Magazinrundschau Juni 2016 – mit den Theaterzeitschriften in die ostdeutsche Provinz, in die Welt der Statistik und in die Gesellschaft mittelalter weißer Mittelschichtsmänner

Theater geht allen am Arsch vorbei

Theater geht allen am Arsch vorbei

von Wolfgang Behrens

27. Juni 2016. Theater ist nicht mehr relevant, ruft es laut aus dem einen Magazin. Die Zeiten standen nie günstiger für relevantes Theater, schallt es aus dem anderen zurück. Und im dritten schaut man einfach, wie relevant Theater vor Ort ist: in der AfD-verseuchten Provinz.

Die Themen: Theatermacher und Brexit | Theater in der ostdeutschen Provinz | Rant: Mehr Relevanz, bitte | Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins | Krisen sind günstige Theaterzeiten | Florian Malzacher und Bernd Stegemann: Wer darf wen repräsentieren?

Theater heute

Nun sind sie also raus, die Briten! Wenn's nach den Dramatikern gegangen wäre (und wir reden hier nicht von Shakespeare), dann würde das allerdings anders aussehen. Im Juni-Heft von Theater heute hatte Patricia Benecke etwa die Stimmen von Dennis Kelly und Simon Stephens eingeholt, die mutmaßlich beide gegen den Brexit gestimmt haben. Kelly zum Beispiel findet den Blick der Briten auf Europa "scheel" und prangert das Kleinstaatdenken in einer Zeit an, "in der unsere Probleme so offensichtlich global sind und so offensichtlich globale Lösungen brauchen".

Theaterheute 06 2016 180Die West-End-Produzentin Sonia Friedman geht sogar so weit, Gemeinsamkeiten zwischen "Europa machen und Theater machen" zu suchen: "Im Theater geht es um Kommunikation und Kollaboration. Auf der Bühne und im Produktionsprozess. Wir müssen in einer Gruppe Vorschläge und Kompromisse machen, um ein Projekt bestmöglich zur Premiere zu bringen. In angstbesetzen Zeiten ist der Instinkt, unsere Türen zu schließen. Aber das Gegenteil tut not." Vielleicht haben ja am Ende zu viele Briten die Theatermetapher zu wörtlich genommen: Sieht man die Intendanz-orientierte, autokratische und manchmal auch bürokratische Struktur vieler Theater, dann kann man auch jene verstehen, die zwar nicht die Tür schließen, doch aber den Notausgang nehmen wollen.

Derweil ist Bernd Noack für eine große Reportage in die ostdeutsche Theaterprovinz gereist, um der Frage nachzugehen, wie es sich dort lebt und arbeitet, "wo die Theater oft genug die letzten demokratischen Trutzburgen sind für Menschen, denen bange wird, weil die aufgehetzte xenophobe Stimmung rundum so bedrohlich nahe kommt". Er hat naturgemäß sehr unterschiedliche Lagen vorgefunden. In Jena etwa sei völlig auszuschließen, dass "jemand, der aus Überzeugung bei einer Pegida-Veranstaltung war, am Abend ins Theaterhaus geht". Weswegen dessen Leiter Marcel Klett und Moritz Schönecker auch "kaum aufgeschreckt oder beunruhigt" scheinen, sondern auf die Eigenverantwortlichkeit ihres Publikums vertrauen.

Das sieht in Gera schon ganz anders aus, wo auch "die Menschen von den AfD-Kundgebungen als Abonnenten rüber ins Theater gehen". Hier, wo "'das Fremde' nur als diffuses Feindbild" existiere, habe Schauspieldirektor Bernhard Stengele angefangen, "mit Afrikanern im Ensemble zu arbeiten", und es sei fast unmöglich gewesen, "für diese Schauspieler eine Wohnung zu finden". Stengele muss also auf Aufklärung setzen, auch wenn das dann – wie Noack meint – "ein bisschen Volkshochschule" sei. Das Theater aber werde in Gera noch gebraucht, so Stengele: "'Wenn das auch kaputt geht, haben wir gar nichts mehr', sagen die Leute, und das ist eigentlich unsere Chance."

