Fiebrige, falsche Leidenschaft

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 4. Dezember 2015. "Bye-bye, Mister Norwegian Pie" singt Christine Linde (Tabea Bettin) zum Abschied und unterbricht das starre Melancholical, in dem die Eheleute Helmer gefangen sind, noch einmal kurz mit ihrem skurrilen Auftreten – das sowieso das einzig Erfrischende an diesem kurzen Abend gewesen ist. Denn allein Bettin findet zu einem Ton, der Armin Petras' Ibsen-Überschreibung irgendwie erträglich macht: Sie fertigt ihren Text mit kühler Nonchalance ab. Zugegebenermaßen sehr viel schwieriger ist das vor allem für Katrin Wichmann als Nora, die in Stefan Puchers Inszenierung zwischen heißer Authentizitätssehnsucht und kalter Authentizitätssehnsuchtsironisierung hin- und herhetzt.

Armin Petras hat "Nora" in eine Zeit versetzt, die er wahrscheinlich für heute hält. Also sind sämtliche Figuren vom Kapitalismus zerfressen, fühllos, zu fiebriger, falscher Leidenschaft nur noch imstande, wenn es um den Job geht – wobei der Fall bei Nora da ja etwas komplizierter liegt. Schließlich ist sie die einzige, die nicht arbeitet und gleichzeitig die Titelheldin. Aber auch Nora lässt sich einpassen in diese verächtliche Prenzlauer Berg-Yuppie-Parodie: Den allgemeinen Selbstverwirklichungszwang treibt sie auf die Spitze, indem all ihre Worte und Handlungen von einem Nutzlosigkeitskomplex bestimmt zu sein scheinen.

Nora1 560 ArnoDeclair hAm Krankenlager eines halben Hipsters: Rank (Daniel Hoevels), Linde (Tabea Bettin) ,
Helmer (Bernd Moss) und Nora (Katrin Wichmann) © Arno Declair

Mit jeder ihrer albernen, überflüssigen Gesten entschuldigt sie sich dafür, dass sie überhaupt da ist, und wenn sie am Ende ihren Mann verlässt, dann kann selbst die großartige Katrin Wichmann sie nicht mehr aus ihrem Abziehbild-Status in eine Realität erden, in der einen das als Zuschauer irgendetwas anginge. Dr. Rank (Daniel Hoevels) rundet das blasse Gesamtbild ab als Zyniker in schlechter Form, dessen Todesfurcht aus dem falschen Stück zu stammen scheint.

Aufwändige Überlagerungsstrategie

All diese Leere verdichtet sich in der verfeinstaubten Sprache, die Petras gewählt hat – die Figuren schmeißen mit Anglizismen à la "Ich bin so dizzy" um sich, fassen das Tablet mit so spitzen Fingern an, als hätten sie es gerade entdeckt und lassen keinen Seitenhieb gegen die Kulturtechniken der Informationsgesellschaft aus. Zumindest Kulturpessimist*innen dürfte das Herz höher schlagen. Alle anderen dürften denken: WTF?!?

Stefan Pucher geht mit einer aufwändigen Überlagerungsstrategie auf den simplistischen Text los. Auf der die Drehbühne umschmiegenden Wand findet das untergegangene Bürgertum seinen Platz in schwarz-weißen Videobildern, auf denen die Darsteller*innen Passagen aus dem originalen Ibsen-Text rezitieren, als hätten sie sich in eine alte Jane-Austen-Verfilmung der BBC verirrt. Für ironische Brechungen sollen Musical-Einlagen sorgen, in denen die Figuren aus sich heraustreten, um zu Retro-80s-Beats ihre irrelevante Schmalzigkeit zu untermauern und ihre Distanz zu Gefühlen, vor allem Liebe, nochmal ganz deutlich zu machen.

Ihr Effekt erschöpft sich allerdings schnell, und als Katrin Wichmanns Nora in ihrem Versuch, ihren Mann von der unheilvollen Entdeckung ihrer Unterschriftenfälschung (warum wird das überhaupt noch erzählt?) abzulenken, zum Mikro greift und mit verzerrter Stimme etwas singt, das in Richtung Rammstein geht, ist es mit der Coolness-Dimension eh dahin.

Hotpants, Patchwork, beißende Muster

Ein Blickfang sind immerhin die Kostüme von Annabelle Witt, die häufig gewechselt werden und oft für Aha-Effekte sorgen. Gleich zu Beginn wird dem Look die Hauptrolle eingeräumt, wenn Nora und Helmer zu ihrem frontal gesprochenen Anfangsdialog auf die Bühne treten und Helmer aber zunächst die Brust im roten Pulli mit Weihnachts-Muster vorstreckt und die Lämpchen präsentiert, die in dem Gewebe blinken. Toll. Später trägt er noch ein Aufsehen erregendes Patchwork-Jackett aus Samt; dagegen kann Nora mit ihren immerhin rekord-oft wechselnden feuerroten bis blasspinken Ball- oder Brautjungern-Kleidern nur abstinken.

