Angst essen Seele auf - In Annaberg-Buchholz traut Karl Georg Kayser Rainer Werner Fassbinders Text allein die große Bühne offenbar nicht zu
So klingt Sesseldeutschland
von Matthias Schmidt
Annaberg-Buchholz, 3. April 2016. Kommt man an einem Sonntagnachmittag nach Annaberg-Buchholz, sind die meisten Straßen leer. Kaum Passanten. Fast wie in Fassbinders Film, da läuft auch keiner durchs Bild. Sind wohl alle zuhause, hoffentlich nicht so einsam wie die Putzfrau Emmi in "Angst essen Seele auf". Auf dem Marktplatz sitzt eine kleine Gruppe Flüchtlinge bei einem Bier und genießt den Frühlingstag. Wo, wenn nicht auf der Bank auf dem Markt? Bei Fassbinder stehen sie in einer Kneipe, der marokkanische Gastarbeiter, den alle der Einfachheit halber Ali nennen, und seine Freunde. Wo sollen sie auch hin? Sie wohnen zu sechst in einem Zimmer, menschenunwürdig, wie Emmi es nennen wird. Sie haben nichts außer der Arbeit und der Kneipe. Die Flüchtlinge haben noch nicht einmal das.
Gastarbeiter im Jahr 1974 und Flüchtlinge im Jahr 2016, eine Analogie? Bei allen Unterschieden, ja. Es sind dieselbe Angst und derselbe Hass, die das Land spalten, und die Annaberg-Buchholzer tun gut daran, genau jetzt dieses Stück zu inszenieren. Weil es letztlich sagt: Wenn ihr Angst habt, dann redet miteinander statt euch fremd zu bleiben. Und selbst dann bleibt ungewiss, ob wir es schaffen.
Starke Botschaft, die auch heute funktioniert
Auf der leicht geneigten Bühne dreht sich ein deutsches Wohnzimmer, eine gute Stube voller Sessel mit einer ansehnlichen Sammlung plüschiger Lampen darüber. "Kein schöner Land" wird gesungen, und die Stubenhocker geben zum Besten, dass auch Hitler das Lied mochte und die Goebbels-Kinder es sehr schön gesungen haben sollen. "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen", sagen sie, und bereits hier ahnt man, dass Regisseur Karl Georg Kayser dem Fassbinderschen Kammerspiel von der Angst vor dem Fremden und den Mühen des Kennenlernens die große Bühne nicht ganz zutraut. Die Idee mit der sich um sich selbst drehenden deutschen Wohnstube ist eine wunderbare Metapher. Aber müssen tatsächlich Leute drinsitzen, die mit Pegida-Slogans kommentieren, was direkt vor ihnen auf der Vorderbühne passiert?
Da verliebt sich die Putzfrau Emmi in Ali (in Annaberg nicht Marokkaner, sondern Bosnier), heiratet ihn und ist fortan dem Hass ihrer Familie, der Kolleginnen und Nachbarinnen ausgesetzt. Sie duldet ihn in der Hoffnung, ihre Liebe werde stärker sein. Als sie selbst Angst vor ihrem unerwarteten Glück bekommt, beruhigt Ali sie mit dem titelgebenden Satz: "Angst nix gut. Angst essen Seele auf." Darin steckt die Weisheit des Textes, seine Botschaft, wenn man so will, und dieser Moment zählt auch zu den stärksten der Inszenierung. Zwei Menschen auf einer Küchenbank. Mehr braucht es dazu nicht. Ein Mann und eine Frau, ein Ausländer und eine Deutsche. Das hätte völlig genügt, zum Mitfühlen, Aufregen, Nachdenken. Die plakativen "Weihnachten wird bald in der Moschee gefeiert"-Rufe aus dem Sesseldeutschland dahinter wirken ein bisschen, als könne das Publikum nicht selbst darauf kommen.
Nix zu lachen? Von wegen!
Wie es subtiler geht, zeigt der Abend ja punktuell selbst. Einmal, als Ali Emmis Küchenradio anmacht, ist ein Nachrichtenschnipsel zu hören: Es geht um ein Flüchtlingsheim, und jeder weiß hinreichend, was da gemeint sein wird. Ansonsten aber werden leider viele der kleinen Szenen kabarettistisch geradezu überformt. Der Händler und seine Frau, die Nachbarinnen – allesamt sächselnde Karikaturen mit lustigen Brillen, Hüten und Perücken. Der Sohn des Vermieters, im Film einer der ersten, die Emmi und Ali als Paar immerhin akzeptieren – hier ist er ein stark nach NRW klingender Trunkenbold, der mit offenem Hosenstall im Treppenhaus herumgeistert. Das Sexheftchen, das ihm dabei aus dem Mantel fällt, wird zur Pointe hochgespielt, mitsamt der Pause zum Gickern. Mitunter hat man Angst, gleich könnte Maxe Baumann aus dem DDR-Sonntagsabend-Schwank mit einer Flasche Weinbrand aus den Kulissen kommen und auch noch was Lustiges machen.
Wie wenig es das gebraucht hätte, zeigt sich immer, wenn Tamara Korber und Nenad Zanic als Emmi und Ali allein sind. Da sieht man einfach diesen zwei Menschen bei ihrem persönlichen Drama zu. Es ist schlicht ergreifend zu sehen, wie schwer es für beide ist, und so schwer ist es ja im Großen auch. Zugegeben, diese Nähe, diese Konzentration herzustellen ist nicht ganz einfach auf einer großen Bühne, aber so groß, dass man es nicht wenigstens hätte versuchen können, ist die Annaberger Bühne nun auch wieder nicht.
Angst essen Seele auf
von Rainer Werner Fassbinder
Regie: Karl Georg Kayser, Ausstattung: Frank Chamier, Musikalische Leitung: Markus Teichler, Choreografische Assistenz: Jana Burkert, Dramaturgie: Silvia Giese.
Mit: Tamara Korber, Nenad Zanic, Marvin Thiede, Dennis Pfuhl, Udo Prucha, Gisa Kümmerling, Marie-Louise von Gottberg, Franzy Roscher, Elisabeth Gehlert, Max Kaul.
Länge: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.winterstein-theater.de
Matthias Schmidt sagt im MDR: "Immer, wenn Karl Georg Kayser sich auf die Protagonisten, den Mann und die Frau, verlässt, ist das ergreifend.“ Allerdings sei vieles an der Inszenierung zu plakativ, als traue der Regisseur dem Kammerspiel Fassbinders Stück die große Bühne nicht zu. Dazu würden viele der Szenen "kabarattistisch überformt". Abgesehen von den Hauptdarstellern, würden die Schauspieler so in einem "Immer-noch-was-drauf-setzen" verschwinden.
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