Presseschau vom 8. Juli 2016 – SZ und Die Welt über den Auftakt des Festival d'Avignon 2016

Neodramatisches Theater in Avignon

Neodramatisches Theater in Avignon

8. Juli 2016. Das 70. Festival d'Avignon eröffnete Mitte dieser Woche, und zwar ziemlich spektakulär, mit der besten Eröffnungspremiere seit langem. Es könnte ein guter Jahrgang werden, sind sich die Berichte in der Süddeutschen Zeitung und in der Welt einig.

"Fast alles war richtig bei der Eröffnungspremiere des wichtigsten französischen Theaterfestivals, der besten seit Jahren", schreibt Joseph Hanimann in der Süddeutschen Zeitung (8.7.2016). Mit Kleist, Büchner oder Heiner Müllers politisierter Lesart der "Gefährlichen Liebschaften" war Deutschland nahezu von Beginn an ein ständiger Gast des Festivals. "Nie aber auf so erschütternde Weise wie jetzt in Ivo van Hoves Bühnenfassung von Viscontis Film 'Die Verdammten'", der die Auslieferung der deutschen Industriellenaristokratie ans nationalsozialistische Regime "in Bilder von höchster Eindringlichkeit" setze. Nicht im Knattern der Gewehrsalven, sondern in der eher lautlos-gedämpften Kompromissbereitschaft formuliere diese Aufführung ihre Wahrheit, so Hanimann: "Terrorismus ist in Avignon denn auch eher aus praktischen Gründen ein Thema. 50 000 Euro sollen die Sicherheitsvorkehrungen gegen mögliche Anschläge kosten." Das Kulturministerium habe einen Sonderzuschuss zugesagt. "Auf den Kartenverkauf hat die Situation jedoch nicht eingewirkt. Das Publikum lässt sich den dreiwöchigen Sinnen- und Ideentaumel nicht nehmen, und auch der Generationenwechsel ist dank einem vielseitigen Programm geglückt. Avignon bleibt ohne Krawatten und Abendkleid eines der lebendigsten Kulturfestivals."

Das Avignon-Off sei ein Paralleluniversum zum offiziellen Festival, "das eigentliche Spektakel" mit mehr als 1416 Inszenierungen überall in der Stadt, 116 Bühnen, 13 Millionen Euro Subventionen, so Martina Meister in der Welt (8.7.2016). Wer im Ehrenhof des Papstpalastes auftrete, auf den offiziellen Bühnen, spiele in einer andere Liga. Olivier Pys Handschrift präge das Festival seit drei Jahren. "Einen großen Jahrgang verspricht er in diesem Jahr, einer, der womöglich die Politiker wachrütteln wird. Denn Frankreich versinke in der Depression, Europa zerbreche, Werte und Sicherheiten verschwänden. 'Eine Revolution macht man nicht allein', schreibt Py in seinem Grußwort des Programmheftes zum 70. Geburtstag des Festivals von Avignon." Regisseur Ivo van Hove habe am Mittwochabend mit seiner Inszenierung der "Verdammten" einen "spektakulären und zugleich verstörenden Auftakt dieses 70. Festivals gemacht". Auffallend sei, dass von den 24 Inszenierungen sechs inspiriert seien von einem Film oder einem Roman. "Ist die Mode der Romanadaption Symptom für das Versagen des Repertoires?", fragt die Kritikern. "Nein, sagt Py. Er interpretiert sie als Ausdruck des Bedürfnisses, das Theater in Zeiten des Terrors neu erfinden, neue Materialien erschließen zu wollen. 'Neodramatisch', sei das, er sagt es auf Deutsch: ein Beweis dafür, dass das Theater lebt."

(sik)

 

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