Nach Istanbul! Nach Istanbul!

von Eva Biringer

Europa, 13. Juni 2016. Wenn die schönsten Melodien aus der Ferne klingen, muss sie jemand nachsingen. Wenn Geschichten in der Vergangenheit spielen, muss sie jemand nacherzählen. Auf die Frage nach seinem besten Operndolmuş-Moment antwortet Tenor Johannes Dunz nach der Dernière in Istanbul: "Als sich bei der Münchner Vorstellung im Giesinger Bahnhof ein ehemaliger Gastarbeiter und sein bayerischer Nachbar zufällig wiedergetroffen haben, zum ersten Mal nach vierzig Jahren." Ich muss diese Geschichte glauben, denn die ersten 590 Kilometer habe ich ausgelassen, in München war ich nicht dabei. Zugestiegen in den Operndolmuş-Tourbus der Komischen Oper Berlin bin ich erst in Wien, wo ich seit kurzem wohne. Hier bin auch ich eine Fremde, ein Gast mit Bleiberecht, gekommen, um zu arbeiten und vielleicht, um zu bleiben. Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, mich als Gastarbeiterin zu bezeichnen, wie die in den Sechzigerjahren von der Bundesrepublik angeworbenen Türken. Seltsam aus der Zeit gefallen wirkt dieser Begriff aus heutiger Sicht, sind doch alle ständig unterwegs, freiwillig oder gezwungenermaßen.

operndolmus bus 560 eva biringerDer Dolmuş vor bulgarischen Bergen © Eva Biringer

Anders als häufig angenommen, meint "Gastarbeiterroute" nicht den Weg von der Türkei nach Deutschland, sondern umgekehrt die Heimreise. Fast 2200 Kilometer weit fährt der nach einem türkischen Sammeltaxi benannte Bus der Komischen Oper. Genau genommen sind es sogar zwei: Der "echte" Dolmuş für die begleitende Crew und ein größeres Modell für Ensemble und Kostüme. Von Berlin nach Istanbul, mit Stationen in München, Wien, Belgrad und Sofia. In jeder dieser Städte werden zwei Vorstellungen eines 45 Minuten langen Opernmedleys gespielt. Mit an Bord sind Violinist Andreas Bräutigam, Kontrabassist Arnulf Ballhorn, Juri Tarasenók am Bajan und die beiden Sänger Johannes Dunz und Julia Domke. Außerdem Regisseurin Anisha Bondy, Dramaturgin Johanna Wall und die beiden Projektleiter Oliver Brandt und Mustafa Akça. Und ich. Weniger als Kritikerin, denn als teilnehmende Beobachterin. Nein, mehr als das, als jemand, der Programmzettel verteilt, Schminkkoffer trägt und Kaffee für alle holt.

"Mann muss ab und zu verreisen"

Natürlich duzt man sich. Kritikerin bin ich während der siebentägigen Reise auch deswegen nur zu einem geringen Teil, weil Oper, vorsichtig formuliert, nicht mein Fachgebiet ist. So wie andere vor Ophelia, habe ich einen falschen Respekt vor Orpheus. Dass selbst mir fast alle der sechs Stücke in Anishas Inszenierung bekannt vorkommen, lässt auf ein Bemühen um Anschlussfähigkeit schließen. Es greift der schlimme Marketingseminarsatz: Den Zuschauer da abholen, wo er sitzt. Gegeben wird ein um Diversität bemühtes Potpourri aus Handyklingeltonklassikern (Rossinis Il barbiere di Siviglia, Mozarts Idomeneo, Bizets Carmen), latent Exotischem (Dvořáks Rusalka, das türkische Stück Dağlar, dağlar von Barış Manço) und deutschem Gute-Laune-Swing (Einmal möcht' ich keine Sorgen haben aus dem Film "Eine Stadt steht Kopf" und Man muss mal ab und zu verreisen aus der Operette "Clivia").

