Brecht 2027

ein politisch-ästhetischer Ansatz von Kevin Rittberger

6. Dezember 2015. Bertolt Brecht erfand den Materialwert, wurde aber selbst um denselben gebracht. Dergestalt dass es erst 2027 zu einer Wiederaneignung des Brechtschen Materials kommen wird. Aber wie? Der Werkaspekt wird dabei sicherlich ins Hintertreffen geraten. Es geht um Big Brecht Data. Verschlagwortung, Suchtreffercharts, Echt-Zeit-Rezeptionsgeschichte, Augmented Reality.

Vom Blatt wird nichts mehr gespielt. Einzelne Sätze werden herausgemeißelt worden sein, Steinbruch, Assemblage, Dé/Coll/ Age (nach Wolf Vostell?). Doch auch hier im Bereich des Ästhetischen gilt die Warnung ans Politische: Es ist das einfache, das schwer zu machen ist.

Kritik heißt unterscheiden. Was sagen die Kritiker des Unterscheidungsvermögens?

"In dem Kontext der Wende gab es in Leipzig Demonstrationen mit Schildern, auf denen stand: "Wir sind das Volk." So wie das Individuum, das im 17. Jahrhundert den Souverän darstellt, von sich sagt: L'état c'est moi." Bert Brecht hat genau aus diesem absolutistischen Grunde nie vom Volk gesprochen, er sprach immer von Bevölkerung. Doch das Wort "Bevölkerung" wäre ja als Slogan weniger attraktiv. "Wir sind eine Bevölkerung", das klingt wie eine Feststellung. Es ist auch zu sehen, daß etwas fehlt. Es muß heißen: Wir sind eine Bevölkerung, und wir besitzen eine Öffentlichkeit, in der Autonomie möglich ist. In der wir uns ohne Anleitung anderer unseres Verstandes bedienen. (...) Eine Bevölkerung ohne dieses Gefäß, ohne die Realbühne Öffentlichkeit, kann kein Selbstvertrauen entwickeln."
(Aus: Oskar Negt/ Alexander Kluge: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen)

Stimmt das?

Phase 1, Material-Derivat: Also wird das Brechtsche Werk einer Schlagwortsuche unterzogen. Wieviele Ergebnisse zu "Volk"? Wie viele zu "Bevölkerung"? Und wie ist das ins Früh- Mittel- (Lehrstückphase) und Spätwerk einzuteilen? Das kann anhand eines Charts gezeigt werden. In einer Stimmen-Partitur werden einzelne, damit verbundene Sätze, die aus dem gesamten Werk herausgenommen werden, außerdem aufgehoben sein.

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.
(Kinderhymne)

Was bedeutet das?

Phase 2, Material-Korrelat: Was meint Brecht, wenn er (nicht) von "Volk“ spricht, was mit "Bevölkerung"? Die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey ("Die Regierung der Prekären") spricht von "radikaler Inklusion". Inklusion ist ein Stichwort, dass man mit den Brechtschen Suchtreffern verknüpfen muss. Spricht Brechts Bevölkerung dieselbe Sprache?

Phase 3, Material-Interpretation: Die Neuzusammensetzung (Isabell Lorey) denkt sich nicht-linear, nicht dialektisch, nicht-identisch, nicht-repräsentativ. In welcher Verbindung steht Brecht mit den Theoretikern der neuen sozialen Bewegungen?

Phase 4, Material-Ausblick: Zu lösende Fragen, warnende Stimmen: Performing Brecht? Best-of-Brecht? Brechts Werke an einem Abend? Was tun (mit Brecht)?

 

Kevin Rittberger, geboren 1977 in Stuttgart, ist Regisseur und Autor.
Er studierte Neuere deutsche Literatur, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Berlin. Sein Stück "Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung" war in der Inszenierung von Felizitas Brucker 2011 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. 2010 erhielt Rittberger den Kurt-Hübner-Regiepreis, 2012 den Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreis.

 

Hier die anderen Beiträge zur Ausschreibung: von Ligna, copy & waste, friendly fire, Alexander Karschnia und Ivo Eichhorn.

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