Die Angst des Fußballfans vorm Theater

von Wolfgang Behrens

10. Mai 2016. In einer Woche wird Jürgen Klopp seine Liverpooler ins Europa-Cup-Endspiel gegen den FC Sevilla führen, und unter normalen Umständen würde ich da am Fernseher kleben, eine Flasche Bier in der Hand, und laut "Trust in Klopp" brüllen. Tatsächlich aber werde ich irgendeine Vorstellung des Theatertreffens abhocken. Anderthalb Wochen später ist dann das Champions-League-Endspiel, anstatt jedoch, wie es natürlich wäre, Atletico in einer Fußball-Kneipe die Daumen gegen den Erzfeind Real zu drücken, werde ich in der "Zauberberg"-Premiere am Deutschen Theater sitzen, um danach die Nachtkritik zu schreiben. Ehrlich gesagt, ich verstehe die UEFA nicht: Wie kann sie diese wichtigen Spiele parallel zum Theatertreffen und zu einer großen Theaterpremiere legen? Und wie soll das, bitteschön, erst während der Europameisterschaft werden?

"Kinder spielt schneller! Is' Fußball!"

Das Problem Theater versus Fußball hat mich schon verfolgt, als ich noch ein Zuschauer war. Als Deutschland Weltmeister wurde, zum dritten Mal, am 8. Juli 1990, stieg in Frankfurt die Dernière von Einar Schleefs "Faust" und zugleich endete die Intendanz Günther Rühle mit einer großen Party. Also, jetzt mal Klartext: Jeder wird mir glauben, dass ich echt echt echt ein Einar-Schleef-Fan war und bin – aber in diesem Fall habe ich mir dann doch lieber Andi Brehmes Elfmeter angeschaut. Sorry, Einar!

kolumne 2p behrensImmerhin leidet man als fußballinteressierter Kritiker oder Zuschauer nicht allein, denn viele Theaterleute sind ja auch Fußballfans. Von dem am Landestheater Schleswig-Holstein im Engagement stehenden Schauspieler Stefan Hufschmidt ist zu vernehmen, dass er zu seinen Kolleg*innen schon einmal ein "Kinder, spielt schneller! Is' Fußball!" fallen lässt. Ihm gehört unsere ganze Sympathie. Wie auch Matthias Matschke, der sich während der Weltmeisterschaft 1998 als Zwischenstand-Bote verdient machte. In Christoph Marthalers Inszenierung von Offenbachs "Pariser Leben" baute er so tiefsinnige Sätze ein wie: "Wir sind verrückt! Wir suchen das Glück in der Ferne, und haben es leicht bei der Hand, und es steht weiterhin 0:0." Oder, besser noch: Als er (im Gesangs-Ensemble "Hinten hat der Rücken so ein Loch!") in enganliegender Uniformjacke, aber von da ab nach unten ohne jegliche Bekleidung auf die Bühne kam, hatte er auf den nackten Hinterbacken dankenswerter Weise das aktuelle Ergebnis notiert: auf der linken Backe 1, auf der rechten 0. Das nenne ich Einsatz!

Vinge kackt, Fernsehbild bricht zusammen

Ganz schlimm kam's 2012 beim sogenannten "Finale dahoam" zwischen dem FC Bayern und dem FC Chelsea. Ohne Rücksicht auf Verluste hatte die UEFA das Spiel auf den Termin der letzten Vorstellung von Vegard Vinges zwölfstündigem "John Gabriel Borkman"-Wahnsinn im Volksbühnen-Prater gelegt – also parallel zum wohl kultigsten Theater-Event der letzten ein-, zweihundert Jahre. Den Technikern freilich war wohl auch an dem Spiel gelegen, und so versuchten sie immer wieder, das Spielgeschehen in Vinges Exzesse hinein auf die Bühne zu projizieren. Beim Elfmeterschießen schalteten sie dann endgültig auf Fernsehbild um. Man sieht also Schweinsteiger anlaufen (irgendwo hopst oder uriniert auch Vinge noch herum), Schweinsteiger läuft, Schweinsteiger schießt – – – und die Leitung bricht zusammen. Ein paar Sekunden Bildausfall, dann sieht man wieder Schweinsteiger mit einem Trikot über dem Gesicht. Keiner weiß, was los ist, schließlich gibt die Leitung komplett den Geist auf. Ich habe das Ergebnis des Elfmeterschießens erst Jahre später einer vergilbten Fußballchronik im Internet entnommen.

