Spieler in den Booten

von Michael Wolf

Berlin, 5. März 2016. "Das hat mir besser gefallen, als das meiste, was hier gespielt wird." Mein Sitznachbar zur Rechten nickt anerkennend Richtung Bühne. "Also hat es Ihnen besser gefallen als Abende von Ivan Panteleev, Stephan Kimmig oder Jan Bosse?", wollte ich ihn noch fragen, aber da verschwand er schon in der Menge. Ich frage immer meine Sitznachbarn nach ihrer Meinung, wenn ich befürchte, einen Verriss schreiben zu müssen. Denn auch wenn Sie es nicht glauben: Kritiker schreiben nicht gerne Verrisse. Man macht sich damit weder Freunde noch Freude – besonders nicht, wenn ein junger Regisseur den Abend inszeniert hat. Aber so-tun-als-ob will ich auch nicht. Also los.

Handwerk 1

Spoilerwarnung: Nach einer Stunde stützt Ulrich Matthes sein Kinn auf der rechten Hand ab. Das hat er vorher den ganzen Abend lang nicht gemacht. Ulrich Matthes macht das mit der Hand und dem Kinn entweder, weil er damit "nachdenklich" spielen möchte – oder weil er die Arme nicht schon wieder "stur" verschränken oder "wütend" in seinen Hosentaschen versenken will. Jedenfalls steht er da jetzt also "nachdenklich o.Ä." auf dem vergitterten Bühnenboden, hinter ihm quadratische Kacheln.

Feuerschiff1 560 Arno Declair hHoch aufgelöst und sehr schön: videografierte Meereswogen im Deutschen Theater zu Berlin mit Timo Weisschnur und Ulrich Matthes.  © Arno Declair

Bühne, Stoff, Regie

Am Anfang waren vier davon aufgeflackert und hatten hoch aufgelöste Videobilder von sehr schönen Meereswogen gezeigt. Was folgte war aber kein großes Kino – leider nicht mal "Notruf Hafenkante". Schade, denn Siegfried Lenz' Novelle "Das Feuerschiff" bietet genug Stoff. Eben dieses Feuerschiff kapern Gangster auf der Flucht, um weiter Richtung Festland zu fahren. Während der Sohn des Kapitäns Freytag (Ulrich Matthes) das Schiff gewaltsam zu befreien versucht, schreckt dieser vor Gewalt zurück, um seine Besatzung zu schützen. Ein Thriller, eine Vater-Sohn-Geschichte oder eine Allegorie über das Handeln in Extremsituationen wäre möglich gewesen an diesem Abend.

Leider torpediert Josua Rösing seine Debütinszenierung an den Kammerspielen des Deutschen Theaters selbst, indem er versucht, von all dem ein bisschen zu erzählen – was den Abend schon früh absaufen lässt. Sein Ensemble klammert sich an seine Rettungsbojen: das schauspielerische Handwerk. Davon immerhin bekommt man an diesem Abend jede Menge geboten.

Handwerk 2

Timo Weisschnur (Der Kapitänssohn) zuckt mit den Fingerkuppen und Augenlidern, wenn er "nervös" spielt, meistens aber "provokant" mit den Schultern. Wenn Owen Peter Read seinem Gangster-Gehilfen zu etwas "Misstrauen" verhelfen will, dreht er sich kurz vorm Abgang noch mal abrupt um und blickt Freytag mit zusammen gezogenen Augenbrauen an.

Ermüdende Standards wie diese sind eine Rarität am Deutschen Theater, das doch regelmäßig beweist, dass es das beste Ensemble Berlins beheimatet. An diesem Abend aber ist von Anfang an die Luft raus. Freytag schreit seinen Sohn ein bisschen "wütend" an: "Ihr glaubt immer, dass etwas geschehen muss!?", mein anderer Sitznachbar zur Linken gähnt ohne die Hand vor den Mund zu nehmen.

Handwerk 3

Wirklich schade ist es um Ulrich Matthes Augen, die "übers Meer" (in den Saal) oder "nachdenklich" (ins Leere) starren – in beiden Fällen aber alle Faszination einbüßen. Jahrzehnte lang hypnotisiert dieser große Schauspieler nun schon das Publikum mit seinem stechenden Blick. An diesem Abend, und das ist fast zum Weinen, erkenne ich dahinter nichts als – na ja, im Grunde gar nichts. Ist halt das Matthes-Ding, das er jederzeit aus den Augenhöhlen hervorzaubern kann.

