Am wärmenden Fegefeuer

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 11. Juni 2016. Eine hübsche Nase hatte Kleopatra, groß und spitz. In den Asterix-Comics jedenfalls geriet Cäsar darüber in Verzückung. Und auch Wolfgang Michalek am Staatstheater Stuttgart steht seine auffällige Nase nicht schlecht. Er steckt sie sich als Tschitschikow gleich zu Beginn ins Gesicht: Riesig ist sie und sehr krumm, eben genauso markant wie das Spiel des großen Verwandlungskünstlers. Als er sie am Ende zum Verbeugen absetzt, fehlt etwas. Michalek hat sich in den Papp-Zinken hineingespielt. Diese Reminiszenz an Gogols Erzählung "Die Nase" von einem, der selbige verlor, ist nett. Und Gogols Antlitz selbst soll ja auch ein übermäßig langer, spitzer Gesichtserker geziert haben.

Assoziationen löst Sebastian Baumgartens Bühnenadaption von Nikolai Gogols Roman "Die toten Seelen" noch und nöcher aus. Bearbeitet wurde der erste, 1842 erschienene Band des Meisterfragments. Das finstere Bühnenbild im Stuttgarter Schauspielhaus ist passend zum Thema halloweenig gestaltet: Thilo Reuther pflanzte in die Mitte einen riesigen schwarzen Totenkopf, in dessen leeren Augenhöhlen zwei tapezierte Zimmerchen Beamtenhandlungen zur Verfügung stehen. Manchmal hocken Männer im Hirnkastl, die in Schreibmaschinen hacken und den Text mit geheimnisvoll illuminierten Mündern skandieren. Und wenn der Totenkopf auf der Drehbühne rotiert, wird das von höllischem Gelächter und brüllenden Toncollagen begleitet. Ein Albtraum! Das Fegefeuer ist nicht weit. Aus dem Off kommentiert eine Menschenmenge immer wieder das Geschehen durch Lachen und Klatschen. Die toten Seelen?

Russia today: Saufen, beten, singen

Da, wo die Zähne einen angrinsen müssten, sieht man aber Gefängnis-Gitter, die den gigantischen Schädel umzäunen: Die toten Seelen waren ja im Leben Leibeigene. Aber warum haben auch die Grundbesitzer dahinter ihre Wohnung? Die abergläubische alte Witwe Korobotschka etwa, die zwischen Kreuzen, Ikonen und Kerzen haust. Vorne auf den schwarzen Holzbrettern, die die Bühne rahmen, werfen Videoprojektionen grässliche Schatten: Bilder geschundener Körper, toter Kinder, von Kriegsopfern und Arbeitslagern. Klar, die Geschichte Russlands ist ein blutige, ungerechte, gemeine. Und man säuft viel Wodka und betet und singt sentimentale Lieder.

ToteSeelen 560 bettina stoess uIm Schädel, um den Schädel und um den Schädel herum: Hanna Plaß, Paul Grill, Wolfgang Michalek,
Michael Stiller, Svenja Liesau, Horst Kotterba, Christian Czeremnych © Bettina Stöß

Gogols Roman ist ja eigentlich brandaktuell: Der Emporkömmling Tschitschikow reist durch die russische Provinz und kauft von den Gutsbesitzern "tote Seelen" auf, also die Namen verstorbener Leibeigener. Eine raffinierte Geschäftsidee: Weil die Toten noch in den staatlichen Steuerlisten geführt werden und die Besitzer für sie bis zur nächsten, nur alle zehn Jahre stattfindenden Revision Abgaben zu leisten haben, kauft Tschitschikow sie auf, um sie an Kreditinstitute zum Marktwert Lebender zu verpfänden. Eine riesige Spekulationsblase! Das erinnert an die Praxis der vom schnellen Reichtum geblendeten, nach neuen Investitionsgütern geifernden Investmentbanker und der vor Geldgier blinden Hypothekensammler, -bündler und -verkäufer, die gemeinsam 2007 die globale Finanzkrise auslösten.