Konfrontation oder nicht, das ist die Frage, der sich viele Theatermacher – vielleicht nicht nur im Osten Deutschlands – ausgesetzt sehen. In Rudolstadt solidarisiert sich das Theater schon einmal mit dem Bürgerprotest, "der stets zur Stelle ist, wenn die Rechten auf dem Marktplatz auftauchen. Aber man wolle auch nicht "monothematisch auf die Krisen und Entwicklungen reagieren. 'Wenn wir als Theater nur noch auf diesen Themen herumreiten, ist die ganze Demokratie nichts mehr wert'", sagt der dortige Intendant Steffen Mensching. Und in Chemnitz erklärt Schauspielintendant Carsten Knödler: "Wir machen keinen Spielplan gegen Pegida, aber wir scheuen uns auch, glatte Antworten zu geben. Die Leute wollen als denkende Menschen ernst genommen werden und nicht gegängelt werden." Wahrscheinlich ist es tatsächlich so: Je größer die Stadt, je größer die Bühne, desto einfacher ist es auch, à la Lösch auf die Konfrontationspauke zu hauen. Für Gera, Chemnitz oder Rudolstadt kann das nicht immer der Königsweg sein.

Die Deutsche Bühne

Im Juni-Heft der Deutschen Bühne lässt Bianca Praetorius einen kleinen Rant vom Stapel und fordert vom Theater endlich: "Mehr Relevanz, bitte!" Der Weg dahin scheint zwar auch ihr dunkel zu sein, aber die Symptome brüllt sie heraus: Egal, "was Großartiges irgendwo stattfindet, es bleibt in den vier Wänden des Hauses. Eventuell noch als Aktion in der Stadt oder als klagend-ironische klagend-pathetische Facebook-Stellungsbeziehung. Wenn es gut läuft, wird es 25-mal von nachtkritik-Fans geteilt. Das ist der buzz, den man kreieren kann mit der darstellenden Kunst. Und DdB 06 2016 180genau da ist, wo meine Wut wohnt: Es interessiert niemanden, was im Theater passiert. Es geht allen Menschen, die nicht beim Theater abreiten oder darüber schreiben, phänomenal am Arsch vorbei." Schlimmer noch: "Es kommen mir immer mehr Geschichten zu Ohren, in denen geniale Theatermacher aus Frust zum Circus HalliGalli abwandern [Moment mal, meint sie da etwa unseren genialen Ex-Redakteur Matthias Weigel, der tatsächlich zum Circus HalliGalli gegangen ist?], weil es anscheinend mehr bedeutet, weil es eventuell progressiver ist, zumindest vielleicht. Das Theater aber ist mit der eigenen Angst beschäftigt." Und Praetorius wünscht sich "den Tag herbei, an dem das nächste virale Video, die Kampagne, bei der keiner weiß, ob sie echt oder Satire ist, seine Wurzeln in der darstellenden Kunst versteckt." Hmm ... Aber wenn's dann virales Video geworden ist, inwiefern ist's dann noch ein Theaterphänomen? Entsteht die Relevanz des Theaters denn erst im Netz?

Den Schwerpunkt der Juni-Ausgabe hat Die deutsche Bühne der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins gewidmet, für die die Zeitschriftenmacher "nun erstmals die Redaktion übernommen" haben und die Ende Juli für die Spielzeit 2014/15 erscheint. Redakteur Detlev Baur verspricht, dass die Werkstatistik "deutlicher auf alle derzeit in der Theaterwelt anzutreffenden Sparten und Theatergenres eingehen" werde, als das bisher der Fall war, die Ergebnisse würden klarer differenziert, "etwa indem wir den Anteil zeitgenössischer Werke oder von Bühnenbearbeitungen beschreiben".

