Die Rückseite der Hoffnung

von Michael Bartsch

Radebeul, 13. November 2015. Die Landesbühnen Sachsen klotzen. Seit der Entlassung aus der Landesträgerschaft vor drei Jahren steht das Reisetheater unter erhöhtem Druck. Mehr oder weniger verhaltenes Stöhnen ist aus der Belegschaft zu vernehmen. Intendant Manuel Schöbel setzt auf solche Kraftakte wie an diesem Freitag. Neun Stücke an einem Abend, davon fünf Premieren. Ein Theatermenü, wie es an anderen Häusern schon erfolgreich probiert worden ist und im Vorjahr auch am Landesbühnen-Stammhaus in Radebeul unter dem Titel "Irrtümer" eingeführt wurde. Das Publikum goutiert einen solchen Mix erfahrungsgemäß am meisten, und entsprechend herrschte bis Mitternacht reges Leben im Haus.

Verdacht gegen das Ego

Von besonderem Interesse waren die Ur- und Erstaufführungen, weshalb der Rezensent auf die womöglich aufschlussreiche Premiere von Becketts "Warten auf Godot" verzichtete. Hatte doch Schauspielchef und Regisseur Peter Kube 1987 im ersten DDR-"Godot", der Wolfgang-Engel-Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden, selber den Wladimir gespielt.

acts 062 560 hagen Koenig uCordula Hanns und Sandra Maria Huimann in "Acts of Goodness"  © Hagen König

Der Schwede Mattias Andersson entwickelt seine Stücke gern im Dialog mit dem Publikum. Und so wurden am Ende von "Acts of goodness" Getränke gereicht, um ein lockeres Gespräch mit den Akteuren zu stimulieren. Das Bedürfnis sich über das eben Gesehene zu verständigen, war auch gar nicht zu übersehen. Andersson montiert eine Fülle von Situationen, die, wie es an einer Stelle heißt, "eine szenische Umsetzung des Begriffes 'Güte' darstellen". Eine sehr alte Frage wirft er unter anderem am aktuellen Beispiel der Flüchtlingshilfe auf: Steckt hinter offensivem Altruismus womöglich nur kaschierter Egoismus? Es ist der dialektische Zusammenhang von Liebe und Selbstliebe, den der Schwede exemplifiziert und auf die Spitze treibt.

Es gibt Szenen, da wird Hilfe geradezu gewaltsam eingefordert, und es gibt Szenen, in denen der Helfer den Empfänger mit seiner Bereitschaft vergewaltigt. Da überwindet ein afghanischer Flüchtlingsjunge seine Demütigungen durch einen Iraner, da hat ein angeschossener Vater Mitleid mit seinem Beinahe-Mörder, da nötigt eine Frau einer Obdachlosen ihren halben Besitzstand auf. Ein Paar entzweit sich, weil die Großzügigkeit des Mannes, seiner Frau eine Reise zu ermöglichen, bei ihr tiefes Misstrauen erzeugt. Im gleißenden Licht der Studiobühne werden diese Kurzgeschichten in Fortsetzungen und Versatzstücken erzählt, was häufige und manchmal verwirrende Szenenwechsel zur Folge hat. Regisseur Steffen Pietsch und die vier jungen Akteure lassen letztlich die Frage offen, ob hier nur Zweifel und Misstrauen gegen unser Helfersyndrom gesät werden oder auf Täter-Opfer-Abhängigkeiten aufmerksam gemacht werden sollte.

Sehnsucht Kuba 143 560 hagen koenig uDörte Dreger, Sophie Lüpfert, Julia Vincze, Anna Tarkhanova und René Geisler in "Sehnsucht Kuba"
© Hagen König

Illusion und Erbärmlichkeit

"Sehnsucht Kuba" des Kubaners Freddys Núñez Estenoz erlebte eigentlich schon Anfang Oktober im kleinen Projekttheater Dresden seine Uraufführung. Vor der Präsentation in Radebeul reiste das Ensemble dieser Koproduktion zu einem Gastspiel nach Kuba. Der Autor lockt den Zuschauer regelrecht in eine Falle, lässt ihn gemeinsam mit einer Wartegemeinschaft von sechs Reisenden auf dem Frankfurter Flughafen zunächst in allen Karibikträumen schwelgen. Man ahnt schon, dass das nicht lange gut gehen kann.

Vor Foto-Idyllen und bemühten Klischees entzaubern sich nach und nach die Reisekandidaten wie auch das vermeintliche Reiseparadies. Ein 33-jähriger Architekt möchte in Wahrheit auf Kuba nur seinen ersten Sex erleben. Die 49-jährige Ingrid wiederum hat dort ihren Latin Lover gefunden, der ihr gibt, was sie im lieblosen Deutschland nicht findet. Das Gegenstück ist die Kubanerin Lena, die in Deutschland verheiratet war und nach Jahren erstmals wieder ihre Familie besucht. Ein Ehepaar trägt in der Wartehalle die seit 30 Jahren schwelenden Konflikte aus und den Bruch ihrer Biografien durch die Wende 1990. Auch ein Stück über Heimat und die Unfähigkeit oder den dringenden Wunsch, sie zu verlassen.

