Presseschau vom 25. April 2016 – In der FAZ sprechen Sibylle Berg Lukas Bärfuss und Peter von Matt über Moral und die Aufgabe der Literatur
Erst kommt das Fressen?
Erst kommt das Fressen?
25. April 2016. Sandra Kegel von der FAZ (25.4.2016) hat die Autoren Sibylle Berg, Lukas Bärfuss und Peter von Matt zu einem Gespräch über "Moral" geladen.
Sibylle Berg beklagt: "Moraldiskussionen haftet in der kollektiven Meinung fast etwas Abstoßendes an. Erstaunlich, denn jeder hat doch eine moralische Instanz in sich und weiß, was außerhalb seines kleinen Zirkels in der Welt passiert."
Moral als Bedrohung
Lukas Bärfuss zufolge sei Moral etwas geworden, womit man Leute argumentativ erschlage. Die Frage nach dem Sittlichen werde so zur Bedrohung.
Peter von Matt glaubt, dass die Moral einen so schlechten Ruf habe, hänge entscheidend mit dem Begriff des Moralisierens zusammen. Es gebe kein zusammenhängendes Sittlichkeitssystem mehr haben, sondern bloß eine political correctness, die von Fall zu Fall einzelne Handlungen sanktioniere. "Rassismus, Antisemitismus, Pädophilie, das sind die Todsünden unserer Gegenwart. Daneben gibt es aber viele weitere ebenso abscheuliche Verhaltensweisen, die da seltsamerweise nicht hineinfallen."
Lukas Bärfuss widerspricht dem. Angela Merkel sei für ihre Flüchtlingspolitik moralisch denunziert worden, weil sie auf eine europäische Tradition rekurriert habe, für die die Geschichte der Vertreibung konstituierend gewesen sei. "Wer sich heute aber ahistorisch begreift, oder, wie Peter von Matt sagt, glaubt, sich benehmen zu können, wie er will, steht außerhalb dieser Tradition und muss sie, die ihn eigentlich verpflichten sollte, denunzieren."
Sibylle Berg erklärt ihr Buch "Vielen Dank für das Leben" als eine "Versuchsanordnung" mit Fragen zur Menschlichkeit: "Wie kann die Einzelne ihr Leben ohne eine Verbitterung überstehen. Ohne moralisch zu verkümmern. Wie schafft man es, mitfühlend zu bleiben. Vor allem als Außenseiter."
"Die Isoliertheit des Menschentiers"
Lukas Bärfuss findet es "entscheidend", sich nicht verbittern und von den Entwicklungen im Denken einspuren zu lassen.
Laut Peter von Matt besteht "das Spezifische an der Arbeit des Schriftstellers darin, dass er über das Individuum nicht hinweggehen kann". Die Erfahrung der Isoliertheit des einzelnen Menschentiers müsse von jemandem formuliert werden. "Deshalb braucht es die Literatur, auch als Gegengewicht zur Wissenschaft."
Sibylle Berg gesteht, sie verzweifle an dieser Aufgabe mitunter: "Habt ihr nicht auch manchmal Tage, an denen ihr denkt, das ist elitärer Quatsch, was wir machen?"
Auch Lukas Bärfuss kennt "schwere Vergeblichkeitsattacken" bei seiner Arbeit, hält aber Kulturpessimismus "für keine mögliche Haltung".
(miwo)
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