"... und lass mich dich in Mädchenkleidern sehen!"

von Falk Schreiber

Hamburg, 28. Juni 2016. Zuschauern ist es im Grunde egal, ob sie eine Aufführung im Privat- oder Staatstheater sehen. Die Unterscheidung bezieht sich auf die Frage, ob die öffentliche Hand ein Theater betreibt oder ein Privatunternehmen, das freilich nicht ohne öffentliche Gelder auskommen muss – auch Privattheater bekommen Subventionen, wenn auch im nicht mit den Staatstheatern vergleichbaren Umfang. Ästhetisch ist mit dem Label "Privattheater" noch keine Aussage getroffen, was unter diesem Label tummelt, ist so heterogen wie die Theaterwelt als Ganzes. Anders gesagt: Das Melchinger Theater Lindenhof ist mit seinem Anspruch, Bauerntheater fürs 21. Jahrhundert zu schaffen, eine ganz andere Baustelle als das Berliner Ensemble; dass beides Privattheater sind, ist eine zweitrangige Kategorie.

Beeindruckende Möbelchoreografie

Allerdings: Privattheater, das Berliner Ensemble und die Berliner Schaubühne mal ausgenommen, werden öffentlich deutlich weniger wahrgenommen als die staatlichen Bühnen, auch traditionsreiche, große Häuser wie das Hamburger Ernst-Deutsch-Theater tauchen selbst auf nachtkritik.de nur sporadisch auf. Entsprechend ist es durchaus ehrenwert, dass Axel Schneider, Intendant des Theaterverbundes Hamburger Kammerspiele/Altonaer Theater/Harburger Theater 2012 das Festival Privattheatertage ins Leben rief, eine Art Theatertreffen der privaten Bühnen, das über fünf Ausgaben tatsächlich eine gewisse Sichtbarkeit für Häuser wie die Bremer Shakespeare Company oder das Münchner Metropoltheater herstellen konnte.

Prozess 560 cMEYER ORIGINALS uEine Welt aus Türen: "Der Prozess" © MEYER ORIGINALS

Außerdem widerlegte das Festival das Vorurteil, dass Privattheater ausschließlich für die leichte Muse zuständig sei (auch wenn diese während der zwei Festivalwochen durchaus vorkommt). Bedient wird auch der Klassikerkanon, meist mit einer recht schulstoffnahen Stückauswahl, aber doch durchaus mit ernsthaftem, heutigem Zugriff. Zum Beispiel von Gerhard Roiß am Kölner Theater im Bauturm, der beim Festivalgastspiel von Kafkas "Der Prozess" einen hübschen Kunstgriff anwendet: Das Bühnenbild Cordula Körbers besteht aus aus einer Vielzahl beweglicher Türen, die als beeindruckende Möbelchoreografie über die Bühne tanzen und sich so zum unausweichlichen Labyrinth formieren, in dem der wegen eines ungenannten Vergehens angeklagte K. (Sascha Tschorn) sich kafkatreu verirrt.

Das Publikum abholen

Roiß schafft so eine überraschende Verknüpfung zum Tür-auf-Tür-zu-Humor des Boulevards – eine Theaterästhetik wandert in diesem "Prozess" in ein fremdes Genre und mutiert dort zu einem bürokratischen Alptraum. Das ist klug gedacht, leidet aber an einer etwas unscharfen Charakterzeichnung, an einem überdeutlich illustrierenden Musikeinsatz (Laurenz Gemmer) sowie an Tschorns arg gleichförmigem Spiel, das von der ersten Szene hochtourige Verzweiflung performt und während knapp zwei Stunden diese expressive Lautstärke kaum modifiziert. Zumal der juristische Alptraum der Vorlage immer wieder in einen feuchten Traum kippt, der ein unangenehm schlichtes Frauenbild offenbart, das Taly Journo mit freundlichem Fatalismus ausagieren muss. Und trotzdem: ein mutiger Zugriff.