Christine Linde trägt Hotpants wechselnder Farbe unterm Ledermantel oder auch mal nur ein Negligé, Krogstad käme im grauen Plastikanzug überm eckig großgemusterten Wollpulli beinahe als unfreiwilliger Hipster rüber, wäre da nicht die unmögliche rote Lockenperücke, die auf Christine Lindes Mähne abgestimmt ist; und Rank ist mit sorgfältig gestutztem Schnurrbärtchen und Hemd und Krawatte mit sich beißenden Mustern der, der in Prenzlauer Berg am wenigsten auffallen würde.

So stellen sie ihre Oberflächlichkeit mehr oder weniger gekonnt aus, und irgendwie muss man Armin Petras wohl schon wieder dankbar sein, dass er ihnen eine dermaßen unglaubwürdige Sprache in den Mund gelegt hat und Stefan Pucher dafür, dass er keine Tiefenbohrungen vorgenommen hat – denn so steht fest, dass es sich auf keinen Fall um eine zeitgenössische Oberflächlichkeit handeln kann.

 

Nora
von Henrik Ibsen, für die Bühne neu eingerichtet von Armin Petras
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Video: Meika Dresenkamp, Licht: Matthias Vogel, Ton: Martin Person, Matthias Lunow, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Tabea Bettin, Moritz Grove, Daniel Hoevels, Bernd Moss, Katrin Wichmann.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Hier stimmt nichts", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (6.12.2015) und attestiert dem Abend "gedankliche Schlichtheit" . "Was Petras da fabriziert hat, ist mit dem Wort unterkomplex noch freundlich beschrieben." Daraus lasse sich "beim besten Willen" von der Regie nichts retten, so Schaper. "Aber da ist in den knapp achtzig Minuten Spieldauer auch der Verdacht, dass Pucher genau das entgegenkommt. (...) Ein ärgerlicher Abend, wenn es nicht so traurig wäre."

Armin Petras tue dem Stück "befremdlich Gewalt an", in dem er die fünf Kernfiguren "in die Profitmaximierungsfalle steckt", findet Ute Büsing im rbb Inforadio (5.12.15). Am grausamsten an Petras' "Neuaufguss" sei aber die Sprache: "proletisches, von angesagten Vokabeln durchsetzes oberflächliches Geschnatter", so Büsing. Dass aus der Trashvorlage überhaupt noch "ein halbwegs anständiger (...) Theaterabend" werde, liege an der Regie von Stefan Pucher, der immerhin mit dem Einbau der schwarz-weißen Videoebene einen "reizvollen Kontrast zwischen der Reduktion der Personen auf bloße Marktanteile und Sprechblasen und der psychologischen Tiefe des überkommenen Beziehungsdramas" herstelle. "Aber: Heutig, modern, packend ist diese seelenentkernte 'Nora' nicht."

Armin Petras habe bei seiner "Nora"-Aktualisierung, "in seinem Bestreben, alles richtig zu machen", eine "brav und rotzig vergegenwärtigte Fassung" hingelegt, meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (7.12.2015) – "mit fast schon wieder tölpelhaften, aus der Mode gekommenen Chefetagen- und Gossen-Anglizismen, mit Konsumvokabeln, Schrumpfsatz-Frechsprech, Schlagfertigkeitsfloskeln und mit bedeutungsvoll vielen 'Sorrys'". Regisseur Pucher habe aber "offenbar nicht dieser Fassung" vertraut," sondern nahm eine ältere Übersetzung her und kombinierte die beiden Welten". Und es passiere, "was passieren muss: Die beiden Welten machen sich gegenseitig lächerlich, und der Zuschauer ist auf Sicherheitsabstand gebracht." Der Abend sei "zusammengesteckt aus lauter Richtigkeit, stelzt unsicher herum; er schafft es noch nicht einmal auf die von Pucher sonst routiniert befahrene Glamour-Schiene."

Wolle uns "die Aufführung sagen, dass außer ein paar nett aussehenden Retroelementen nichts mehr aus dem Ibsen-Stoff rauszuholen ist, in diesen Zeiten, in denen es um Finanzkrisen, Flüchtlingskatastrophen, Islamophobie und Terror geht?", fragt René Hamann in der tageszeitung (8.12.2015) "Aber wozu dann das Ganze aufführen?" Eine Antwort findet er nicht.

