Leise Stimmen aus der Wirklichkeit

von Stefan Keim

Recklinghausen, 8. Mai 2016. Unaufwändiger kann Theater kaum sein. Fünf Schauspieler sitzen im Hintergrund der leeren Bühne. Jeweils einer kommt nach vorn und erzählt im Spot eine Geschichte. Zwischen den Monologen singt ein Musiker poetische Liedtexte aus Ägypten und begleitet sich auf der Oud. Die einfache Form ermöglicht absolute Konzentration auf das, was die Menschen auf der Bühne zu erzählen haben. Und das liefert berührende Einblicke in eine Gesellschaft, die Anfang 2011 auf der Kippe stand.

Um die 800 Demonstranten starben beim Volksaufstand gegen die Regierung von Präsident Hosni Mubarak. Einer davon ist Ahmed, ein 17jähriger Junge, der Stolz seiner Mutter. Zunächst beschreibt  die Frau den Tod ihres Sohnes. Dann geht es um die Ereignisse danach, ihren Kampf um einen Prozess, den Zynismus der Anwälte und Richter, die immer wieder von ihr den Namen des Mörders verlangen. Wenn sie den nicht wüsste, könne sie keine Anklage erheben. Die Schauspielerin Arfa Abdelrasoul verkörpert eine Frau, die sich mit aller Kraft ihrer Gedanken daran fest klammert, dass Ahmeds Tod nicht umsonst gewesen ist. Eine Straße, sogar seine Schule sei nach ihm benannt worden, er sei ein Märtyrer, sagt sie. Manche würden ihn sogar um seinen heldenhaften Tod beneiden. Ob das stimmt oder ihrer Fantasie entspringt, bleibt unklar. Sicher ist, dass diese Frau solche Bestätigungen braucht, um weiter leben zu können.

Konsequent authentisch

Der Autor Shadi Atef hat zusammen mit der Compagnie El Warsha aus Kairo Geschichten aus dem realen Leben gesammelt. Zum Teil wurden zwei oder mehr Erzählungen für das Bühnenstück "Zawaya. Zeugnisse der Revolution" zusammen gefasst. Mit dem Begriff "Dokumentartheater" kann Regisseur Hassan El Geretly, der die Gruppe 1987 gegründet hat, wenig anfangen. Ihm geht es um die Tradition des "story telling", die in der arabischen Kultur stark verwurzelt ist aber selten den Weg auf die Bühne findet. Die Schauspieler sprechen zumeist mit leisen Stimmen, setzen keine dramatischen Höhepunkte, wirken absolut glaubwürdig. Der Verzicht auf alle Effekte ist konsequent. Jede Form von Inszenierung würde die Authentizität beschädigen.

Zawaya 560 Tamer Eissa u Sie bringen auch die Geschichten derer auf die Bühne, die nicht mehr selbst erzählen können
© Tamer Eissa

Die temperamentvollste Figur ist ein ehemaliger Dieb und Kleinganove, der sich fest vorgenommen hat, nach der Revolution nur noch gesetzestreu sein Geld zu verdienen. Er hält sich alle Möglichkeiten offen, ein Überlebenskünstler, der es sich mit niemandem verderben will. Interessanterweise äußert gerade er Verständnis für die rigiden Moralvorstellungen der Muslimbrüder, die nach dem demokratischen Aufbruch in Ägypten schnell wieder erstarkten und die nächste Wahl gewannen. Denn schließlich wisse nun jeder Dieb, dass er das Risiko eingehe, die Hand abgehackt zu bekommen. Wenn man ihn erwischt. Ähnlich mitleidslos berichtet ein Fußballfan von seiner Beteiligung an den Protesten. Politische Beweggründe hätten seine Freunde und ihn nicht auf den Tahrir-Platz getrieben, erzählt er. Sondern die Tatsache, dass da was los war, dass es Action gab. Sie waren bereit zu kämpfen und zu sterben. Wie ernst diese Sprüche gemeint sind? Das ist wieder eine Frage, die das Publikum selbst beantworten muss. Regisseur El Geretly stellt die Geschichten unkommentiert nebeneinander, als poetisch verdichtete Collage .

Das Recht zu trauern

Der Sänger Yasser El Magrabi trifft in seinen Liedern noch am ehesten politische Aussagen. Aber sie bleiben auf allgemeiner Ebene. Da geht es um den Stolz Ägyptens und den Mut der Revolutionäre. Das passt zum Monolog eines Offiziers, der den Gedanken leidenschaftlich von sich weist, auf andere Ägypter zu schießen. Letzten Endes sind es solche Befehlsverweigerungen, die den Erfolg vieler Aufstände erst ermöglichen. Einen bedrückenden Einblick in ein Leichenschauhaus liefert eine Krankenschwester. Erst finden lange Verhandlungen statt, ob Angehörige ihre Toten überhaupt sehen dürfen. Sie müssen sich erst das Recht erstreiten, sich dem Grauen auszusetzen, die verstümmelten Leichen anzuschauen, zu trauern.

Die Deutschlandpremiere bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen verlief nicht ungestört. Dreimal dröhnte der Pausengong der parallel laufenden Vorstellung im großen Haus in die Aufführung. Die Ruhrfestspiele hatten zudem einige Flüchtlinge eingeladen, die zum Teil nicht so recht wussten, was sie mit diesem durchaus anstrengenden und spröden Abend anfangen sollten. Sie murmelten, ein Kind plapperte, viele schauten immer wieder in ihre Handys. Außerdem gerieten die Übertitel manchmal durcheinander. Die Konzentrationsleistung des Ensembles kann da nicht genug gewürdigt werden. Sie blieben ruhig, glaubhaft, ganz auf die Geschichten konzentriert, die sie zu erzählen hatten. Und die hatten Wirkung auf alle, die zuhören wollten.

 

Zawaya. Zeugnisse der Revolution
von Shadi Atef
Regie: Hassan El Gerethy, Musik Yasser El Magrabi, mit Arfa Abdelrasoul, Seif El Aswany, Donia Maher, Hassan Abou al Rous, Ahmed Shoukry und Yasser El Magrabi.
Dauer 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de


Kritikenrundschau

"Fünf Monologe gegen das Vergessen, auf arabisch, deutsch übertitelt. Erhellende Streiflichter aus einem Land, in dem eine brüchige Friedhofsruhe herrscht." Zurückhaltend im Urteil, aber bewegt durch Einzelszenen berichtet Kai-Uwe Brinkmann in seiner Kurzkritik für die Ruhrnachrichten (8.5.2016) von diesem Abend.

 

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