Vom Monolithen, von neuen Anläufen und Versuchen

von Michael Stadler

München, 7. November 2015. Nachdem die Vergangenheit und die Gegenwart ausgiebig performativ bearbeitet wurden, wirft Spielart am Ende der diesjährigen Theaterlieferung verstärkt einen Blick in die Zukunft. Was eine schöne Idee ist, schließlich wird man als Festivalzuschauer nach 16 programmsatten Tagen in eine Welt entlassen, in denen alle möglichen Krisen auf Lösungen warten. Man wünscht sich neue Konzepte und Perspektiven, vielleicht kann man diese ja spielerisch ausloten.

Zurückhauen

Liest man den Pressetext zur abschließenden Performance "The Empire Strikes Back: Kingdom of the Synthetic", klingt das tatsächlich erstmal so, als ob sich jemand ernsthaft mit dem zukünftigen Status quo beschäftigt hat: "Was wird in 10, in 100 und in 1000 Jahren vom Begriff der Rasse und der Wissenschaft des Unterschieds bleiben?", steht da geschrieben.

In der Muffathalle sieht man keilförmige bis geschwungene Formen, pyramidenförmige Strukturen mit stufenförmigem Profil, die an Erich von Däniken und seine außerirdischen Lebensformen denken lassen. Tatsächlich treten Wesen wie von einem anderen Stern auf, äußern sich zunächst im fremdartigen Rückwärtssprech. Die Reise, die der israelische Performer Ariel Efraim Ashbel mit seiner recht großen Truppe dann unternimmt, führt aber eher zurück in die Vergangenheit der Wissenschaft und Popkultur, sie nehmen sich jener Zukunftsvisionen an, die schon andere vor ihnen hatten. Stanley Kubrick etwa, aus dessen prophetischem Epos "2001" sie gar die berühmte Begegnung der Affen mit dem Monolithen nachspielen.

Ariel Efraim Ashbel Empire strikes back 4 R 560 DorotheaTuch"The Empire strikes back"  © Dorothea Tuch

Es wird getrommelt und es wird archaisch, die digitale Postmoderne ist Lichtjahre entfernt, wenn ein Mann im Gorillakostüm auftaucht oder eine vollbusige Matrone, die sich wie eine ägyptische Version von Mutter Erde verehren lässt, um sich dann ungelenk von ihrem Thron plumpsen zu lassen, ihr breiter Hintern dem Publikum zugewandt.
Keine Scheu vor Lächerlichkeit - wer sich daran macht, die Zukunft zu imaginieren, macht sich selbst zum Affen, will einem diese Performance offenbar mitteilen und versenkt sich selbst in Witzeleien, die nicht gerade weit ins All möglicher Visionen führen.

Angst im Büro

Erschlagen konnte man sein von dem Programm des diesjährigen Festivals, über 200 Veranstaltungen fanden laut Pressemitteilung statt, 420 Künstler aus 52 Ländern waren dabei. "It is too much. I can’t have it anymore" meint ein Putzroboter auf der Bühne des Carl-Orff-Saals und man kann mit dem Burn-out-bedrohten Automaten mitfühlen. Auch er gehört zum Science-Fiction-Finale des Festivals: "Sculpting Fear" von Julian Hetzel aus Utrecht nimmt sich einer Gegenwart an, in der die Maschinen jede (Denk-)Arbeit übernommen haben und der Mensch sich obsolet gemacht hat.

Julian Hetzel 4 560 Sculpting Fear 2Sculpting Fear  © Spielart

Drei Bürostühle reichen aus als Requisiten der öden Jobwelt, drei Performer schieben sie und sich herum, schieben eine ruhige Kugel, bis sie aus den Stühlen kippen, tot, weil zu nichts mehr nützlich.
Eine Reinigungskraft im roten Schutzanzug entsorgt die von Lethargie vergifteten Subjekte, die Putzroboter, die wie übergroße Eishockey-Pucks über den Boden gleiten, unterhalten sich, eben über ihre Erschöpfung, und die Bürohengste erwachen wieder zum Leben und reißen am Ende den Boden auf. Eine Unterfläche aus Styropor kommt zum Vorschein, aus denen die Büromatadoren ein letztes Biotop errichten, während Styroporkügelchen, angepustet durch Ventilatoren, wie Schnee über den Boden fegen. Einen Sturm der Existenzangst will Julian Hetzel auf der Bühne entfachen. Die Körper der Performer erzählen jedoch nicht viel und die wenigen Bilder machen den Abend nicht groß.