Dem früheren Schauspielchef Arne Retzlaff und den sechs Darstellern gelingen hier starke, an menschliche Abgründe rührende Bilder bei einem nicht minder eindringlichen Text. In eingebauten Breaks formieren sie sich zu einem Sprechchor und formulieren europäisch-westliche Arroganz: "Wir kommen zu euch, wir leben von euch, wir scheißen auf euch ...".

hoeflichkeit der genies 377 560 hagen koenig uMatthias Henkel in "Die Höflichkeit der Genies" Hagen König

Das Geniale und das Banale

Im großen Saal der Landesbühnen schloss das "Irrtümer II - Utopien"-Spektakel dann in jeder Hinsicht kulinarisch. "Die Höflichkeit der Genies" ist dank des Hintersinns von Peter Hacks ein intellektuelles Vergnügen, bot aber zum Finale auch das komplette e-moll-Violinkonzert von Mendelssohn mit Torsten Janicke und der Elbland-Philharmonie in Kammerbesetzung. Hacks lässt den praxisfremden alternden Albert Einstein den jungen Stargeiger Yehudi Menuhin und dessen Schwester Hephzibah besuchen.

Beide übertreffen sich zunächst in Understatements über ihre Leistungen, schwadronieren über moderne Musik und die Wissenschaft und verabreden dann einen Deal: Wenn es Einstein gelingt, als Physiker die defekte Klingel zu reparieren, bekommt er zum Dank ein privates Sonderkonzert. Intendant Manuel Schöbel lässt ausspielen, was der köstliche Text eines seiner erklärten Lieblingsstücke hergibt, wobei nur der junge Menuhin etwas farblos bleibt. Mit einer Reihe dieser auch für kleine Bühnen kompatiblen Inszenierungen werden die Landesbühnen nun auf Reisen in Sachsen gehen.

 

Acts of Goodness
von Mattias Andersson
Regie: Steffen Pietsch, Ausstattung: Stefan Weil, Musik: Jörg Schittkowski.
Mit: Moritz Gabriel, Jonas Münchgesang, Cordula Hanns, Sandra Maria Huimann.
Dauer: 1 Stunde

Sehnsucht Kuba
Schauspiel von Freddys Núñez Estenoz
Regie: Arne Retzlaff, Ausstattung: Stefan Wiel, Video: Daniel Rentzsch. Mit: Anna Tarkhanova, René Geisler / Martin Doering, Dörte Dreger, Julia Vincze, Olaf Hörbe, Sophie Lüpfert.
Dauer: 1 Stunde

Die Höflichkeit der Genies
Dramolett von Peter Hacks
Regie: Manuel Schöbel, Ausstattung: Tom Böhm, Dirigent: Jan Michael Horstmann.
Mit: Matthias Henkel, Jens Bache, Julia Rani und der Elbland Philharmonie, Solovioline: Torsten Janicke.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten

www.landesbuehne-sachsen.de

 

Kritikenrundschau

Rainer Kasselt, der die Inszenierungen auf der anderen besuchte, schreibt über die Stimmung in der Sächsichen Zeitung (16.11.2015): Alle Sparten des Hauses hätten sich "wochenlang" vorbereitet. "Ihre Lust am Spiel überträgt sich aufs Publikum." Für den "heiteren Ausklang des Spektakels" sorge das Dramolett "Die Höflichkeit der Genies" von Peter Hacks. Ein kleines Stück, "so köstlich wie komisch" mit "geistreichen Bonmots". Einstein bekritzele "zum Entsetzen von Menuhins Schwester, selbstbewusst von Julia Rani verkörpert, Damastdecke, Tapete und eine Partitur mit Formeln." Matthias Henkel spiele Einstein als "höflichen. zerstreuten und bescheidenen Professor". Leider sei "Schauspielabsolvent ]ens Bache als Menuhin kein gleichwertiger Partner". Regisseur Manuel Schöbel habe "ein Händchen" für den "großen Hacks".

Tomas Petzold schreibt in den Dresdner Neuesten Nachrichten (16.11.2015): Unter dem Eindruck von "Warten auf Godot" relativierten sich die "vermeintlichen Lebensirrtümer" in "Sehnsucht Kuba" und die verblasste Utopie einer sozialistischen Gesellschaft gewinne "etwas an Leuchtkraft". Matthias Henkel bediene im Hacks-Stück "freundlich" das optische Klischee des "greisen Genies" und agiere mit "gelassener Wärme" und "glaubhafter Verlegenheit". Andreas Herrmann fragt sich angesichts des "Doku-Theaters" "Acts of Goodness": "Tut man Gutes wirklich für den anderen oder mehr für sein eigenes Ego?". Und bemängelt die "harten Schnitte" und das "störend-blendende Licht". Mehr erfährt man dann nicht mehr.

 

 

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