Im Schwerpunkt selbst geht's dann nicht immer streng statistisch, oft eher etwas spielerisch zu, aber ein paar interessante Zahlen kann der Nerd doch herausziehen. So gab's am Spitzentag der Spielzeit, am 27. September 2014, allein in Deutschland 63 Premieren zu sehen (nachtkritik.de hat sechs davon besprochen und eine in Zürich). Da können die Theaterkritiker*innen nur die Waffen strecken! Überhaupt stellt Detlev Baur ein Auseinanderklaffen des "Interesses  der Feuilletons (einschließlich der Deutschen Bühne) und der Theaterzuschauer" fest. "Die beiden Schauspielwerke mit den meisten Zuschauern" stammen zum Beispiel – schnell, noch ist Zeit zum Raten – "von einem gewissen Karl May: 'Im Tal des Todes' und 'Unter Geiern', in Bad Segeberg beziehungsweise in Elspe aufgeführt" und haben "fast dreimal beziehungsweise zweimal so viele Zuschauer wie das nächstfolgende – und in Theaterkreisen wesentlich bekanntere – Stück 'Ein Sommernachtstraum'". Bei der Selbstauswertung stellt Die deutsche Bühne schließlich fest, dass sie zu 34 Prozent Uraufführungen besprechen lässt – bei einem Uraufführungsanteil der Schauspielhäuser von 17 Prozent. Bei nachtkritik.de dürfte es ähnlich aussehen. Also dann, ihr Kritiker, auf nach Bad Segeberg!

Theater der Zeit

In seiner Rubrik "kirschs kontexte" formuliert Sebastian Kirsch so etwa wie eine Antwort auf den Rant von Bianca Praetorius aus der Deutschen Bühne. Kirsch meint, die Zeiten fürs Theater müssten "günstig sein wie selten". Denn: "Schon ein flüchtiger Blick in jedes Lehrbuch für Theatergeschichte zeigt ja: Die europäische Bühne erlebte ihre 'Blüten' immer in jenen Schwellenzeiten, die von einem extremen Wandel aller Vorstellungen und Gebräuche geprägt waren." Was am antiken und elisabethanischen Theater, an der französischen Klassik, am barocken Trauerspiel, an der bürgerlichen Schauspielkunst und am Theaterentwurf Brechts durchdekliniert wird. Was nun die Gegenwart betrifft: All die alten Krisen seien "nicht nur nicht gelöst", sondern würden sich neu formieren und sogar addieren – "überall macht sich derzeit die 'antike Konstellation' (Einar Schleef) in monströser Form bemerkbar". Theaterglück, ick hör' Dir trapsen! Angesichts der Verbindung von Krise und Theater fragt Kirsch zum Schluss: "Soll man sich wünschen, in interessanten Theaterzeiten zu leben?"

TdZ 06 2016 180In der Juni-Ausgabe von Theater der Zeit ist zudem ein großes Gespräch abgedruckt (das auch hier nachzulesen ist), in dem sich Matthias Frense und Sebastian Brohn vom Ringlokschuppen Mülheim mit Florian Malzacher, dem Leiter des Impulse Festivals, und dem Dramaturgen Bernd Stegemann über politisches Theater unterhalten. Also vier mittelalte weiße Mittelschichtsmänner im Gespräch. Vor diesem Hintergrund ist es dann fast lustig, wenn Malzacher auf die Frage der Repräsentation im Theater kommt, also darauf, "welche Schauspieler wen repräsentieren". Es entspinnt sich der folgende Dialog, der den Dissens über Repräsentation gut auf den Punkt bringt.

Malzacher: "Wir als mittelalte weiße Mittelschichtsmänner kommen da ja gut bei weg – denn wir werden meist von mittelalten weißen Mittelschichtsmännern auf der Bühne repräsentiert. Aber von wem werden 'die Anderen' repräsentiert, wenn sie überhaupt vorkommen? Das ist doch ein Problem, und zwar eines, das nicht einfach lösbar ist, das vielleicht nie lösbar ist, an dem wir immer nur weiterarbeiten können." Stegemann: "Für mich heißt schauspielen grundsätzlich, dass jeder alles spielen kann." Malzacher: "Ja, genau. Das ist die Anmaßung, das ist das Problem. Die Annahme, dass jeder alles spielen kann, ist für mich gesellschaftlich und damit auch im Theater indiskutabel." Stegemann: "Aber warum ist es indiskutabel, dass jeder alles spielen darf? Darin liegt doch die große befreiende Kraft, die das Theater bedeutet und die von geschlossenen Gesellschaften immer bekämpft worden ist und heute noch bekämpft wird." Malzacher: "Es spielt ja eben nicht jeder alles, sondern bestimmte Leute spielen alles, und ganz viele spielen nichts, vor allem keine Rolle. Das ist das Problem in der Gesellschaft, und das ist auch ein Problem im Theater."