Häufig greifen Privattheater auf Shakespeare zurück. Das mag damit zu tun haben, dass dessen Qualitäten in der Regel nicht erst nachgewiesen werden müssen, man das Publikum also dort abholen kann, wo es steht. Aber auch damit, dass sich Privattheatermacher der shakespearetypischen Mischung aus theatraler Poesie, szenischer Wirkungsmacht und krachlederner Mainstreamtauglichkeit durchaus verwandt fühlen. Wobei es sich Dieter Nelle am Forum Theater Stuttgart nicht leicht macht, gerade in Bezug auf "Publikum abholen": Beim 1610 entstandenen Spätwerk "Das Wintermärchen" lässt sich wenig Vorwissen abrufen, das Stück steht ähnlich dem "Sturm" zwischen Komödie und Tragödie und wird heute nur selten aufgeführt.

Am Abgrund: Zehn nackte Frisösen

Nelle inszeniert den ersten Teil als psychologischen Realismus: Ein Mann beschuldigt da seine Frau fälschlich der Untreue und setzt in seinem Wahn seine Familie aufs Spiel. Das ist genau gearbeitet, sehr streng, manchmal ein bisschen bieder, funktioniert aber nicht zuletzt wegen seiner klug geführten, zurückhaltenden Schauspieler: Udo Rau, der den eifersüchtigen Gatten gefährlich brodeln lässt, Martin König, der dessen Vertrauten Camillo als schwammigen Richtigmacher gibt, selbst eine kleine Nebenrolle wie die Kammerzofe Emilia wird von Laura Kaiser mit plietscher Lebendigkeit ausgefüllt. Dieses "Wintermärchen" ist während der ersten 90 Minuten keine theaterästhetische Offenbarung, aber es macht aus Shakespeares märchenhafter Handlung eine stimmige Studie über bürgerliches Besitzdenken.

Nach der Pause aber zeigen sich die Widerhaken des Stücks. Mit einem Schlag lässt sich ein realistischer Ansatz nicht mehr durchhalten, weil die Vorlage von der Tragödie in eine wüste Komödie kippt, in der nichts mehr zueinander passt. Nelles Regie ist geschickt genug, diesen Stimmungswechsel halbwegs elegant hinzubekommen, mit Mut zur Lautstärke und Aufgabe aller Figurengenauigkeit, bloß: Der Ansatz, das Stück als Stück für heute zu spielen, wird auf diese Weise plötzlich schal. Einmal noch spürt man einen Abgrund, da entgleist ein orgiastisches Schäferfest, da grölen die Bürger aus dem ersten Teil stumpfe Malle-Schlager. "Zehn nackte Frisösen" werden geordert, und plötzlich befürchtet man, dass da etwas ins Rutschen geraten könnte, dass das angedeutete Geficke an der Rampe in Gewalt umschlägt. Aber man ist in einem Märchen, das gut enden soll: In den Abgrund wird geschaut, aber stürzen muss niemand in ihn, am allerwenigsten diese zutiefst seriöse, zum Schluss über der eigenen Ernsthaftigkeit eingeschlafene Inszenierung.

Der Gendertrouble wird weggelacht

"Was ihr wollt" gilt in der Privattheatertage-eigenen Kategorisierung nicht als Klassiker, sondern als Komödie, was zwar literaturhistorisch korrekt ist, das Denken in Schubladen, das dieses Festival durchzieht, jedoch an seine Grenzen führt. Meinhard Zange interessiert sich am Münsteraner Wolfgang Borchert Theater aber kaum für den durchaus vorhandenen finsteren Gehalt des Stücks, insofern passt das schon. Gespielt wird also Komödie, mit Gespür für die knalligen Sentenzen der Vorlage, doch ohne sich dem Derben ganz hinzugeben – Zanges Inszenierung ist geprägt von einer zärtlichen Leichtigkeit, die sich in den burlesken Szenen auch mal einen Schlenker zum Kotzwitz leistet, dann aber schnell wieder in die Spur findet.