New Works

Der große Atem fehlte vielen Performances beim diesjährigen Festival, was aber vielleicht auch viel verlangt ist angesichts der viel Multitasking erfordernden Existenz von Künstlern, die um jede Art von Förderung kämpfen müssen. Die "New Works", die in der letzten Spielart-Woche schwerpunktmäßig gezeigt wurden und zu denen auch "Sculpting Fear" und "The Empire Strikes Back" gehören, haben oft den Charakter des Laborhaften. Man experimentiert mit den Formen und verlässt sich dabei oftmals auf die Energie, die das Publikum aus dem Alltag (nicht) mitbringt.

Die Münchner Choreografin Anna Konjetzky betitelt ihre neue Produktion schon mal als "Testlauf", womit das Vorläufige und Suchende bereits zum Ausdruck kommt. In einer Landschaft aus Holz probieren fünf Tänzer die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft aus, begegnen sich im Raum, dessen Koordinaten sich permanent, auch durch die Bewegung des Publikums, verändern. In einigen improvisiert wirkenden Tanzeinlagen erzählt das Quintett optisch von der Anziehungskraft der Gruppe, ohne dass der Einzelne seine Freiheit verliert. Es ist das Austesten einer schönen Utopie, erneut ein Spiel mit der Zukunft in betont freundlicher Luftigkeit, von der auch das Publikum verführt werden soll.

Astrit Ismaili 2 Innocent 2 560 spielart"Innocent"  © Spielart

"Do you want to fuck me?"

Aber die meisten Zuschauer sehen sich nicht als Performer, wollen den Blicken der anderen nicht ausgesetzt sein. Mitmach-Theater, lass‘ mich in Frieden! Wesentlich aufdringlicher als Konjetzkys Tanz-Team adressieren die Performer in Astrit Ismailis "Innocent" die Zuschauer im i-camp. Auch hier strukturiert das Publikum mit seinen Bewegungen die Spielfläche immer neu, wobei das Interesse durch im Raum verteilte Aktionen geweckt wird. Die Performer wandeln als Prostituierte hin und her, singen, bieten Zeichnungen oder ihren Körper für Geld an, und tatsächlich soll man für diese Dienste zahlen. Laut Astrit Ismaili der als Zuhälter anwesend ist, liegen sogar Präservative hinter der Bühne bereit, falls man dem "Do you want to fuck me?" eines blondperückten Performers, sein Penis mit Tesafilm abgeklebt, für 50 Euro Folge leisten möchte.

Der Kapitalismus steht also am Pranger, und der Performer selbst kann sich nicht aus diesem System herausziehen, sondern nur den Konsumwahn und die eigene Käuflichkeit demonstrativ vorführen. Der halbnackte, zuletzt ganz nackte Körper erscheint als letztes Darstellungsmittel, viel mehr fällt Ismaili und seinen Performern nicht ein, bis auf ein Ende, wo sie sich nackt befühlen und beschnüffeln, ihre Sinne beleben, um dann glücklich rückwärts auseinanderzugehen. Man fühlt sich für einen Moment zurückversetzt in eine Kommune, die so naiv wie selbstzufrieden 'zu sich selbst findet', während die Umwelt in Vergessenheit gerät.