Julia Domke singt "Měsíčku Na Nebi Hlubokém" von Antonín Dvořák
Video © Eva Biringer

Auch beim achten Mal noch lustig

Die Regie setzt diese Schnipsel zu einer mit hohem Tempo in Richtung Happy End bretternden Boy-meets-Girl-Story zusammen, sogar geheiratet wird am Schluss. Als Farbrikarbeiterin Carmen hantiert die Sopranistin Julia rauchend mit einem Wählscheibentelefon. In "Man muss mal ab und zu verreisen" streitet sie sich mit ihrem Spielpartner um den Platz am Steuer. Johannes ist kurz nacheinander Reisender ohne Papiere, Brieffreund und Kleinbürger auf Sommerurlaub. Dass der beschwingte Rollenwechsel zu Lasten der dramaturgischen Logik geht, dürfte den meisten Zuschauern egal sein. Besonders gut funktionieren die Momente, in denen diese eingebunden werden, allen voran in der Arie "Largo al factotum" aus dem "Barbier von Sevilla". Da holt Johannes einen Mann aus dem Publikum auf die Bühne und fuchtelt "Figaro! Figaro!" rufend mit der Schere an seinem Hinterkopf herum. Es ist, kaum zu glauben, auch beim achten Mal noch lustig. Obwohl ich so viel mehr zum Dolmuş-Team gehöre als zum Publikum.

Vom Problem der eigenen Zugehörigkeit kann auch Kristina Kolbe ein Lied singen. Sie begleitet den Bus als Feldforscherin für ihre Promotion über interkulturelle Entwicklungen im Musiksektor. Theoretisch wäre bei ihr noch mehr wissenschaftlich-soziologische Objektivität angebracht, praktisch geht man nach der Vorstellung zusammen Sliwowitz oder Raki trinken, je nachdem, in welchem Land man gerade ist.

 

Es gibt nicht viele Weinbars in Istanbul, sagt unsere schwäbische Gastgeberin. Welch Zufall, dass eine der schönsten und bestsortiertesten zweihundert Meter von unserem Hotel entfernt ist. In der Solera Winery feiern wir einen 27. Geburtstag mit Rosé aus Kappadokien, Chardonnay aus Izmir und Weißer-Schokoladen-Torte von der Konditorei nebenan. Das Gute, wenn man mit der @komischeoperberlin unterwegs ist: Das Geburtstagsständchen trifft jeden Ton #DolmusOnTour #operndolmus @nachtkritik

Ein von Eva Perla (@evaperla) gepostetes Foto am 7. Jun 2016 um 13:51 Uhr


Kurzzeitig stoßen zwei weitere Pressevertreter zu uns, Karin Coper vom Onlinemedium Opernnetz und der freie Radiojournalist Gerd Brendel. Mit mir sind wir also vier! Hinzu kommen das drei Mann starke Filmteam und der in jeder Lage toll busfahrende Otto, der nur manchmal motzt. Zum Beispiel, wenn wir aus unerklärlichen Gründen zwei Stunden an der türkisch-bulgarischen Grenze festsitzen oder Barajan-Spieler Juri für die Heimreise wegen eines falschen Buchstabens auf seinem Flugticket ein neues kaufen muss.

 

Der Himmel überm Niemansland: Grenzgebiet zwischen Serbien und Ungarn. Links oben weht die Europaflagge #natürlichkeinfilter #DolmusOnTour @komischeoperberlin #operndolmus @nachtkritik

Ein von Eva Perla (@evaperla) gepostetes Foto am 5. Jun 2016 um 3:32 Uhr


Abgesehen vom Operntrallalla erzählt unsere Reise ja auch etwas über die gegenwärtige Situation in Europa. Ging das früher nicht schneller an den Grenzen? It's Flüchtlingskrise, stupid!

Juris weißrussischer Pass erregt öfter Misstrauen, Mustafa fürchtet, zum Militär eingezogen zu werden, während wir deutschen Staatsbürger theoretisch und meistens auch praktisch einen Freifahrtschein von unvorstellbarem Wert in den Händen halten.

