Verschärfte Proteste der Intermittents in Paris
Vom Polizeiaufgebot begleitet
27./28. April 2016. In Frankreich, vor allem auch in Paris, wird weiter gegen die Änderungen bei der Arbeitslosenversicherung für freie Kulturschaffende protestiert. Am Montag hatten hundert Intermittents, Studenten und Mitglieder der Initiative "Nuit Debout" in der Comédie-Française protestiert und Spruchbänder an der Fassade angebracht.
Die Vorstellung von "Lucrèce Borgia" wurde daraufhin abgesagt, so wie dann gestern Abend "Phèdre(s)" am Théâtre de l'Odéon. In Le Monde (27.4.2016) rechtfertigte Theaterleiter Stéphane Braunschweig die Absage mit dem Aufruf mehrerer Organisationen als auch der Intermittents-Vereinigung CIP, dass die Vorstellung gestört werden sollte. CIP-Mitglieder sagen jedoch, dass man darum gebeten hat, vor der Vorstellung eine Rede zu halten, was das Theater verweigerte. Auch in fünf weiteren französischen Theatern kam es zu neuen Besetzungen und Protesten, die Aufführungen fanden jedoch alle statt.
Die Verschärfung der Proteste hängt damit zusammen, dass am Mittwoch weitere Verhandlungen über geplante Kürzungen in der Arbeitslosenversicherung stattgefunden haben, es heißt, dass heute konkrete Kürzungs-Vorschläge vorgelegt werden, die 400 Millionen Euro Einsparung allein für die Arbeitslosenversicherung der Intermittents vorsieht.
Den Protesten der Kulturschaffenden haben sich in Frankreich zahlreiche andere Bewegungen angeschlossen, wie etwa "Nuit Debout", die die geplante Arbeitsrechtsreform kritisieren. Staatspräsident Hollande und Ministerpräsident Valls haben angekündigt, mit Lockerungen im Arbeitsrecht die Schaffung neuer Arbeitsplätze anzukurbeln. Die Gegner fordern vor allem Maßnahmen, um die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen.
(lemonde.fr / francesoir.fr / cip-idf.org / sik)
Update, wir haben in Paris bei Lena Schneider nachgefragt, welche Unterschiede es in der französischen Arbeitslosenversicherung gibt:
"Es ist offenbar so, dass ein Intermittent im Vergleich zu normalen Arbeitnehmern vor allem länger Arbeitslosengeld bekommt - aber erst wenn er, und da liegt die Crux, in einem bestimmten Zeitraum davor eine bestimmte Anzahl von Stunden gearbeitet hat. Konkret sind das 507 Stunden in 10,5 Monaten (für Künstler) bzw. 10 Monaten (Techniker). Wenn das geschafft ist, dann bekommen sie für die 507 gearbeiteten Stunden (3,5 Monate) bequeme acht Monate Arbeitslosengeld.
Das führt auch zu Neid, denn: Normale Arbeitnehmer bekommen im Vergleich pro gearbeitetem Tag nur einen Tag Arbeitslosengeld. Dafür müssen haben sie aber auch mehr Zeit: 610 Arbeitsstunden in 28 Monaten müssen sie vorweisen, um eine Unterstützung zu bekommen. Für die 610 Stunden bekommen sie dann nur 4 Monate lang Geld (und ein Intermittent für 507 Stunden acht Monate).
Theoretisch ein luxuriöses Model für die Intermittents. Ich habe mir aber sagen lassen, dass es für viele Intermittents gar nicht einfach ist, auf die besagte Stundenzahl zu kommen. Sie haben den Intermittent-Status, ohne jemals von dem Arbeitslosengeld zu profitieren.
In der Nacht auf Donnerstag hatten sich Angestellten und Arbeitgeber der Theatergilde geeinigt - aber eine Einigung steht noch aus, daher auch noch kein Normalbetrieb im Odéon. Die Unédic (Arbeitgebervereinigung) muss dem Vorschlag noch zustimmen. Vielversprechend für die Intermittents ist, dass Künstler und Techniker jetzt 12 Monate Zeit bekommen sollen, um die 507 Arbeitsstunden zu sammeln. Der Staat will 90 Millionen (statt bisher 80) zuschießen, um das Loch von 185 Millionen im Intermittent-Topf zu stopfen."
Die Besetzung des Théâtre de l'Odéon ist in der Nacht von Donnerstag auf Freitag durch ein Polizeiaufgebot aufgelöst worden. Die Comédie-Française bleibt besetzt, die Vorstellung im großen Haus musste am Donnerstag ausfallen. Das ebenfalls besetzte Théâtre National de Strasbourg (TNS) hat angekündigt, dass zwei Vorstellungen nicht stattfinden werden.