Hans Löw zeigt noch am meisten Spiellaune. Sein Gangsterboss Dr. Caspari schafft es in den besten Momenten des Abends gleichzeitig aufrichtige Geständnisse abzulegen und bedrohlich zu plaudern - vor allem kratzt er sich dann aber doch sehr oft "versonnen" am Arm herum. Was soll er auch machen? Für ein Bühnen-Duell, einen Showdown mit Matthes mangelt es der Stückfassung an brauchbaren Dialogen.

Fair enough, die Geschichte wird entschlackt in achtzig Minuten erzählt, aber was hilft das, wenn schon die nächste Replik in einer Untiefe versinkt? Seltsam, immerhin hat Dramaturg John von Düffel doch nebenan im Großen Haus schon lässig die gesamte Antike auf zweieinhalb Stunden gekürzt.

Anrede

Aber genug Verriss jetzt. Ich möchte nämlich, dass Sie die Aufführung trotz dieses Textes besuchen, und es wäre schön, würden Sie Ihre (abweichende) Meinung unten in die Kommentarspalte schreiben. Mindestens einen Fan, meinen Sitznachbarn zur Rechten, hat Josua Rösing ohnehin – und damit schon mehr als die meisten Kritiker.

 

Das Feuerschiff
nach der Erzählung von Siegfried Lenz 
Regie: Josua Rösing, Bühne: Mira König, Kostüme: Katharina Bruderhofer, Musik: Thies Mynther, Video: Phillip Hohenwarter, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Hans Löw, Ulrich Matthes, Owen Peter Read, Timo Weisschnur.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Josua Rösing komme "in seiner Inszenierung ohne einen Tropfen Wasser aus – im konkreten wie im übertragenen Sinne", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (7.3.2016). Was in der äußerlichen Darstellung noch "bei einiger Nachsicht als bewusste Abstraktion durchgehen" könne. Schlimmer sei, "dass auch die Schauspieler regiemäßig am Verdursten sind, selbst wenn sich die vier Männer (...) verzweifelt ins Zeug legen." Es werde "herzlich ungerührt herumgestanden, mit den Augen gerollt und den Füßen schwer aufgestampft. All die Ausweichgesten und Verlegenheitsmanöver nutzen freilich nichts. Die ganze Geschichte verharrt in moralinsaurer Parabelhaftigkeit."

Das Kernthema von Lenz' Erzählung sei "unverändert modern, auch wenn die Geschichte in ihrer Entstehungszeit schneller als politische Allegorie zu verstehen war", meint Barbara Möller in der Welt (7.3.2016). "Die Frage, wie sich eine aufgeklärte Gesellschaft zur Gewalt verhalten soll, wie weit sie um des lieben Friedens willen gehen darf, ohne sich selbst und ihre demokratischen Werte aufzugeben, ist angesichts islamistischen Terrors ungebrochen aktuell." Josua Rösings Inszenierung verzichte "auf plakative Bezüge", Text-Einrichter John von Düffel verlasse "sich weitestgehend auf die kraftvollen Dialoge von Lenz". Die Bühnen-Begegnung von Ulrich Matthes und Hans Löw schließlich sei "ein aufregendes Duell".

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (7.3.2016) schreibt, die Bühne von Mira König erzeuge eine Atmosphäre der Bodenlosigkeit bei gleichzeitiger Enge. "Noch vor dem ersten Auftritt ist klar: Hier gibt es Theaterqualitätsware im funktionellen Design." Klaustrophobe Soundeinblendungen würden praktische Ellipsen möglich machen, die Handlung springe von Dialog zu Dialog. Seidler glaubt: "Das hätte Lenz gefallen", der ein "kühler Meister der Verkürzung und Andeutung" gewesen sei. Die Dramaturgie sorge für psychologisches Futter, das die Sache allerdings vereinfache. da die austarierte Situation mit Freytag und Caspary so eine "psychonalytische Schlagseite" bekomme.

Angesichts des Stoffes herrschten eigentlich "Akzentuierungsmöglichkeiten en masse" für Regisseur (und DT-Regieassisten) Rösing, so Christine Wahl im Tagesspiegel (9.3.2016). Nur könne der "sich nicht entscheiden und surft gleichsam auf jeder Problemwelle, die die Erzählung ihm vor die Füße spült, ein bisschen mit – um bei nächster Gelegenheit eilig auf eine andere aufzuhüpfen." Die Berliner Inszenierung behaupte "eine Ereignishaftigkeit, die sie gar nicht einlösen kann, weil sie den Figuren selbst die dafür nötige Substanz gekappt hat." Trotz schauspielerischem "Hochkaräter-Duo" stecke der Abend "im Erwartbaren fest".