WasIhrwollt 560 KlausLefebvre u"Was Ihr wollt": Alice Zikeli, Sven Heiß © Klaus Lefebvre

Es ist nicht die schlechteste Entscheidung, das Stück ernst zu nehmen, aber nicht bierernst. Das überzeugt sogar so sehr, dass die Inszenierung es aushält, in Einzelaspekten nicht ganz stimmig zu sein: Die tragische Figur des Malvolio wird bei Jürgen Lorenzen zur Charge. Sir Andrew ist bei Gerd Lukas Storzer zwar nicht der Hellste, aber weswegen Ausstatterin Elke König ihm ein Nudelsieb auf den Kopf gesetzt hat, erklärt das nicht. Und dass die heterosexuelle Auflösung des das Stück prägenden Gendertrouble tatsächlich eine recht brüchige Angelegenheit ist, wird fröhlich weggelacht. Sei es drum, dann turtelt Orsino (Sven Heiß) eben in Richtung der geliebten Viola (Alice Zikeli): "Gib mir die Hand, mein Junge, und lass mich dich in Mädchenkleidern sehen!" Soll die Inszenierung doch die Gelegenheit verschenken, hier ein anderes Begehren zu thematisieren. Sie verschenkt ja ohnehin einiges und kommt am Ende doch zum Ziel.

Drei Inszenierungen also, die extrem unterschiedlich daherkommen, alle mit Schwächen, alle auch mit Qualitäten. Drei Inszenierungen, die ein wenig unter dem Radar laufen, und denen die Privattheatertage verdiente öffentliche Wahrnehmung verschafft haben. Wirklich vergleichbar sind die drei Arbeiten allerdings nicht, was die Frage nach der Relevanz des Festivals dann doch noch einmal neu stellt – geht es hier um ästhetische Fragen oder nur darum, eine Lanze für eine spezifische Form der Theaterträgerschaft zu brechen? Für ersteres jedenfalls scheinen die Privattheatertage in ihrer aktuellen Form nur bedingt geeignet.

 

Der Prozess
von Franz Kafka
Regie: Gerhard Roiß, Ausstattung: Cordula Körber, Komposition & Live-Musik: Laurenz Gemmer.
Mit: Patrick Joseph, Taly Journo, David N. Koch, Doris Plenert, Sascha Tschorn.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-im-bauturm.de

Das Wintermärchen
von William Shakespeare, aus dem Englischen von Dieter Nelle
Regie: Dieter Nelle, Bühne: Marcel Keller, Kostüme: Marie Freihofer.
Mit: Schirin Brendel, Johannes Hauser, Laura Kaiser, Martin König, Michael Ransburg, Udo Rau, Britta Scheerer.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.forum-theater.de

Was ihr wollt
von William Shakespeare, aus dem Englischen von Meinhard Zange nach A.W. Schlegel
Regie: Meinhard Zange, Ausstattung: Elke König, Musik & Sounds: Manfred Sasse, Fechtszenen: Alexander Ourth.
Mit: Florian Bender, Luan Gummich, Sven Heiß, Monika Hess-Zanger, Peter Kaghanovitch, Ines Kottmann, Jürgen Lorenzen, Manfred Sasse, Hannah Sieh, Gerd Lukas Storzer, Anuk Ens, Alice Zikeli.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.wolfgang-borchert-theater.de

privattheatertage.de

 

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Kommentare  
Was ihr wollt, Hamburg: gewisse Verkleidungen
Wer das Stück "was ihr wollt" mal im Original gelesen hätte wüsste dass dort keine Silbe "Gendertrouble" existiert. Frau ist Frau und Mann ist Mann, daran wollen auch gewisse Verkleidungen nichts ändern. Der Rest ist nur modische Projektion jüngerer aber vergangener Jahrzehnte
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