Commedia dell'arte liegt in der Luft

Aber in Sachen Zeitaktualität bleibt Sebastian Baumgarten unentschlossen. Da hängt ein Putin-Konterfei an der Wand, und Tschitschikow whatsapped auch mal herum. Aber Gogols hochunterhaltsame und brillante Darstellung der furchterregenden gesellschaftlichen Wirklichkeit im zaristischen Russland bleibt in Stuttgart zwischen den Zeiten hängen. Dafür wird auf der Bühne ordentlich herumgekaspert. Zu viel, aber gekonnt. Commedia dell'arte liegt in der Luft, wenn Michalek als Tschitschikow sich die Seele aus dem Leib spielt – gleich einer Mischung aus Pantalone und Dottore. Grandios, wie schnell er sich wandeln kann: vom clownesk übertriebenen Hansdampf in allen Gassen in einen zu Tode verzweifelten Einsamen. Und auch die anderen geben ihr Bestes: etwa Johann Jürgens als gewalttätiger, versoffener, mit russischem Akzent quasselnder Nosdrjow, der Tschitschikow ständig feuchte Küsse auf die Lippen drückt. Oder Paul Grill als berlinernder Proll Sobakewitsch und als seine naive Gattin: der große schlaksige, auf seinen Stöckelschuhen herumstaksende Christian Czeremnych. Oder Svenja Liesau als krasser Geizhals und verwahrloster Tattergreis Pljuschkin und Horst Kotterba als misstrauische Witwe Korobotschka.

Die Regie scheitert derweil an der Vorgabe, Gogols geniale Prosa angemessen auf die Bühne zu bringen. Weil die Personage in der schablonenhaften Karikatur steckenbleibt, weil sich Tschitschikows Rundreise durch die Provinz als nicht theaterdramatisch effektiv genug erweist. Redundanzen zeitigen Längen, die auch das brillante Ensemble nicht immer überspielen kann. Das Original lebt eben von der pointenreichen, oft überraschenden, bis ins Detail ausgearbeiteten Sprache. Und vor allem: Der bis ins Groteske übertreibenden Verzerrung steht immer auch die sehr genaue, realistische Zeichnung gegenüber. Das auf die Bühne zu übertragen, ist so gut wie unmöglich.

Tote Seelen
nach dem Roman von Nikolai Gogol
Deutsch von Vera Bischitzky, für die Bühne bearbeitet von Sebastian Baumgarten
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Musik: Jörg Follert, Video: Hannah Dörr, Licht: Sebastian Isbert, Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Christian Czeremnych, Paul Grill, Johann Jürgens, Horst Kotterba, Svenja Liesau, Wolfgang Michalek, Hanna Plaß, Michael Stiller.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 


Kritikenrundschau

"Ein Meisterstück der Regiekunst" hat Cornelia Ueding für den Deutschlandfunk (12.6.2016) in Stuttgart erlebt. "Kein Zeigefinger, keine Belehrung, kein Identifikationsangebot. 'Nur' eine Performance auf dem Theater, für das Theater, die Distanz zu den Figuren schafft – eine besondere, ja geniale Lesart der Verfremdung im Sinne von Brechts epischem Theater."

In der Stuttgarter Zeitung (online 12.6.2016) zeigt Roland Müller überaus angetan von der "Komplexität der Inszenierung", die sich durch "starke Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen und dem Verstand auch erschließen", auszeichne. "Ohne scharfes Mitdenken indes sind die 'Toten Seelen' in Stuttgart nicht zu haben. Ist die Inszenierung also verkopft? Ja, das ist sie, aber zwei starke Stunden doch auf eine so kluge und anregende Weise, dass man über die Aufführung von Sebastian Baumgarten noch lange nachdenken kann. Sie lässt Raum für Interpretationen."

Im Laufe "eines aufwändig choreographierten technischen Spektakels, an dem sich die Schauspieler heldenhaft abgearbeitet haben", stellt sich bei Nicole Golombek von den Stuttgarter Nachrichten (13.6.2016) doch "Ermüdung ein". Baumgartens "Stationendrama erschöpft sich, brav dem Roman folgend, in zu vielen Variationen des Immergleichen". So winkt die Kritikerin final ab: "Der enorme Bühnenaufwand dient hier der Verbreitung eines einzigen Gedankens: Geld verdirbt den Charakter. Das ist, bei aller Wahrheit und bei aller Begeisterung für das virtuose Ensemble, vielleicht doch ein bisschen schlicht."