Mustafa, der Navigator

Als Mitarbeiter der Komischen Oper und in Kreuzberg aufgewachsener Türke vereint Mustafa das Beste aus beiden Welten. Ohne seine Zweisprachigkeit wäre selbst Busfahrer Otto auf der Suche nach dem Hotel in Istanbul verloren, denn das Navigationssystem ist in etwa so zuverlässig wie die zerfledderte Straßenkarte, die Julia und Johannes in "Man muss mal ab und zu verreisen" um die Ohren fliegt. Von Mustafa stammt die Idee zu dieser Reise und überhaupt zu dem ganzen Projekt "Selam Opera". Seit 2012 spielt die Komische Oper in Berliner Kiezen, vorzugsweise solche mit dem Präfix "Problem". In der Regel vor Migranten der ersten, zweiten oder dritten Generation, die zwar wissen, dass "Selam Opera!" "Hallo Oper!" heißt, aber mit diesem Inbegriff abendländischer Hochkultur, nun ja, fremdeln.

operndolmus teppich 560 eva biringerTenor Johannes Dunz, in Leidenschaft mit dem Europateppich © Eva Biringer

Mühsame Kulturarbeit

Hier holpert das Konzept der Unternehmung. Trotz des großen Engagements der Organisatoren, trotz Facebook-Werbung, dem Kontakt zu den Goethe-Instituten vor Ort und der raffinierten Strategie, ahnungslose Gäste der zu den Spielstätten gehörenden Bars kurz vor Beginn in den Zuschauerraum zu lotsen, bleiben leider öfter viele Plätze leer. Als Kritikerin und Mustafas Busnebensitzerin leidet man mit und denkt im Stillen: So mühsam kann Kulturarbeit sein.

Wenigstens teilweise liegt der geringe Zuspruch an den örtlichen und zeitlichen Umständen. In Sofia etwa findet der erste Auftritt Sonntagnachmittag um 16 Uhr statt, in einem DDR-atmosphärisch eingestaubten und weit vom Stadtzentrum entfernten Kulturbunker. Preaching to the converted: Oft sind die Zuschauer kulturell versiert, wenn nicht sogar Teil des Betriebs wie die beiden Opernsängerinnen bei der letzten Vorführung im Cezayir Istanbul. Daran ist nichts verkehrt, solange man sich die zur Berliner Kiezarbeit diametral entgegenstehenden Umstände klarmacht. Ausnahmen gibt es, etwa das GB*10 in Wien-Favoriten oder die Volkshochschule Ottakring, wo auch einige Flüchtlinge im vollbesetzten Saal amüsiert zuschauen, wie Julia Johannes schellenklingelnd aus einem Europateppich entrollt.

Also, noch mal: Worum geht es? Es geht darum, die beschwerliche, teilweise mehrmals pro Jahr angetretene Reise der Gastarbeiter nachzuempfinden. Die Ruppigkeit der Grenzbeamten, die Schikane für Nicht-EU-Bürger, das Hantieren mit fremden Währungen, und langes, langes Warten auf die nächste Klopause gibt es gratis mit dazu. Was in den Sechzigern die Gastarbeiter waren, sind heute in gewisser Weise die Flüchtlinge: Entwurzelte, von vielen Abgelehnte, nach Deutschland kommend mit ungewisser Zukunft.

Und dann plötzlich: Terror!

Privat wird das Politische auch durch den Anschlag in Istanbul am vorletzten Tag unserer Reise. Für die meisten von uns ist der Terror so nah wie nie zuvor.

Sich davon nicht beirren zu lassen, weil Terror, so traurig das sei, zum Alltag gehöre, rät Cornelia Reinauer, die ehemalige Bürgermeisterin von Kreuzberg. Sie ist eine der sogenannten Zeitzeugen des Projekts, zwei Gesprächspartner pro Stadt, die auf irgendeine Weise vom Gastarbeiterthema betroffen sind. In Belgrad etwa ist das eine in Freiburg aufgewachsene Serbin, die nach ihrem Studium beschloss, in ihre Heimat zurückzukehren. In Wien der Journalist Onur Kas, der aus dem Ruhrgebiet in die österreichische Hauptstadt "migriert" ist. In Sofia der Leiter des Goethe Instituts Enzio Wetzel, dessen bester Freund in Stuttgart der griechische Nachbarsjunge war. Wetzel ist vom Projekt so begeistert, dass er die Komische Oper einlädt, bald in der bulgarischen Hauptstadt zu inszenieren. Jeder dieser Zeitzeugen drückt nach seiner Erzählung einen Stempel auf den Europakartenteppich, als "Visum" für die Reisenden des Operndolmuş.