Es hätte "ein Duell zweier Großschauspieler" sein können, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (9.3.2016). In den Kammerspielen laufe aber eher eine "kühle Versuchsanordnung" mit Figuren wie "auf einem Schachbrett", mit "entsprechend hölzernen Zügen" und begrenztem "Ausdrucksarsenal" – "Prototypen ohne weitere Eigenschaften", wozu auch von Düffels Textfassung beitrage, die Dialoge übriglässt, "die wie ausgestanzt klingen". Kapitän und Krimineller blieben "Gegenspieler. Ihre Identitätskonstrukte geraten nicht ins Wanken." Es fehlten "starke Schauspielerführung, genaue Textarbeit und ein klares Konzept."

 

Kommentare  
Feuerschiff, Berlin: es reicht nicht
Die statische Grundordnung, das phrasenschwangere Textsubstrat lassen keinerlei Spannung aufkommen, zumal Rösings Regie auch nichts einfällt. Ein paar atmosphärisch dräuende Klänge und der unvermeidliche Videoeinsatz (Meereswellen auf vier zentralen Rückwandquadraten) verraten nicht, dass hier einer ein Regiestudium abgeschlossen hat. Besonders ärgerlich wird es, wenn sich Freytag und Fred (Timo Weisschnur) gegenüberstehen.
Da verkauft uns der Regisseur Freytags Plattheiten – etwa jene, dass Handeln nicht immer die beste Wahl sei – als Lebensweisheiten, während der bedauernswerte Weisschnur als dummer Junge daneben stehen darf. Da freut man sich schon über die Duelle zwischen Freytag und Caspary, die wenigstens auf Augenhöhe stattfinden, auch wenn sie sich außer ein paar plakativen Dualismen nichts zu sagen haben. Was bleibt? Vielleicht, dass es nicht reicht, Ulrich Matthes und Hans Löw zu besetzen, um einen auch nur erträglichen Abend zu schaffen. Oder dass es auch bei einem Autor wie Siegfried Lenz entscheidend ist, welche Textpassagen man auswählt. Auf jeden Fall aber, wie unendlich lang 70 Minuten zu sein vermögen. Josua Rösing schlägt sich im Widerstreit von Ordnung und Risiko klar auf die Seite der Ordnung. In der Kunst ist das nicht immer die richtige Wahl.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2016/03/06/alles-in-ordnung/
Feuerschiff, Berlin: aus der Seele gesprochen
Sie sprechen mir aus der Seele-
außer: es waren glaub ich nur dünne 70min -75min
Danke.
Feuerschiff, Berlin: Brandauer im Kopf
Das ist doch eine anschauliche Kritik und ein aufrichtiger Appell, auch dann Theater anzuschauen, wenn man damit rechnen muss, dass es eben keine Sternstunde des Theaters werden wird - Leider kann ich - auch nicht Lenz zuliebe - ein Stück mit diesem Titel schauen, weil ich dabei immer das Film-Feuerschiff und den Brandauer im Kopf habe und den bekäme da der Matthes nicht raus, der von Düffel nicht und auch sonst niemand...
Feuerschiff, Berlin: Bekenntnis
ich bin ständig eingeschlafen ..
Feuerschiff, Berlin: packend, gelungen, hervorragend
Ich muss hier entschieden widersprechen. Aber so soll es ja auch sein in einer Diskussion um ein Stück.

Ich habe eine Stunde vor der Abendkasse gewartet und glücklicherweise eine nicht in Anspruch genommene Pressekarte bekommen. Und ich habe keine Sekunde der Wartezeit bereut.

Mich haben die vier Schauspieler von der ersten Minute an gepackt. Die Inszenierung fand ich mehr als gelungen, ein hervorragender Übertrag der teilweise etwas langatmigen und distanzierten Novelle auf eine Theaterbühne. Eine Harmonie in dem Vier-Mann-Ensemble meine ich vernommen zu haben, die mir Freude auf mehr von Rösing machen.