Die "die beste Produktion seit langem" hat Otto Paul Burkhardt für die Südwest Presse (13.6.2016) in Stuttgart erlebt. "Eine wilde, ins Groteske driftende Gesellschafts-Satire, knallig gespielt, bezugs- und bilderreich inszeniert."

Für Martin Halter von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.6.2016) sind "Die toten Seelen" in Stuttgart "durchaus lebendig, aber es sind doch eher Zombies, Frankenstein-Kreaturen und Gothic Girls aus dem alten Russland als Menschen". Baumgarten inszeniere eine "rasante Geisterbahnfahrt"; seine "Groteske ist schwarz, aber immer noch allzu bunt und harmlos. Bei Gogol hat jede Figur eine 'Grille', die sie auszeichnet, in Stuttgart sind es oft hohl tönende, gegen den Gender-Strich gebürstete Karikaturen, die raufen, saufen, singen und vor Ikonen beten." Schmerzlich bemerkbar mache sich das "Fehlen von Gogols origineller, poetischer, übermütig verspielter Erzählerstimme"; "und die episodische Struktur des Abends ermüdet dann doch."

 

Kommentare  
Tote Seelen, Stuttgart: Zustimmung
Ja. Das ist wohl so. Nicht nur so gut wie. Wenn es anders wäre, hätte ein Meister wie Gogol es als Stück geschrieben.
Tote Seelen, Stuttgart: Korobotschka
Auf die Gefahr hin, der Beckmesserei bezichtigt zu werden: Dass im Schlager der 1950er Jahre von den Moskauer Nächten - einem der zahlreichen bewussten Anachronismen, die, wie richtig bemerkt, weder zu Putin noch zur Leibeigenschaft passen - mehrmals "podmoskovnoje" statt "podmoskovnyje" gesungen wird - geschenkt. Es mag auch Sprachen geben, in denen der griechische Name Penelope auf der vorletzten Silbe betont wird. Aber die Korobotschka (das "Körbchen") muss definitiv auf der zweiten und nicht der vorletzten Silbe betont werden, wenn man Russen keinen Tort antun will. Es gibt doch genug Russen in Stuttgart und sogar am Staatstheater, die man hätte befragen können.
Tote Seelen, Stuttgart: Publikum ausgewechselt
Es war wieder: wieder! Klamauk(!), Radau, sehr laut, wenig stringente Handlung bzw. Entwicklung, deutlich zu lang, der letzte Teil ermüdend.
Wie immer in Stuttgart bei den vielen Literaturvermahlungen: Was hilft es festzuhalten, dass das mit Gogols Realismus nichts zu tun hat, so wenig wie das bei der Brecht-“Bearbeitung“ der Fall war. Solange es der politischen Klasse zusagt, bzw. deren Frauen erheitert, ist in Stuttgart nichts mehr zu wollen.
Sozialkritik wurde in den ersten Sekunden abgehandelt, als an die Seitenwände verstrahlter Text, der sich aber rasch verflüchtigte.
Die Wand-Bilder im Hintergrund etwas Dix etwas Geisterbahn.
Der Totenkopf auf der Bühne ganz nett als Idee, als eine doch etwas äußerliche Assoziation.
Interessant ist, und da frage ich mich, ob das andere hier auch so sehen, dass langsam das Premierenpublikum ausgewechselt wird. (Am Morgen gab es noch Karten für die teureren Plätze, also nicht ausverkauft!).
Vielleicht kommen ja jetzt mehr Leute ins Theater, die zwar von den großen Namen mal was gehört haben, aber viel damit nicht verbinden können, sondern eher offen sind für spontane Anspielungen, für lebendige (laute) Inszenierungen, wo ordentlich was los ist auf der Bühne und man was bekommt für sein Geld. Man muss sich keinen Schluss selber denken o.ä., sondern kann sich den „ins Gedächtnis gebrannten Bildern“ überlassen bis sie von stärkeren Reizen in den Hintergrund gedrängt und überschrieben werden. Es bleibt dann höchstens der bei uns so geschätzte anti-russische Affekt.
Kommentar schreiben