Fluchtpunkt Griechenland

von Dorothea Marcus

Koblenz, 12. März 2016. Es ist, wie man weiß, ein Splatter-Plot aus Mord, Macht und Sex, dem die Atriden nicht entrinnen können. Immer wieder ist zutiefst nachvollziehbar: dass Orest, von der extremistischen Elektra zum Muttermord getrieben, anschließend in schwerster Reue versinkt – und dann einfach mit dem Morden weitermacht. Dass Klytämnestra ihren Ehemann Agamemnon bei seiner Rückkehr lieber umbringt – schließlich hatte der einst ihre Tochter geopfert und setzt ihr nun eine neue Frau vor. Dass Menelaos, der Bruder des getöteten Agamenon, wieder mit seiner eigentlich verstoßenen, untreuen Frau Helena anbändelt – will er doch, machtbewusst und pragmatisch, den vakanten Thron besetzen.

Großstoff mit Bildgewalt

Der versierte Großstoff-Zusammendampfer John von Düffel verknüpft für das Theater Koblenz seine Antikenkollage "Orestie" mit den "Troerinnen", zwei chronologisch aufeinanderfolgende antike Stoffe, in einer Sprache, die ihre wuchtigen Vorlagen nie verrät und doch auch leicht ist, auf psychologisch bestechende Art und Weise. Während die "Orestie" die Zwangsläufigkeit zeigt, mit der die in Troja siegreichen Griechen einzeln untergehen, stellen die "Troerinnen" die leidenden, verschleppten Frauen von Troja ins Zentrum. Von Düffels "Orestie"-Fassung entstand laut Intendant Markus Dietze (soeben bis 2021 verlängert) während der Arbeit an seiner Koblenzer Auftragsarbeit Alle sechzehn Jahre im Sommer (2012). Dreieinhalb Jahre später hat Dietze (der die "Orestie" übrigens 2005 schon mal in Stendal inszenierte) sie nun ans eigene Haus geholt und selbst inszeniert – mit sehr respektablem Ergebnis.

Orestie 560 TheaterKoblenz uAssoziation Geflüchtete: Was haben die von den Griechen verschifften Trojaner mit heute zu tun?
© Theater Koblenz

Dem gewaltigen Vorhaben entspricht das gewaltige Bühnenbild von Dorit Lievenbrück: Bedrohlich lautlos fährt entweder ein riesiger schwarzer Quader als Griechenschiff herunter, erinnert von ferne an einen See-Container, öffnet sich zu einem grauen Betongefängnis. Oder es ersteht auf der Drehbühne der Atriden-Palast mit riesenhaft rostigen Metallwänden auf, vor dem die Menschen zur winzigen Vergeblichkeit schrumpfen. Diskret auf die Wände projiziert werden mit beeindruckendem Effekt und in Zeitlupe: Rauchschwaden, Feuerglut, Blutlachen, stürzende Wassermassen, Steinschläge. Archaisch Stoffliches, Erdkatastrophen, Naturereignisse: Hier geht es stets um Größeres als um schlichte, menschliche Befindlichkeit.

Die Trojaner als Flüchtlinge

Die versprengten und nach Griechenland verschifften Trojaner sind als Geflüchtete zu erkennen, mit Daunenjacken, Jeans, Decken entwurzelt und frierend. Seltsam aufgebrezelt ist nur das junge Mädchen Kassandra mit Minirock und hohen Schuhen (Jana Gwosdek), die schon weiß, dass sie als Agamemnons Liebhaberin bald umgebracht werden wird.