Ich schaue es mir noch einmal an, das Feuerschiff. Und empfehle es auch gerne weiter.
Feuerschiff, Berlin: Scheibe abschneiden
Da können sich die Kritiker-Kollegen aber gerne alle mal eine Scheibe von Michael Wolf abschneiden, denn in der Tat hilft es nichts zu beschönigen, wo es zu kritisieren gilt. Aber es macht eben doch einen gewaltigen Unterschied, ob irgendein Altmeister einen faden, inspirationslosen Abend abliefert oder ein junger Regisseur eine Chance bekommen hat - die eben auch mal daneben gehen darf.
Feuerschiff, Berlin: wie "Funny Games"
(...)

Als sich Owen Peter Read (in der Doppelrolle als Eugen/Edgar) ganz in unschuldigem Weiß im Schlepptau von Hans Löw (Dr. Caspary) breitmacht, liegt eine Atmosphäre wie in „Funny Games“ in der Luft. Für kurze Momente treten die Eindringlinge so schnöselig auf wie bei Haneke, als sie ihre Opfer in die Enge treiben. Aber John von Düffels „skelettierte“ (Inforadio) Fassung der Erzählung von Siegfried Lenz ist Thesentheater statt Psychothriller.

Auch bei der Konfrontation zwischen Fred (Timo Weisschnur) und seinem Vater, dem Kapitän Freytag (Ulrich Matthes), könnten die Funken fliegen. Die Textvorlage lässt ihnen aber zu wenig Raum zur Entfaltung. Ulrich Matthes muss die „Ordnung“ so oft beschwören, dass seine Figur zur Verkörperung eines Prinzips wird, aber nicht mehr wie ein Mensch aus Fleisch und Blut wirkt. Eine Energie, die diesem Abend gut tun würde, ist auch unter der Oberfläche spürbar, als Fred von den Gangstern provoziert wird. Sie darf sich aber nicht entladen.

(...)

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/28085-kaum-funkenflug-auf-dem-feuerschiff-im-deutschen-theater.html
Feuerschiff, Berlin: Abend ohne Schnickschnack
Ich kann mich dem Urteil des Sitznachbarn von Michael Wolf nur anschließen: Das war weit besser als vieles , das ich in der letzten Zeit auf Berliner Bühnen gesehen habe. Ein Abend der dem Text vertraut, und dem Publikum ,dass es ohne " aufmischenden Schnickschnack" auskommt.Es war keineswegs langweilig und ich habe den Besuch der Aufführung schon vielen Freunden empfohlen.
Feuerschiff, Berlin: was spannend hätte sein können
kann k.k. nur in jedem punkt zustimmen: wie spannend hätte es z.b. sein können, den inneren konflikt des sohnes fred zu erleben, wenn er seinem vater dessen vergangenes fehlverhalten vorhält. stattdessen stehen die herren sich starr gegenüber und fred betet seine anklage emotionslos runter. dass freytag / matthes einmal mit einer metallbank rumschmeisst, wirkt dann nur mehr bemüht und deplaziert.
Das Feuerschiff, Berlin: gelungen
Das Feuerschiff, Berlin:

Der junge Regisseur Josua Rösing ordnet in seiner Inszenierung von Lenz´ Feuerschiff die wesentlichen Elemente des Erzählens (Raum, Zeit, Personen und Ereignisse) so an, dass der Stoff holzschnittartig strukturiert erscheint und das Publikum ein Tableau vorfindet, das wie ein Modell wirkt, mit dessen Hilfe allgemeingültige Fragestellungen und Ideen philosophischer und ethisch-moralischer Natur in den Horizont des Zuschauers gerückt werden. Es geht um Anarchie und Ordnung, Gewalt und um passiven und aktiven Widerstand, Verantwortung, Toleranz und ihre Grenzen.
Eine gelungene Inszenierung.
Feuerschiff, Berlin: gute Kritik
Und noch eine gute Kritik:
http://www.berliner-zeitung.de/kultur/theater/theaterqualitaetsware-im-funktionellen-design-23677954
Feuerschiff, Berlin: Leserkritik
Die Beziehung zwischen Vätern und Kindern – in der Mehrzahl sind es die Söhne – wird in vielen Werken von Lenz thematisiert. Meistens werden die Väter durch die Jungen in Frage gestellt; oft geht damit die Anklage einher, die Väter würden nicht Rechenschaft über ihre Vergangenheit ablegen und dazu neigen, ihre Verstrickungen zu verharmlosen; sie erwarteten Nachsicht, ja Mitleid.