Sind so braune Augen

Ein ähnlich lockeres Raumarrangement hat das Münchner Künstlerkollektiv satellit produktion in der Spielstätte Schwere Reiter eingerichtet: Das Publikum sitzt im Raum verteilt, auf Kissen und Bänken, auf erhöhten Plateaus, um den Performern dabei zuzusehen, wie sie das Verhältnis von Bettlern und Passanten in Erzählung und Bewegung zu ergründen versuchen. Der Moment, wenn die um Geld bittende Hand in die Wahrnehmung tritt und die Entscheidung fällt, ob man darauf reagiert, bezeichnen sie als "Hiatus".

satellit produktion HIATUS c Ida Zenna red"Hiatus"  © Ida Zenna

Die Beschreibung, wie das heterogene Team aus Tänzern, Schauspielern und vermutlich auch Laien Kontakt zu Obdachlosen suchte, im Supermarkt oder auf den Stufen einer Kirche, entkommt nicht der Romantisierung. Da ist von "tiefen braunen Augen" die Rede, die sich einer Deutung entziehen, aber das Lächeln des Obdachlosen war gewiss ganz "offen". Demgegenüber stehen die Ressentiments der Passanten, die Angst vor der Rumänenmafia, dem Fremden im Allgemeinen. Die Truppe bildet einen Chor der Verächtlichen oder marschiert an einer Frau vorbei, die verzweifelt vom Boden aus nach ihnen greift. Das Projekt ist ehrenwert, aber allein der Ansatz birgt schon zu viel Pathos, und wenn sich am Ende die letzte Performerin in das Publikum eingliedert, blickt man letztlich einfach gemeinsam in die Leere.

Energie und CIA

Dass man den Bühnenraum alleine, ohne Zuschauerbeteiligung mit Energie füllen kann, durfte man bei den Sons of Sissy im Carl-Orff-Saal erleben, Simon Mayers fulminanter, allein beim Zuschauen Schweiß treibender Zerlegung von Brauchtum und Männlichkeit. Eine tief gehende Recherche legt auch das Münchner Duo Ulrich Eisenhofer und Benno Heisel mit "Cassidy" in der Schauburg vor, ihr Thema: dass die CIA Mitte des letzten Jahrhunderts mittels des "Kongresses für kulturelle Freiheit" Propaganda für amerikanische Kultur machte und damit den Sowjets und der Welt zeigen wollte, dass die Amerikaner auch im Kunstbereich Avantgarde waren.

Mit Folkert Dücker haben sie einen hervorragend kraftvollen Schauspieler an der Hand, der als fiktiver Ermittler Emil Kadzy sich zunächst von der Propaganda verführen lässt, um sich dann zum entschiedenen Gegner zu wandeln. Dieser Kadzy mit seinen Silberschuhen ist eine schillernde Figur zwischen Rechercheur und Paranoiker, der sich im Archiv-Ambiente selbst filmt, um am Ende des ersten Teils die Kamera aufs Publikum zu richten. Nach der Pause ist die Bühne dann offener, Dücker wendet sich an die Zuschauer, philosophiert über die Kunst von Pollock und Cage, über Ordnung und Zufall. Dann muss sich Kadzy, der sich in den USA Cassidy nennt, einem Antagonisten stellen, der behauptet, gar nicht Mitglied der CIA zu sein. Der Feldzug könnte ein Trip in den Wahnsinn sein. Der Abend ist klug konstruiert, aber zu verkopft, als dass er einen wirklich treffen könnte.

Hector Thami Manekehla 560 photo akademie schloss solitudeHector Thami Manekehla  © Akademie Schloss Solitude

Am Ende der nackte, wütende, verletzliche Mensch

Hin und weg und mitgerissen ist man hingegen von Hector Thami Manekehla, der in seinem einstündigen Solo "A Good Place for No Tourists Nor Locals" einen tiefgehenden Eindruck von der Gewalt in Johannesburg gibt. Zunächst joggt er seine Runden in der mit einer großen Gymnastikmatte ausgelegten Muffathalle. Die Hände gehen irgendwann defensiv vor den Körper, später windet er sich auf dem Boden und hinterlässt Schweißspuren, vermittelt so ein Gefühl von Kampf und Aggression und Verzweiflung. Nur selten spricht Manekehla, erzählt einmal die Geschichte eines Raubüberfalls auf eine weiße Familie, wie deren BMW gestohlen und der Sohn mit Schüssen verwundet wird, was den generellen Hass auf die schwarze Bevölkerung verstärkt.

