Wer hat Angst vor Virginia Woolf? - Stephan Kimmig inszeniert Edward Albee in Frankfurt
Häutung auf offener Bühne
von Shirin Sojitrawalla
Frankfurt, 8. November 2015. Die Schauspielerin Corinna Kirchhoff und der Schauspieler Wolfgang Michael sind auf überspannte Ehepaare abonniert: Seien es Phädra und Theseus, Sybel und Jack oder zuletzt in Frankfurt John Gabriel und Gudrun Borkman. Jetzt bekeifen sie sich ebendort als George und Martha im berühmten Eheschocker aus dem Jahr 1962.
Zicke
Regisseur Stephan Kimmig begegnet dem Text mit Ehrfurcht, fügt wenige Striche ein und nimmt sich fast vier Stunden Zeit für ihn. Corinna Kirchhoff spielt sich in diesen langen Stunden von der hysterisch frustrierten Professorengattin, die schon beim Betreten ihrer Bruchbude auf 180 ist, über die hoch auffahrende Furie mit Hyänenstimme, die langgezogene Jammertöne jault, bis zum traurigen Häuflein Elend. Ihre Martha ist genauso schrill, überkandidelt, artifiziell und manieriert, wie man es von ihr erwarten durfte. Dabei scheint sie immer kampfbereit, geht vorsichtshalber in Deckung, streckt den Oberkörper vor, wenn sie nicht gerade breitbeinig dasteht, die Hände in die Hüften stemmt, ihre Stimme tiefer legt und auf Kerl macht. Grimassieren tut sie wild, fuchtelt mit den Armen in der Luft herum und knattert ihre Sätze weg wie Schadstoffe. Eine Zicke.
Knödler und Grünschnäbel
Wolfgang Michael als George lässt es lässiger angehen, Hände in den Hosentaschen knödelt er seine zynischen Bemerkungen hervor, als hätte er keine Zähne mehr im Mund. Ein Scheusal. Nicht einen Moment zweifelt man daran, dass dieses Paar schon 23 Jahre lang verheiratet ist, so routiniert und eingefahren zelebrieren sie den Beckett'schen Dreisprung "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern" wie ein hundsgemeines Gesellschaftsspiel. Als Brandbeschleuniger im totalen Ehekrieg fungieren die vergleichsweise jungen Eheleute Nick und Honey, gespielt von Lukas Rüppel und Katharina Bach, für deren Nöte und Sorgen sich Stück und Abend weit weniger interessieren. Mit der gestählten Langzeitehe der anderen können die Grünschnäbel einfach nicht mithalten.
Blockierter Schwung
Eine Uhr tickt die ganze Zeit, aber die Zeit scheint dennoch nicht zu vergehen. Aller breit ausgestellten Schauspielkunst zum Trotz kommt der Abend nicht so richtig in Schwung, erweist sich vielmehr immer wieder als erstaunlich langwierige Angelegenheit. Das liegt auch daran, dass Kimmig das Stück so ernst nimmt, dass er nicht gewillt ist, es des höheren Unterhaltungswertes wegen zu kürzen, zu straffen oder mit etwelchen Ideen zu behelligen. Einer der wenigen Einfälle ereignet sich am Ende, wenn die Lampe in der Mitte der Bühne gen Boden schwebt, so dass Corinna Kirchhoff sonderbarerweise darauf Platz nehmen kann wie auf einem Karussell.
Die sonstige Bühne hat Katja Haß als undurchsichtiges, altmodisches, verliesartiges Zuhause eingerichtet, in dem sich der Parkettboden schon hier und da nach oben wölbt und keine weiteren Requisiten nötig sind als bloß ein paar Flaschen und Gläser im Regal. Die Bühne ragt in der Mitte bis in den Zuschauerraum hinein, wo dann George und Martha in den Ring steigen. Meistens aber klumpen alle vier Akteure in der Mitte der Bühne, und das so lange, bis die Nacken der armen Randplatzbewohner zu schmerzen beginnen.
Nachhall
Bei aller Langatmigkeit gelingt dem Abend das Kunststück, die altbekannte Geschichte von George und Martha als anrührende Liebesgeschichte zweier waidwunder Menschen zu erzählen. Georges Verrat, der darin besteht, die gemeinsame Lebenslüge eines Kindes, das beide nicht zeugen konnten, endlich zu begraben, erweist sich als gleichzeitig brutaler wie zärtlicher Liebesbeweis.