In Josua Rösings´ Inszenierung von Lenz´ Feuerschiff am Deutschen Theater zeigt der Vater-Sohn-Konflikt einige für die Nachkriegssituation, die Nachkriegsliteratur und den Schriftsteller Siegfried Lenz typische Aspekte: die lange Abwesenheit der Väter, die Fremdheit zwischen den Generationen, Sprachlosigkeit bzw. Schweigen, die Unfähigkeit zu fragen oder zu erzählen, Rechenschaft zu verlangen oder zu geben, eine Unüberbrückbarkeit der Gegensätze.

Der Sohn leidet am Vater, aber nicht – wie zum Beispiel in der Literatur um 1900 – an dessen Stärke und Dominanz oder an der Doppelbödigkeit der väterlichen Moral, sondern an seiner vermeintlichen Schwäche. Obwohl Vater (Ulrich Matthes) und Sohn (Timo Weisschnur) bis zum entscheidenden klärenden Gespräch, kaum miteinander sprechen, spürt man den auf ihnen lastenden Druck, eine Spannung zwischen ihnen. Fred leidet unter dem Eindruck, sein Vater sei ein Feigling. Der Ursprung dieser den Sohn quälenden Auffassung führt zu einer Begebenheit aus Freytags Vergangenheit zurück, die an Fred durch Gerüchte und Schilderung Dritter herangetragen wurde: das Verhalten Freytags während der Geschehnisse in der Ägäis. Instinktiv hatte Fred zeit seines Lebens versucht, den Vorwurf, sein Vater sei feige, von sich zu weisen und die ganze Angelegenheit zu verdrängen. Die augenscheinlich passive Haltung Freytags und die gegenwärtige Duldung der Verbrecher auf dem Feuerschiff scheinen allerdings diesen Vorwurf zu bestätigen. Fred zieht die Wahrhaftigkeit seines Vaters in Zweifel und wirft ihm Feigheit als eigentliches Motiv seines Handelns vor. Dies ist ein Angriff auf die moralische Integrität des Vaters; träfe der Verdacht zu, würden Glaubwürdigkeit und Autorität des Alten dauerhaft zerstört.
Der Konflikt zwischen den beiden besteht auch darin, daß beide eine unterschiedliche Auffassung vom richtigen, der Situation angemessenen Handeln haben. Fred setzt Freytags hinhaltendem Taktieren und besonnenem Handeln, die Position eines aktiven Widerstands entgegen. Er fühlt sich berechtigt, ja geradezu verpflichtet, der Gewalt der Verbrecher aktiv entgegenzutreten und schreckt nicht vor strafbaren Maßnahmen (Sachbeschädigung, Mord) zurück, um das zu erreichen, was er als seine Pflicht erkannt hat, das führt zu einer zunehmenden Entfremdung und schließlich offenen Gegnerschaft. Als Freytag sich am Ende gezwungen sieht, seine Hinhaltetaktik aufzugeben, weil mit der Entführung des Feuerschiffes die Sicherheit der Schifffahrt insgesamt bedroht ist, nimmt er den Konflikt mit den Gangstern offen an und trägt ihn aus. Allerdings bleibt bei Josua Rösing, anders als bei Siegfried Lenz, offen, ob der Vater-Sohn-Konflikt geklärt wird und welche der Gegenspieler im Konflikt von Ordnung und Chaos, von Gut und Böse obsiegen wird, das mag für den einen oder anderen schlimm sein, mir hat es gefallen. Nach einem spannenden Theaterabend gehe ich mit der Frage nach Hause: Was hätte ich wohl in dieser Situation getan?
Das Feuerschiff, Berlin: Ordnungs-System
In Josua Rösings´ gelungener Inszenierung von Lenz´Feuerschiff am DT ist der Ort der Handlung ein altes Feuerschiff, das fest verankert, die Sicherheit und Ordnung auf See gewährleisten soll, es kann nicht von der Stelle und die darauf befindliche Mannschaft ebenso nicht. Der beengte Raum (Bühne: Mira König), der durch den Kontrast mit der Weite des Meeres besonders eng erscheint, wirft die auf ihm befindlichen Personen auf sich selbst zurück und macht sie zu Gefangenen; sie können einander kaum ausweichen, die Konflikte erscheinen zwingend und aufs Äußerste zugespitzt. Kapitän Freytag (Ulrich Matthes) und Dr. Caspary (Hans Löw) kämpfen um die Verfügungsgewalt über das Feuerschiff und um die Bewahrung bzw. Zerstörung eines gegebenen Ordnungssystems. Freytag