Zweimal schreit Manekehla aus tiefster Kehle, es sind Schreie, die alle Einheimischen Johannesburgs, egal welcher Hautfarbe umfassen. Mit einer mexikanischen Wrestler-Maske, die auch schon von Pussy Riot genutzt wurde, und im Leo-Print-Shirt gibt er zuletzt ein Bild des südafrikanischen Kriminellen ab, bewegt sich in Zeitlupe, bedrohlich, ruhig, während er die Kleider einzeln ablegt, eine Spur der Kostümierung und gemischten Identitäten hinterlegt, bis am Ende der nackte, wütende, verletzliche Mensch da steht. Eine einleuchtende Dekonstruktion, ähnlich wie die "Sons of Sissy", und man ist sich sicher, dass man diese Virtuosität gerne öfters sehen würde, gerade in der Zukunft von Spielart.

 

The Empire Strikes Back - Kingdom of the Synthetic
von Ariel Efraim Ashbel and Friends (Berlin, Tel Aviv)
Regie: Ariel Efraim Ashbel, Recherche und Konzept: Romm Lewkowicz, Kostüme: Sandra Fink, Musik: Yoni Silver.
Mit: Santiago Blaum, Jessica Gadani, Tamara Saphir, Tatiana Saphir und Jan-Sebastian Suba, Featuring: Hacklander \ Hatam, Mat Hand.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten
www.ashbela.com

Sculpting Fear
von Julian Hetzel (Utrecht)
Regie: Julian Hetzel, Dramaturgie: Miguel Angel Melgares, Technik: Raoul Sleijser, Szenenbild: Nico de Rooij, Sound-Design und Musik: Natalia Dominguez Rangel, Kostüme: Gertjan Franciscus
Mit: Miri Lee, Eva Susova, Tomislav Feller und Svetlin Velchev
Dauer: 1 Stunde
www.julianhetzel.schnigg.com

Testlauf
von Anna Konjetzky (München)
Choreografie, Bühne, Künstlerische Leitung: Anna Konjetzky, Musik: Brendan Dougherty, Miguel Casponsa.
Mit: Sahra Huby, Quindell Orton, Sara Sampelayo, Damiaan Veens und Jorge Rodolfo De Hoyos
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten
www.annakonjetzky.com

Innocent
von Astrit Ismaili (Priština, Amsterdam)
Regie, Zeichnungen, Musik und Text: Astrit Ismaili, Licht: Nico de Rooij
Mit Andreas Hannes, Antonia Steffens und Jose Manuel Portas Bulpe
Dauer: 1 Stunde

Hiatus
von satellit produktion (München)
Idee, Konzeption und Umsetzung: David Russo, Ana Zirner und Martina Missel, Musik / Komposition: Amir Nasr und Florian Hartlieb, Bühne: Johannes Weckl, Licht-Design: Rainer Ludwig.
Mit: Katrin Schafitel, Jasmine Ellis, Henrik Kaalund, Katalin Zsigmondy, Benjamin Lange, Julia Möller, Silvan Frick und Lotte Lindenborn.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten
www.satellit-produktion.de

Cassidy
von Ulrich Eisenhofer, Benno Heisel (München)
Leitung, Text, Bühne und Video: Ulrich Eisenhofer, Benno Heisel, Dramaturgie Ute Gröbel, Lea Kappl, Licht: Charlotte Marr, Musik: Johannes van Bebber, Kostüm: Leah Lichtwitz.
Mit: Folkert Dücker.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten
www.ratundtat-kulturbuero.de/artists/ulrich-eisenhofer-benno-heisel
www.faketopretend.de

A Good Place For No Tourists Nor Locals
von Hector Thami Manekehla (Johannesburg)
Regie, Choreografie und Performance: Hector Thami Manekehla
Dauer: 1 Stunde

Spielart Festival
vom 23. Oktober bis 7. November 2015 in München. Das Spielart Festival präsentiert seit 1995 im Zwei-Jahrestakt neue Strömungen der internationalen Theaterwelt.
Eine Festivalübersicht mit Links zu zahlreichen Nachtkritiken gibt es hier.

www.spielart.org

 

 Mehr zum Spielart Festival 2015: Das Art-in-Resistance-Wochenende und die Eröffnung.

 

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