Und – so könnte man anfügen – es gibt auch bestimmte Leute, die reden über alles, und es gibt ganz viele, die werden zu diesen Gesprächen erst gar nicht eingeladen.

 

Zur Magazinrundschau Mai 2016 hier entlang.

Kommentare  
Magazinrundschau Juni: keiner will Händler sein
Das ist a u c h ein Problem: Schauspieler sollen nicht aneinander vorbeispielen, aber hier in der Fachliteratur der Fachwelt wird schon bei Gesprächen leichtsinnig gepfuscht: Stegemann sagt(e) einmal "kann" und beim zweiten Mal "darf". Es würde ein interessantes Gespräch geworden sein, wenn Herr Malzacher oder einem der anderen Männer das aufgefallen wäre - Ist aber nicht. Wahrscheinlich haben mittlere Männer nicht nur einen selbst-freien Tunnelblick, sondern auch noch solches Gehör??? Auch Stegemann - und das fällt mir nicht zum ersten Mal auf, fällt mitunter nicht auf, was er eigentlich formuliert in veröffentlichten Gesprächen: Er hätte Malzacher fragen können (als Dialektiker vom Dienst "müssen"), warum ein Utopie wie die, dass in einer Gesellschaft wie im Theater jeder alles spielen kann, indiskutabel für ihn sei. Wieso ist für Malzacher als Theatermensch ausgerechnet Utopie eine Anmaßung??? - Das ist doch vom Standpunkt der Kunst vollkommen indiskutabel. Weil anmaßend. Oder einfach nur unrealistisch für Kunst als Arbeit... Vom Standpunkt der Politik und des Kunst-Handels allerdings ist es natürlich verständlich, in Arbeitsinhalte integrierte Utopie indiskutabel zu finden... Das Absurde ist nur, dass keiner hier in dem Gespäch der Händler sein will und alle sich einer Diskursivität bedient, die geliehen, aber nicht verinnerlicht scheint. Ist sie es???
Insofern wäre von Belang, wer konkret von den vielen, die zu solchen Gesprächen erst gar nicht geladen werden, die Leute, die über alles reden, auch mal in deren Schranken weisen könnte. Dann müsste - so könnte man anfügen :)- auch Wolfgang Behrens nicht so schlecht gelaunt über solche Männchen-Gesopräche berichten...
Theater kann - wie jeder Mathematiker wissen kann - heute ohne Netz keine Relevanz haben, weil das Netz nun einmal unsere Lebenswirklichkeit geworden ist. Damit ist noch nichts über die Art und Weise gesagt, in der das Netz für Theater eine Rolle spielt. Da käme man dann in ein fachrelevantes Gespräch, wenn man das voraussetzt.
Das Theater kann allerdings auch heute keine Relevanz haben, wenn es ausschließlich über das Netz Relevanz zu erlangen gedenkt. Weil das nun auch wieder keine Lebenswirklichkeit ist die ALLE, also die realen wie auch optionalen, Zuschauer, betrifft.
Gab es nicht so einen telegenen Literaturkritiker, der mit Vorliebe den neuesten Schrott mit verächtlichem Gestus weggeschmissen hat, bestenfalls in einen Einkaufswagen?
Magazinrundschau Juni: erschreckende Formulierung
Mit Verlaub, ich finde es unerträglich, wenn AfD-Redner von "versifften linken Milieus" sprechen, aber ähnlich grenzwertig, wenn hier von der "AfD-verseuchten Provinz" geschrieben wird… Ich bin ohne jede Sympathie für die AfD, aber dass wir im politischen Diskurs (wieder) bei solchen Formulierungen angekommen sind, erschreckt mich. Herzliche Grüße!
Magazinrundschau Juni: leider Normalität
Mich erschreckt, dass mir solche Formulierungen gar nicht mehr auffallen. "AfD-verseuchte Provinz", "reaktionäres Ostler-Pack", "rechte Arschlöcher" ... Das ist inzwischen kritisch-aufgeklärt-diskursive Normalität, wird selbstverständlich hingeschrieben, keiner stört sich dran. Gut, dass es noch Ausnahmen gibt.
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