Ein Zeitgeisthändler

von Dirk Pilz

11. Juli 2016. Auf dem Tisch liegt ein schmales Bändchen, mintgrün, pappgebunden. Es ward von einem Theaterkritiker verfasst, den das Rentenalter aus dem Amt vertrieb. Ein in den informierten Kreisen sattsam bekannter Mann, der stets vorgab, einer "radikalen Subjektivität" zu folgen und Kritik als "Kunst der Autonomie" zu betreiben, was allerdings zumeist darauf hinauslief, das private Meinen schon als subjektives Urteil und das ungeschützte Vorurteil bereits als Ausdruck von Autonomie zu nehmen. Im Grunde eine tragische Figur, die das Gefängnis des Geschmäcklerischen kaum je zu verlassen vermochte.

stadelmaier 180 theater coverGerhard Stadelmaier, machthabender Theaterkritiker der FAZ von 1989 bis 2015, hat deshalb selten über Theater geschrieben, meist über sich und seine Theatervorlieben, auch seine Wünsche, Träume, Hoffnungen. Das machte ihn zum Gegenstand der Furcht wie des Mitleids – seine Kritiken haben mich immer amüsiert und abgestoßen gleichermaßen.

Reine Willkür

Aber lassen wir beiseite, was sie zumeist prägte, die Eitelkeit, der Dünkel, die Rechthaberei und Rachsucht. Schauen wir, was er schreibt. Der Band heißt "Regisseurstheater", er versammelt zwölf kürzere Essays aus dem näheren und weiteren Umfeld des Theaters und Feuilletonismus. Das erste Wort lautet "Zeitgeist", es ist der Leitbegriff aller hier versammelten Texte. Zeitgeist sei, sagt Stadelmaier, "reine Willkür wie reine Flüchtigkeit".

Was unter einer unreinen Willkür und unreinen Flüchtigkeit vorzustellen ist, sagt er leider nicht. Stattdessen stellt er sich ihn, den Zeitgeist, als Schauspieler vor. Wie dieser trage er Masken und sei durch die Angst geprägt, "von gestern zu sein". Schauspieler seien demnach "Zeitgeisthändler", vorzustellen als "Dealer des Augenblicks", das jedoch in Abhängigkeit davon, "wer gerade Regie führt": Dem Zeitgeist gerate, was gegenwärtig ist, zum Fetisch. Der Zeitgeistspieler sei demnach einzig mit dem "Auskotzen der Gegenwart" beschäftigt.

Es folgen einige pauschale Anmerkungen zum Wesen des "Angesagten", und gern hätte ich hier gewusst, wie sich das "Auskotzen" zur "wohligen, frivol sozialverträglich passiven Haltlosigkeit" verhält, die den Zeitgeist Stadelmaier zufolge auch bestimmt, was also passives Entleeren (Auskotzen) sein soll, denn ist es passiv, kommt es einer Krankheit gleich, die allerdings gerade das Gegenteil aller Maskerade abgibt – Kranksein bedeutet auch, aller Masken verloren zu gehen.

Kann es sein, dass Stadelmaier schlicht alle begrifflichen und phänomenologischen Unterschiede zwischen Moden, Markt und Zeitgeist ignoriert? Dass bei ihm das "Gefühlte in den Zustand des Gewussten tritt", was er jedoch wiederum als Kennzeichen des geschmähten Zeitgeistes nimmt?

Ein Statthalter

Sein Gegenbegriff zum Zeitgeistigen ist der "Stehenbleiber", nämlich "seltenes Exemplar" und "kostbare Erscheinung" zugleich. Auf ihn trifft indes zu, was wiederum für den Zeitgeist gelten soll: Er ist Produkt seiner Zeit. "Was man den Geist der Zeiten nennt, wird gemacht", schreibt Stadelmaier. Er macht auch den Stehenbleiber, weil es ihn nur in dezidierter Absetzung vom Gegenwartsauskotzer gibt. Der Stehenbleiber wird so jedoch zum lautesten Fürsprecher des Zeitgeistes auf den Bühnen der Gegenwart – mit dieser vertrackten Dialektik beginnt das Problem des Zeitgeistes ja erst. Es taucht bei Stadelmaier nicht auf, was ihm den Vorwurf einhandelt, den Zeitgeistbegriff lediglich als Statthalter von Ressentiments zu benutzen.