Man muss es einfach mal aussprechen: So korrupt wie DFB, FIFA und UEFA sich bekanntlich präsentieren, werden sie wohl auch weiterhin mit ihren Halbfinals und Endspielen in Konkurrenz zu wichtigen Theaterterminen treten (wer weiß, wer in Wahrheit dahintersteckt: der OB von Rostock? der Kultusminister von Sachsen-Anhalt? die Stadt Hagen?). Es bleibt also nur der Appell an den Klügeren, ans Theater: Bitte, liebe Theater, schaut doch vor euren Ansetzungen mal auf die Fußball-Spielpläne! Eine erste Maßnahme könnte zum Beispiel sein, das Theatertreffen in den Januar zu verlegen – da findet fußballmäßig nämlich rein gar nichts statt. Jedenfalls bis 2022.

 

behrens2 kleinWolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.

 

Zuletzt schrieb Wolfgang Behrens an dieser Stelle über das korrekte Bravo-Rufen auf den richtigen Plätzen im Theater.

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Kommentare  
Kolumne Angst des Fußballfans: FESTPLATTENREKORDER!!!
In Wahrheit rufe ich: "Ich will nichts hören!!", weil irgendein junger Kollege meint, mir einen Gefallen zu tun, wenn er das Ergebnis, das er gerade auf seinem IPhone liest, herausposaunt. Ich fahre nämlich an diesen Tagen, den Kopfhörer auf, nach der Vorstellung schnell nach Hause zu meinem Festplattenrekorder, immer um mich spähend, dass mir auch ja kein Passant das Ergebnis entgegenbrüllt.
FESTPLATTENREKORDER!!! Das geht! Klar wirst du jetzt sagen, das ist nicht dasselbe. Aber wenigstens so ähnlich. Und gegen korrupte Fussballstrukturen ist alles recht, oder?
Früher aber traten Kollegen an so Abenden auf der Bühne neben einem auf und öffneten diskret das Jackett, an dessen Innenseite ein Zettel mit "Rummenigge, 1 0, 22. Minute", befestigt war.
Ich aber bin in der glücklichen Situation, dass der Disponent genau weiss, wann wer spielt. Sollte überall ein Anstellungskriterium sein...
Kolumne Angst des Fußballfans: Erinnerung
Erinnere mich an Uwe Bohms Peer Gynt am Berliner Ensemble, der mit "Die Griechen sind Europameister" die Bühne wieder betrat.
Kolumne Angst des Fußballfans: Vorschläge
Bin ich total dafür. Für tt im Januar oder Februar. Schon wegen der in Verlegeheit gebrachten Lektoren, die zwischen tt, Heidelberger Stückemarkt, Mühlheim und Ruhrfestspielen sich scoutisch abhetzend kaum mehr ihr eigenes Wort in der Fülle ihrer Gedanken verstehen- geschweige denn ein ihnen klassisch angetragenes fremdes!! Und das mit den Backen-Anzeigen ist wirklich klasse. Kann man dasselbe nicht auch publikumsspezifisch an andere als Fußball-Bedürfnisse anpassen? Z.B. mit auf barbrüstigen Darstellerinnen aufgemalten Aktienkursen???!! - Das wäre total toll für etwas betagtere Aktionäre! Weil die nicht so schnell an ihren Augen vorbeirasen wie in anderen Börsen. Als Theatern. Oder wie bei der Fernsehlaufspur... Die notierten Unternehmen würden dann horrende Bestechungsgelder an die Theater bezahlen, weil sie wüssten, dass der Blick auf diese Art und Weise viel länger auf ihrer Aktie ruhen würde als üblich, was sich gewiss sehr auszahlte! Hahhahaha- da könnte der Bühnenverein sehen, wo er bleibt mit seinen gekrampften Bemühungen um Theatererhalt!!! -
Kolumne Angst des Fußballfans: weitere Anekdoten
Lieber Wolfgang Behrens,
ich habe mich damals für Schleef entschieden, es war auch, wenn ich mich recht erinnere, die letzte "Faust"-Aufführung der Inszenierung. ich war vorher im Urlaub, da muste ich hin. Und trotzdem wussten wir Schleef-Enthusiasten am Ende das Ergebnis, denn als das einzige Tor fiel, haben die Frankfurter Fernsehzuschauer und Radiohörer laut gebrüllt, das hörte man auch im Bockenheimer Depot. Der Treffer fiel sehr spät, ein paar Minuten später der definitive Siegesschrei: Deutschland war Weltmeister. Die Weltmeisterschaft ist inzwischen vergessen, Schleefs "Faust" gesehen zu haben, das bleibt in der Erinnerung.