ist ein alter Mann, der über einen reichen Erfahrungsschatz verfügt. Er sieht die Welt ohne Illusionen und akzeptiert die Macht des Faktischen. Er hat gelernt, sein Temperament und seine Leidenschaften zu zügeln. Im Umgang mit anderen Menschen ist er spröde, bisweilen autoritär, seine Kommunikationsarmut und die Bestimmtheit seines Auftretens geben ihm den Habitus des einsamen Helden, Geltungsbedürfnis und große Gesten sind ihm jedoch fremd; er weiß um die Bedeutung der ihm übertragenen Aufgabeund will seine Ruhe haben.Dem zurückhaltenden und verantwortungsbewussten Freytag steht der zynische Intellektuelle Dr. Caspary gegenüber. Elegante Kleidung und ein maskenhaftes Lächeln weisen ihn als einen Menschen aus, der auf Äußerlichkeiten großen Wert legt, etwas zu verbergen hat, Eindruck machen möchte, sich aber seiner Identität nicht sicher ist. Er ist mitteilsam, oft redselig, hat eine rasche Auffassungsgabe und neigt zu Ironie und Sarkasmus.
Auch hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen unterscheiden sich beide Figuren. Für Freytag ist das Leben eines Menschen höchstes Gut und unantastbar. Er fühlt sich denen verpflichtet, die ihr Leben der Kennung des Feuerschiffs anvertrauen, er will erreichen, dass es kein Blutvergießen gibt, und er würde, so bekennt er in einem Gespräch mit Fred, die Schiffbrüchigen auch im Wissen um ihre verbrecherische Vergangenheit noch einmal aus Seenot retten. Das Feuerschiff bedeutet ihm ein Ordnungssystem, das für die Wohlfahrt der Menschen notwendig ist, dem sich alle blind anvertrauen (können müssen). Der Kapitän begreift sich als Teil dieser Ordnung, zu deren Bewahrung er durch Standhaftigkeit, Unbestechlichkeit, Pflichtbewusstsein, Selbstdisziplin, und Zuverlässigkeit beiträgt. Solche Wertvorstellungen sind seinem Gegenspieler fremd. Caspary gibt sich als Gegner von Ordnung, Wahrheit und Sicherheit zu erkennen, er liebt die Halbwahrheit, das Geheimnisvolle, das Abenteuerliche und Unberechenbare, er ist die Negation jeglicher Moral und verfolgt nur seine eigenen Interessen. Er akzeptiert keine sittlichen Werte als Maßstab für sein eigenes Handeln und das der anderen, hat kein Gewissen und keine Achtung vor den Menschen, alles gerät ihm zum Spiel. Zweierlei macht ihn besonders gefährlich: Er ist ein Schreibtischtäter, der sich selbst nicht die Hände schmutzig macht, sondern sich anderer (Edgar/Eugen gespielt von Owen Peter Read) bedient, um Chaos und Anarchie zu verbreiten. Und er missbraucht unter der Maske bürgerlicher Seriosität (Rechtsanwalt, Werftunternehmer) die Möglichkeiten des Systems zu dessen Destabilisierung und Destruktion. Die Indifferenz gegenüber allen herkömmlichen Wertvorstellungen, den Mangel an Verantwortungsbe-wusstsein, das Fehlen von Schuldgefühlen erklärt er selbst damit, dass sein Leben durch einen Fluch, der auf der Familie laste, determiniert sei, ihm also die Freiheit des Willens fehle. Mephistophelisch sagt Dr. Caspary, daß man wirklich jedem Menschen ein schuldhaftes Verhalten nachweisen kann.

Fazit: Eine tolle Inszenierung mit sehr guter Besetzung, einem ästhetischen Bühnenbild und einem Lichtmeister, der wirklich sein Fach versteht.
Feuerschiff, Berlin: wohltuend verstörend
So bewertet Stefan Münker abschließend für "kulturzeit" den Abend: "Ein wunderbar minimalistisches Bühnenbild, großartige Schauspieler und ein überraschend aktueller Text lassen den Abend zu einem intensiven und wohltuend verstörenden Erlebnis werden. Unbedingt ansehen!"

Hier die bewegten Bilder dazu:
http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=57560
Feuerschiff, Berlin: nur nacherzählt
Liebe Leserkritiker, Ihr erzählt nur das Stück nach. Und hinter Rösings muss kein Apostroph.
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