Dann geht's auch schon in den traurig rostigen Palast, drinnen ein einsamer Ledersessel, draußen ducken sich die Kämpfer Orest und Elektra einsam an die Wände. Elektra keift und wütet als schmale Terroristin mit wirren roten Haaren in schwarzer Lederjacke, Jana Gwosdek spielt jetzt eine nervig-verbissene Hysterikerin, die sich krankhaft in etwas hineinsteigert – und dennoch auch mal schutzsuchend den Kopf in den Schoß der verhassten Mutter legt. Deren Neumann Ägist (Marcel Hoffmann) ist ein Pragmatiker, Typ intellektueller Golfspieler, Klytämnestra (Raphaela Crossey) eine ratlose, attraktive Mutter, die irgendwie noch ein Stück vom Lebenskuchen wollte und von der man nie weiß, ob sie sich die eigenen Gefühle nicht doch nur einredet.

Beeindruckend in seiner Unentschiedenheit ist Jona Mues als Orest. Sexuell konnotiert die Szene, in der er sich mit Elektra zum Blutrausch überredet, männlich schwingt er die Axt, muss nach dem Töten erstmal Atem schöpfen – und dabei schimmert immer wieder der kleine Junge im Streifenshirt durch, der sich nach Mutterliebe sehnt.

TroerinnenOrestie1 560 TheaterKoblenz uJana Gwosdek spielt erst Kassandra, später (wie hier) Elektra © Theater Koblenz

Düster, schwer und psychologisch genau

Nach der Pause befindet man sich wieder bei den Troerinnen auf dem Bunkerschiff nach Griechenland. Raphaela Crossey ist nun eine kühl-elegante Helena, die genau weiß, wie sie sich Menelaos, den künftigen Atridenkönig (Marcel Hoffmann als schmierig-erbärmlicher Opportunist), wieder zurückholt, während die Flüchtlingsfrauen es nicht fassen können, dass die untreue Kriegsverursacherin nun wieder Oberwasser hat. Zuhause im Palast liegt Orest, das Blut noch im Gesicht, krank, wehleidig und gequält auf dem Matratzenlager. Elektra wütet weiter, nur jetzt in programmatischem Unschuldsweiß gekleidet.

Zu lachen gibt es nicht viel an diesem düsteren, recht statischen Abend, der sich eng an den Text hält und den Fokus auf die alptraumhaften Verstrickungen der Atridenfamilie legt. Langsam und bedächtig, düster und schwer sprechen die Schauspieler. Das ist zwar zuweilen ermüdend gleichförmig, bringt aber von Düffels Sprache zum Leuchten. Außerdem gelingt es Dietze, mit beeindruckender Schlüssigkeit und sorgfältigen Schauspielern die inneren Zusammenhänge und erschreckende Konsequenz der antiken Dramen psychologisch genau zu erspielen. Weder gleitet man ins falsche Pathos noch in allzu leichtfüßige Hemdsärmeligkeit ab. So zeigt sich die Wucht der Atridengeschichte als ewig menschliche Spirale der Gewalt, als schlimmes Grundnarrativ des europäischen Abendlands. Das muss erstmal gelingen.

 

Die Troerinnen / Orestie
von Euripides / Sophokles / Aischylos und John von Düffel
Interlinear-Übersetzung und Quellen: Gregor Schreiner
Regie: Markus Dietze, Bühne: Dorit Lievenbrück, Video: Georg Lendorff, Kostüme: Bernhard Hülfenhaus, Musik: Ralf Schurbohm, Dramaturgie: Juliane Wulfgramm.
Mit: Raphaela Crossey, Jana Gwosdek, Tajana Hölbing, Marcel Hoffmann, Georgia Lautner, Jona Mues, Magdalena Pircher.
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.theater-koblenz.de

 

Kritikenrundschau

Andreas Pecht von der Rhein-Zeitung (14.3.2016) hat einen "berückende(n) Abend" erlebt. Dass Düffel, Dietze und das kleine Ensemble vor allem im ersten Teil die rechte Balance zwischen antikem Gestus in Sprache und Spiel und den Anforderungen an eine heutiges Publikum gefunden haben, mache die Produktion zu einem herausragenden Ereignis. "Die Kraft der Worte wird klar entfaltet."

 

 

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