Wenn hier schon Anekdoten erzählt werden, hier noch zwei. Europapokalendspiel mit Eintracht Frankfurt, den Gegner weiß ich nicht mehr. Prinzregententheater München, Ferenc Fricsay dirigierte "Otello". An einem solchen Abend, dachte ich, gibt es sicher Studentenkarten. So war es auch, wunderbarer Platz zwei oder drei Reihen hinter dem Dirigenten. Wer den Spielverlauf wissen wollte, das waren die Orchestermusiker, nicht so sehr, glaube ich, die Zuschauer. Jedenfalls, nach der Pause kam kurz vor Fricsay noch jemand zum letzten Pult und flüsterte den Zwischstand, die Eintracht lag schon weit zurück, die stille Post ging noch durchs ganze Orchester, dann gab Fricsay den Einsatz, er dirigierte so intensiv, das Musiker und Zuschauer die arme Eintracht ganz schnell vergessen haben.
Am lustigsten war ein Sonntagnachmttag in Köln, ein sehr berühmter deutscher Boxer, ich weiß den Namen nicht mehr, einen wichtigen Kampf hatte. In der Oper Ballett, zuletzt "Bolero" von Ravel. Das Orchester beginnt mit wenigen Musikern, dann kommen allmählich nacheinander die anderen dazu. Ich konnte gut in den Orchestergraben sehen, die meisten kamen erst ein paar Sekunden vor ihrem Einsatz, perfektes Timing. Und nach dem dramatischen Schlussakord waren sie so schnell verschwunden, dass ich mich wunderte, wie sie den Schluss überhaupt hingekriegt hatten. Dann trafen sich alle Interessenten, Musiker und Zuschauer, draußen vor dem Opernhaus, um einen Kofferradio versammelt.
Wenn große Sport- und Kulturveranstaltungen aufeinanderstoßen, kann das nicht nur für die Zuschauer ein Problem sein, sondern auch für die Künstler. Und merkwürdig, dass man solche ja banalen Erlebnisse nicht vegisst. Der Fricsay-Otello liegt gut 50 Jahre zurück. Sie haben diese Erinnerungen wieder hervorgerufen, lieber Wolfgang Behrens. Einen schönen Abend,
Wilhelm Roth
Kolumne Angst des Fußballfans: Ähnliche Erinnerungsqualität
Lieber Herr Roth, nur dass hier keine Missverständnisse aufkommen: Es ist nicht so, dass ich Schleefs Frankfurter "Faust" gar nicht gesehen hätte, ich war nur nicht bei dieser allerletzten Aufführung. Und in einem muss ich Sie korrigieren: Die WM 1990 ist mit mitnichten vergessen. Ich habe Freunde, die mir einzelne Spiele oder das Finale derartig detailfreudig schildern können, als hätte die WM erst gestern stattgefunden. So wie ich auch Details aus Schleefs "Götz" oder dem "Faust" schildern könnte, als wären die Aufführungen erst gestern über die Bühne gegangen. Ich glaube, dass sich Theater und Sport in der Erzeugung dieser Erinnerungsqualität durchaus ähneln.
Kolumne Angst des Fußballfans: FC Sevilla
Der FC Sevilla hat gewonnen.
Kolumne Angst des Fußball-Fans: Wer jubelt mehr?
Wenn wir hier schon bei Anekdoten sind:
WM 2014, noch nicht lange her, parallel bei den Heidelberger Schlossfestspielen Christian Breys Inszenierung von Molières "Geizigem". Die Spielstätte "Dicker Turm" des Heidelberger Schlosses hat einen wunderbaren Blick über die gesamte Heidelberger Altstadt, Heidelberg selbst ist wiederum international genug, dass bei jedem Spiel genug Menschen der jeweiligen Nationalität irgendwo Public Viewing betreiben. Man war also bei jeder Vorstellung immer aufgrund des aus dem Neckartal aufbrandenden Jubels im Bilde über den Spielverlauf (wenngleich man sich, von Deutschlandspielen abgesehen, nie sicher sein konnte, wer denn jetzt eigentlich gerade getroffen hat).
Am schönsten war es bei der Premiere des Geizigen. Diese fiel auf den Termin des zweiten Gruppenspiel Deutschlands gegen Ghana. Und Mario Götzes zwischenzeitlicher Führungstreffer fiel genau parallel zum Schlussapplaus. Welcher vom Jubel aus der Altstadt prompt übertönt wurde.
Dieses Jahr blüht uns dieses Schicksal wohl wieder. Wir haben konsequent bei (fast) jedem Spiel mit deutscher Beteiligung Vorstellung von "Sherlock Holmes" - unter anderem am Tag des Finales. Wer denkt sich sowas aus!
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