Im Stück ist es Honey, die gerne die Etiketten von den Brandy-Flaschen abkratzt, was George am Ende als Metapher aufnimmt, wenn er davon spricht, dass sie alle immerzu an der Etikette kratzten, bis sie die ganze Haut abgelöst hätten, alle drei Schichten. Diese Art von Häutung bringt Corinna Kirchhoffs Martha auf offener Bühne hinter sich. Im schwächer werdenden Lichtkegel sitzt sie am Schluss auf einem lächerlich gelben Höckerchen und starrt an der Seite ihres Mannes gleichermaßen ruhiggestellt wie angsterfüllt in den Abgrund der vor ihr liegenden Ehejahre. So wendet sich ein Abend, von dem man meinte, man müsse ihn nicht gesehen haben, zu einem, dessen Melancholie nachhallt.
Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
von Edward Albee
In der Übersetzung von Pinkas Braun, durchgesehen von Bernd Wilms
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Johanna Pfau, Musik: Maarten Schumacher, Dramaturgie: Claudia Lowin.
Mit: Corinna Kirchhoff, Wolfgang Michael, Lukas Rüppel und Katharina Bach.
Dauer: 3 Stunden und 50 Minuten, eine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Kimmigs Inszenierung ziehe sich nahezu vier Stunden hin, er "will bewusst zeigen, wie Zeit sich dehnt, wenn ein Paar sich mit den immer gleichen Ritualen bekriegt. Gegen Ende ist das dann nur noch ein langatmiges Exerzitium, das den Anhängern absoluter Texttreue vorführt, wie notwendig intelligente Strichfassungen sind", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (10.11.2015). Kirchhoff und Michael sind ein Paar, bei dem sich das Machtgefüge im Ehekrieg leicht in Richtung George verschiebt. "Gespielt wird in einem Raum, der mit seinem gewellten Parkettboden wie ein Wohnzimmer wirkt, das nach einem Wasserschaden in den Sechzigerjahren nie mehr genutzt wurde."
"Kimmigs Inszenierung geht auf Nummer Sicher", schreibt Tilman Spreckelsen in der FAZ (10.11.2015). Sie greife kaum in den Wortlaut des Stücks ein, "erwartbar ist auch, wie die Rollen angelegt werden: Wolfgang Michaels George ist der müde Zyniker, der den Ballast seines Lebens nicht mehr loswird." All das sei solide, aber ohne große Überraschungen. "'Wahrheit oder Illusion, kennst du eigentlich den Unterschied, George?', fragt Martha einmal. 'Nein, aber wir müssen weitermachen, als ob wir ihn kennen würden', antwortet ihr Mann. Wegen solcher Sätze wird man dieses Stück wahrscheinlich noch weitere fünfzig Jahre spielen."
"Es wäre wohl doch gut, ein Moratorium zu vereinbaren und 'Wer hat Angst vor Virginia Woolf?' erst ab 2020 wieder zu zeigen", plädiert Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (9.11.2015). Kimmig habe nichts Neues zu dem (zu)vielgespielten Stoff beizutragen, "das ist kein Wunder, aber auf seine Weise schockierend angesichts des Aufwands", so von Sternburg. Einzelkritik der Schauspieler*innen: Corinna Kirchhoff sei "für die Rolle der Martha geboren", sei "biegsam" und "sekündlich anders schillernd (…) Ein Teufelsbraten". Wolfgang Michaels George hingegen sei "von überwältigender Wurschtigkeit". Und die anderen zwei "führen tapfer ein Bühneneigenleben: Katharina Bach als Honey jammert und leidet und ist auf eine hellwache Art dümmlich. Lukas Rüppel als Nick ist stabil und naiv und ziemlich witzig."
"Man ahnt es, Kimmig hat zu einem großen Wurf angesetzt und wollte nichts weniger als das Stück neu entdecken und darin Dimensionen großen metaphysisch dimensionierten Theaters freisetzen", befindet Cornelie Ueding im Deutschlandfunk (9.11.2015). "Sicherlich gut gedacht." Der Preis dafür sei freilich hoch. "Nicht nur bespielt er, von einzelnen Gängen im zweiten Teil abgesehen, nur die rechte Seite der sehr breiten Bühne des Frankfurter Schauspiels und ein kleines, in den Zuschauerraum vorgeschobenes Podest, sodass man sich fragen muss, wie einem erfahrenen Regisseur solch ein handwerklicher Fehler passieren kann." Vor allem aber bleibe etwas ganz Wichtiges auf der Strecke. "Die Lust. Die Lust an dem, was diese Figuren und wir als ihre Voyeure am liebsten tun: Spielen."
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