 

Kommentare  
Nora, Berlin: des Kaisers neue Kleider
Der Aufwand ist hoch, was Bühnenbild, Kostüme, Video und Musik, was Erzählebenen und Ausdrucksmodi betrifft. Doch das, was da auf die Bühne gebracht wird, ist ideell und intellektuell so dünn, dass es problemlos als “Des Kaisers neue Kleider” durchgehen könnte. Hier ist “Viel Lärm um nichts”, zelebriert der Abend die Oberflächlichkeit, die er anzuklagen meint. Petras’ Adaption feiert selbstgenügsam seine selbstgebastelte Gesellschaftskritik und verliert sich schnell in ihrer vermeintlichen Cleverness, während Pucher die Leere unter immer mehr Schichten zu begraben sucht, bevor alles krachend zusammenbricht und man Wichmanns in roter Robe dastehenden Nora die Verlorenheit und Ratlosigkeit abnimmt. Hipsterklischees, Kapitalismusanalyse auf Sandkastenniveau, eine Sprache, die Authentizität und deren gleichzeitige Parodie sein will und sich doch in banalem Gepose verliert, dazu durchaus virtuoses Kunstgewerberesultieren in einem Abend der am Ende wir ein schwarzes Loch wirkt. All die hektische Betriebsamkeit, all der Aufwand und all die Einfälle werden letztlich angezogen und aufgesogen, verschwinden im Einzigen, was von diesem Abend bleibt: das Nichts, die vollständige Leere.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/12/05/im-schwarzen-loch/
Nora, Berlin: Was will Pucher?
Ich habe das jetzt noch nicht gesehen, aber: Wie oft hat Stefan Pucher jetzt schon megaaufwändiges, megaoberflächliches Imponiergedöns inszeniert. Ich habe bei seinen Inszenierungen oft das Gefühl, dass das zu verhandelnde ihn selbst nicht die Bohne interessiert. Hauptsache mit entsprechendem Etat irgendeine Möchtegern-Überwältigungs-Ästhetik und ein Möchtegern-Pop-Sound hinklatschen. Aber irgendwie in nichtssagende Umgebung geworfene Songs bleiben dann eben auch nichtssagend und seien sie eigentlich noch so herzzerreißend. Was will Pucher? Reicht es ihm, dass das dann schon irgendwie ausreichend hip und zeitgemäß rüberkommen wird, um irgendeine Relevanz hineinphilosophieren zu können? Reicht es den Intendanten, die ihn engagieren, zu wissen: der Pucher steht für ne geile Optik?
Leserkritik: Nora, Deutsches Theater Berlin
(...)

Die armen Schauspieler müssen sich mit einem verquasten Mix aus Anglizismen, Alltags-Banalitäten und Slang abquälen, der eine Zumutung ist. Da können die Schauspieler noch so oft bei jeder unpassenden Gelegenheit sich gegenseitig „Sorry“ zurufen: Hier gibt es nichts mehr zu entschuldigen. In 70er Jahre-Outfits sagen sie brav ihren Text auf.

Im Zentrum dieser „Nora“-Inszenierung steht nicht – wie meist üblich – die Emanzipation der Frau aus dem klassischen Rollenmuster der Bankiersgattin, die für das Repräsentieren auf Empfängen, ein schönes Zuhause und die Erziehung der Kinder zuständig ist und aus diesem „Puppenheim“ ausbricht.

Der Ansatz, dem Petras/Pucher stattdessen folgen, wäre durchaus interessant: ihnen geht es um die Frage, wie Beziehungen gelingen können, wenn Liebe, Sex und Emotion im Kapitalismus zur Ware verkommen und jeder Einzelne in ständiger Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren und auf dem Abstellgleis zu landen, zur Selbstoptimierung gezwungen ist. Diese Gedanken, die der Dramaturg Claus Caesar in seiner Einführung darlegte, wären ein exzellenter Stoff für spannende Theater-Auseinandersetzungen. Nur leider fehlt der Vorlage von Armin Petras, der nach seinem Zerwürfnis mit Klaus Wowereit als Intendant vom Berliner Gorki Theater ans Stuttgarter Schauspiel wechselte, jedes Format: zu viel Geblubber, zu viel Gefasel, wie sich die Figuren auch gegenseitig vorwerfen.

(...)

Auf einige bekannte Pucher-Stilmittel ist dennoch auch bei dieser missglückten Inszenierung Verlass: die phantasievollen Kostüme von Annabelle Witt und opulenten Roben, die an diesem Abend oft gewechselt und von den Schauspielern spazieren geführt werden, sind aufwändig gemacht und ein echter Blickfang. Auch die schönen Popsongs, die bei Pucher nie fehlen dürfen und diesmal vor allem von Katrin Wichmann und Tabea Bettin gesungen werden, sorgen kurzzeitig für willkommene Abwechslung, die wenigstens für einige Augenblicke die Tristesse der schwer erträglichen Dialoge durchbrechen.

Für diese Gesangseinlagen gab es mehrfach verdienten Szenenapplaus. Ebenso berechtigt waren aber die lauten Buhrufe, als das Regieteam nach achtzig Minuten verschenkter Lebenszeit auf die Bühne kam.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/27018-emotionen-im-kapitalismus-herzerlfresser-nora-7-pleasures.html
Nora, Berlin: Zuschauer-Geschenk
"Verschenkte" Lebenszeit? - Da ist ja der Zwang zur Selbstoptimierung bei K. K. voll angekommen - das klingt verdammt ärgerlich über das Zuschauer-Geschenk...
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