operndolmus stempel 560 eva biringer© Eva Biringer
Anschließend fordert Dramaturgin Johanna das Publikum auf, seine eigenen Geschichten zu teilen. Wir hören von Ziegelsteinen auf Gaspedalen, mit denen der Gastarbeiter den Weg in die Heimat meisterte, von niemals ausgepackten Waschmaschinen, weil der Aufenthalt in Deutschland als zeitlich begrenzter gedacht war. Aus Sofia kommt der Tipp, wo es in Hamburg die besten Köfte gibt, aus Belgrad die Empfehlung, die Nacht vor der Reise durchzufeiern, weil die Fahrt im Tiefschlaf am schnellsten vorbeigeht. (Gefeiert haben wir natürlich nicht erst bei der Dernière).

Von solchen Geschichten lebt die Unternehmung – und von deren Verbreitung, weswegen das aus Michael Bidner, Lucas Hütter und Jörn Hartmann bestehende Filmteam unverzichtbar ist (zum Videotagebuch der Komischen Oper). Ehrlicherweise muss man sagen: Gemessen am Verhältnis zurückgelegter Kilometer und Zuschauer vor Ort ist die Bilanz eine bescheidene. Umso wichtiger, dass dieses Projekt so viele Daheimgebliebene wie möglich erreicht. #wasbleibtistdieerinnerung – und die Spuren im Netz. Wenn ich auch im Handzettel-Verteilen nicht immer eine große Hilfe bin, kann ich doch mit meiner europaweiten Internetflatrate dienen. Und damit, die Geschichte des Opernbusses ein wenig weiter in die Welt zu tragen (zum Liveblog während der Reise).

Der Barbier von Istanbul

Auch eine weitere schöne Operndolmuş-Geschichte kenne ich nur aus Erzählungen. Am letzten Tag in Istanbul ruft Mustafa zu einem Flashmob auf. Ziel ist ein Friseur im Viertel Beyoglu, den die drei Musiker und Tenor Johannes stürmen, um dort einen Ausschnitt aus dem Barbier von Sevilla zu spielen. Von allen Auftritten ist dieser der wirkmächtigste, zumindest stelle ich mir das so vor. Hier kommt die Oper wirklich zu den Ahnungslosen, nicht im Sinn von "keine Ahnung haben", sondern "unvorbereitet sein". Ganz abgesehen davon, dass der Trick mit dem angedeuteten Scherenschnitt nirgends besser funktioniert als bei einem, der wirklich auf einem Friseurstuhl sitzt. Als Nicht-Dabeigewesene bleibt mir nichts übrig, als Mustafas Geschichte zuzuhören, genau so, wie wir den Berichten der Zeitzeugen zugehört haben. Für Dramaturgin Johanna lag darin sogar die größte Herausforderung des Projekts: Eine musikalische Sprache für eine Geschichte finden, die wir selbst nur aus Erzählungen kennen. Abgesehen davon kann man sich das Video ansehen, denn, Allaha şükür, das Filmteam war beim türkischen Barbier mit dabei.


So erfüllt sich hier im Kleinen das Versprechen: Wenn der Zuschauer nicht in die Oper kommt ... holt der Operndolmuş ihn da ab, wo er gerade ist. Im Zweifelsfall vor seinem Computer.

 

Der Operndolmuş auf den Spuren der Gastarbeiterroute
Regie: Anisha Bondy, Dramaturgie: Johanna Wall, Projektleitung: Mustafa Akça, Oliver Brandt.
Mit: Julia Domke (Sopran), Johannes Dunz (Tenor), Andreas Bräutigam (Violine), Arnulf Ballhorn (Kontrabass), Juri Tarasenók (Bajan),

www.komische-oper-berlin.de

 

Offenlegung: Die Kosten für die Fahrt und Unterbringung der Autorin Eva Biringer während der Reise sowie für ihren Rückflug nach Wien trug die Komische Oper Berlin.

mehr porträt & reportage