Mehr dazu:
Proteste der Intermittents in Frankreich – Meldung vom 18. April 2016
Streik: Eröffnung des Festivals d'Avignon fällt aus – Meldung vom 4. Juli 2014
Die Frankfurter Allgemeine über die Streiks der freien Kulturschaffenden in Frankreich – Presseschau vom 7. Juli 2014
Wir halten Sie auf dem Laufenden
Wir sichten täglich, was in Zeitungen, Onlinemedien, Pressemitteilungen und auf Social Media zum Theater erscheint, wählen aus, recherchieren nach und fassen zusammen. Unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrem finanziellen Beitrag.
mehr meldungen
meldungen >
- 28. März 2024 Berliner Theatertreffen: 3sat-Preis für Jenaer Arbeit
- 28. März 2024 Berlin/Bremen: Geschäftsführer Michael Helmbold verstorben
- 28. März 2024 Neues Präsidium für Deutsche Akademie der Darstellenden Künste
- 26. März 2024 Günther-Rühle-Preise vergeben
- 26. März 2024 Mülheimer Theatertage: Preisjurys berufen
- 26. März 2024 Theatertreffen der Jugend 2024: Auswahl steht fest
- 26. März 2024 Schauspieldirektor Maik Priebe verlässt Neustrelitz
- 25. März 2024 Dramatikerpreis für Correctiv-Autor:innen L. Lax und J. Peters
neueste kommentare >
-
Medienschau Volksbühnen-Chance Basel-Modell statt nur Namen
-
Medienschau Volksbühnen-Chance Dreamteam
-
Biedermann & Brandstifter, Zürich Stemann pur
-
Preisjury Mülheim Zeit für Neuanfang
-
Orpheus steigt herab, Wien Unruhe
-
Medienschau Volksbühnen-Chance Ostereier und gutes Doppel
-
Der große Wind der Zeit, Stuttgart Nachfrage
-
Medienschau Volksbühne Avantgarde und Klassenkampf
-
Orpheus steigt herab, Wien Kassenschlager
-
Auswahl Mülheim Strukturproblem?
Trotz dieser speziellen Arbeitslosenversicherung, die in Europa einmalig ist, hat sich die Lage der Beschäftigten enorm verschlechtert, so daß nur ca. 50% die Bedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld erfüllen. Und auch die Lage der anderen 50% ist alles andere als rosig. Die Hälfte aller derjenigen, die Anrecht auf die Arbeitslosenversicherung haben, verdienen weniger als den staatlich festgesetzten Mindestlohn (SMIC), das Durchschnittseinkommen der Zeitarbeiter, die während der beschäftigungslosen Zeit Arbeitslosengeld beziehen beläuft sich auf 7655€ pro Jahr, d.h. 638€ pro Monat.
Die spezielle staatliche Arbeitslosenversicherung für Künstler und Techniker mit Werkverträgen ist angegliedert an die allgemeine Arbeitslosenversicherung UNEDIC. Sie sieht ein Arbeitslosengeld für die Überbrückungszeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden Werkverträge vor. Die maximale Überbrückungszeit betrug bislang 12 Monate. Die Mindestanwartschaftszeit, die zum Erhalt des Arbeitslosengeldes notwendig ist, beträgt bislang 507 Arbeitsstunden (Probenstunden und Vorstellungen) im Lauf der letzten zwölf Monate vor Beantragung des Arbeitslosengeldes. Das Arbeitslosengeld richtet sich nach der Höhe der Wochen- bzw. Monatsgage. Der Mindesttagessatz liegt zur Zeit bei 24,24€. Die Versicherungsbeiträge werden zu gleichen vom Vertragsnehmer und dem Vertragsgeber bezahlt. Die Beitragssätze zu dieser Spezialversicherung sind prozentual höher bemessen als in der allgemeinen Arbeitslosenversicherung. Die Bedingungen der Arbeitslosenversicherung im Bereich Theater und audiovisuelle Medien werden nicht wie in Deutschland durch den Gesetzgeber festgelegt, sondern zwischen den Tarifparteien ausgehandelt, dabei werden Arbeitgeberseite durch den französischen Unternehmerverband MEDEF, den Verband der kleinen und mittelständischen Betriebe CGPME, die Berufsunion der Handwerker UPA vertreten, die Künstler und die Techniker durch eine beträchtliche Anzahl von Gewerkschaften>>>>http://www.utopieprojekt.de/docs/adzsdft01.html
Wahrscheinlicher ist, dass die Lage auch hier viel ernster ist. Vielleicht wurden Sie ja abgehängt und haben keine Privilegien mehr?
Zeit sich zu verbrüdern!
Zeit, Solidarität zu zeigen!
https://www.facebook.com/CipIdf/photos/a.194895194007349.1073741828.190641851099350/578890952274436/?type=3&theater
Natürlich wurden auch die klassischen Streikbrechermethoden eingesetzt und S. Braunschweig sprach von der Störung der Veranstaltung!
Ist eigentlich von der Generation Baby Boomer in Deutschland mehr zu erwarten?
Gibt es Sprachregelungen des Deutschen Bühnenvereins?
Was ist mit den ganzen Menschenrechtsbewegten?
Wo bleibt die Berichterstattung?