Übrigens bezieht er sich, wie häufig, hier auf Lessing und Goethe. Das ist fraglich genug. Womöglich hätte es geholfen, auch Herder und Hamann zu studieren, um sich in dialektischer Gegenwartsanalyse zu schulen, weil gerade bei ihnen zu lernen ist, den Fallen eines geschichtsblinden Grollens wider die Gegenwart zu entkommen.

Bewusstlos vorgemacht

Leicht ließen sich nun die Ausführungen Stadelmaiers als feuilletonistisches Lockendrehen abtun, er versteht ja stets, flott zu formulieren. Aber in einem weiteren Text demonstriert er, dass auch das unbedarfte Denken nach Konsequenzen verlangt. In ihm attestiert er der Kanzlerin Angela Merkel, dass sie mit ihrem "Wir schaffen das!"-Satz einem "der mächtigsten Zeitgeistmittel" erlag: der Rührung. Sie ist, nach Stadelmaiers Logik, eine Zeitgeistspielerin, die nicht weiß, dass sie es ist.

Er vergleicht Merkel mit Lessings Nathan: "Nathan ist Subjekt eines Prozesses, die Kanzlerin Objekt einer Plötzlichkeit. Nathan weist auf eine Realität scharf hin. Die Kanzlerin sieht von einer Realität ab. Nathan hat bewusst etwas vorgedacht, die Kanzlerin hat bewusstlos etwas vorgemacht."

Abgesehen davon, dass Stadelmaier damit jede historische Distanz einebnet, als wolle er der sonst von ihm zu Recht angeklagten Geschichtsvergessenheit zu Ehren verhelfen, abgesehen auch davon, dass er die Unterschiede von Mensch und Figur übergeht, als wolle er sich zum Anwalt des durch ihn obsessiv lächerlich gemachten Dokumentartheaters erheben, behauptet Stadelmaier hier implizit, dass sich aus der Literatur geradewegs Handlungsanweisungen ableiten lassen. Die Politik mag sich zwar theatraler Techniken bedienen und die Literatur politische Strukturen sichtbar machen, die Unterschiede von Ästhetik und Politik, Kunst und Leben aber derart zu übergehen, verstellt jede Chance auf Erkenntnis – und redet einer verheerenden Gleichmacherei das Wort. Wohin das führt, lässt sich in der Geschichte studieren.

Ein fremder Kontinent

Was soll man also von Essays halten, die alles durcheinanderwerfen und die Begriffe handhaben wie ein Stück knetbare Masse je nach Bedarf? Sie machen den Eindruck, als habe Stadelmaier schlicht aufgeschrieben, was ihm durch die Rübe rauscht, als wäre er der herausgehobene Selbstdarsteller auf der Bühne genau jenes Theaters, das er mit dem glücklichen Begriff "Regisseurstheater" belegt hat.

Das Regisseurstheater, sagt er, "füllt den leeren Raum mit dem Regisseur, der sich selbst zum Kontinent erklärt". Und alles, was auf diesem nicht vorkommt, sei ihm "unbekannt wie ein fremder Kontinent". Das trifft es sehr schön und trifft noch schöner die Texte in diesem Band, die stets nur in den Vorgärten des eigenen Denkens im Kreis gehen, jeden Zweifel und Einwand, jedes Argument gegen das Eigene ängstlich meiden. "Nicht ungedacht lassen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann", war die Arbeitsmaxime Nietzsches. Die Texte dieses Buches sind gemessen daran Arbeitsverweigerung.

Oder besser, man nimmt sie als Unterhaltungsliteratur, nicht als Denk-Stücke. Ende September diesen Jahres erscheint Stadelmaiers erster Roman, "Umbruch" betitelt, angekündigt als "eine Art literarische Autobiographie". Sicher lustig.

 

Gerhard Stadelmaier
Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeistes
zu Klampen Verlag, Springe 2016, 133 S., 16 Euro

 

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