMITS - Internationales Theaterfestival
Berin, 05. - 15.11. 2015

www.no-limits-festival.de

The Democratic Set
Video Retrospective
von Back To Back Theatre

www.backtobacktheatre.com

Undress / Re-Dress
von Noemi Lakmaier
Mit: Noemi Lakmaier und Markus Heinicke

www.noemilakmaier.co.uk

De Utvalgte (Die Auserwählten)
von De Utvalgte
Text: Inger Christensen / Ensemble, Regie: Kari Holtan, Video, Film: Boya Bøckman, Dramaturgie: Anne Holtan, Kostüme: Gjøril Bjercke Sæther.
Mit: Pelle Ask, Egil Berggren, Torbjørn Davidsen, Rebekka Joki, Bjarne Larsen, Vilja Larsen, Ramou Lewis, Inger Johanne Norberg, Katarina Fierro Norberg, Ann Iren Ødeby, Gjøril Bjercke Sæther, Jon Platou Selvig, Lotte Tvedt, Bror Wyller.
Dauer: 70 Minuten, keine Pause

www.deutvalgte.no

Horse: an opera
von Tibaldus en andere hoeren
Bühnenbild: Simon Van den Abeele, Foto, Film & Layout: Pieter Dumoulin, Musikkonzept: Lieven Gouwy.
Mit: Loes Carrette, Timeau De Keyser, Lieselotte De Keyzer, Sander De Winne, Simon De Winne, Pieter Dumoulin, Jan Goris, Peter Janssens, Luc Loots, Hans Mortelmans, Max Pairon, Diede Roosens, Anemone Valcke, Lucas Van den Abeele, Simon Van den Abeele, Oscar Willems, Dounia Mahammed
Dauer: 70 Minuten, keine Pause

www.tibaldus.be

 

Kommentare  
No Limits-Festival, Berlin: Stadelmaier-Nachfolger
Bitte einmal einen Preis für einen Kritikersatz, der einen ganzen Zeitabschnitt der kritischen Betrachtung in sich zusammenrafft: "...potenziert sich dazu mit jenen ewiggleichen Performance-Motiven, die längst zur sympolischen Subtilität eines Lebkuchenherzens herabgesunken sind." Man möchte Stadelmaier aus der Rente zurückgekehrt vermuten - aber die Nachfolger können das offenbar auch schon ganz gut!
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