Mama, ich werde Theaterkritiker

von Sascha Ehlert

Berlin, 9. August 2016. Die Mutter freut's, aber von diesem Nachtkritik hat sie noch nie was gehört. Nein, meine Familie ist alles andere als theateraffin, in meinem Erinnerungsspeicher kaum Theater-Erfahrungen aus der Jugend. Mit meinen Eltern war ich höchstens mal im Musical, mit der Schule einmal in der Komischen Oper, irgendwann mal in der Schaubühne bei irgendeiner Shakespeare-Inszenierung und einmal im Berliner Ensemble, bei "Arturo Ui". Die einzige Seherfahrung, bevor ich achtzehn wurde, die mich bis heute bewegt. Der Nazi, der zu Heino-Musik strippt, wirkte auf mich zwar albern. Aber dieser kleine Schreihals mit dem Bart auf der Bühne, der hinterließ einen bleibenden Eindruck. Dass das Martin Wuttke und die Inszenierung von Heiner Müller war, wusste ich nicht. Ich hatte ja keine Ahnung, wer die beiden sind.

Wuttke Ui WendrichDas erste Theatererlebnis: Martin Wuttke als Arturo Ui.
Filmstill aus dem Film "Arturo Ui in Tel Aviv" von Uwe Preuß und Thomas Wendrich

Ein wenig im Schnelldurchlauf vorgespult: Germanistik, ein paar mehr Theatergänge, ein Theaterkritik-Seminar, ein schleifen gelassenes Studium, Praktika in Musikzeitschriften, freie Autoren-Jobs, dann Redakteurs-Jobs, ein eigenes Print-Magazin – eigentlich könnte ich mich darauf ausruhen. Trotzdem bewerbe ich mich Ende 2015 auf eine Stellenausschreibung von nachtkritik.de. Nicht mal zwei Monate später fange ich dann tatsächlich als Theaterkritiker an, und noch ein halbes Jahr später kann ich sagen: Die Entscheidung für nachtkritik.de war eine meiner besten in den letzten Jahren.

Provokantes Herummüllern

Freitagabend am Berliner Kurfürstendamm. Während meine Freunde, größtenteils keine Theater-Gänger, irgendwo den ersten Wein aufmachen und sich per Whatsapp für irgendeine Party entscheiden, laufe ich Richtung Lehniner Platz, zu meinem ersten Mal in der Kritiker-Sitzreihe im Schaubühnen-Globe, zur Premiere von Milo Raus "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs". Als das Licht ausgeht und die Aufführung beginnt, versuche ich leicht panisch, mir alles zu notieren, was mir auffällt, und merke erst auf dem Nachhauseweg, dass ich im Theater-Dunkel nur unlesbares Gekrakel produziert habe. Trotzdem gelingt es mir irgendwie, bis zum frühen nächsten Morgen einen kohärenten Text zu produzieren, der dann zwei Stunden später unter der hübschen Überschrift Europa, Du In-Kontinent veröffentlicht wird – auch, wenn einer der Kollegen meinem Text direkt mal provokantes "Herummüllern" vorwirft, weil ich darin überzeichnend den Wunsch nach "Kalaschnikow-Menschen" äußere, die der für meine Begriffe allzu gefälligen Inszenierung genau jene Radikalität hätte verpassen können, die Milo Rau meiner Meinung nach mit "Mitleid" anzustreben schien.

Mitleid 560 DanielSeiffert uDie erste Nachtkritik: "Mitleid" von Milo Rau an der Schaubühne © Daniel Seiffert

Die Kritik durch die Kritiker-Instanz schockt mich nur kurz. Eigentlich denke ich mir: Geil, genau deshalb will ich hier sein. Steile Behauptungen aufstellen, mit den Kolleg*innen über die Sache, also über Kunst diskutieren, an einem Diskurs teilnehmen, der ernsthaft an der Sache interessiert ist, hitzig geführt wird und am Ende eine produktive, ja vielleicht sogar heilsame Wirkung hat. Alles Dinge, die mir im Pop, wo alle viel zu sehr miteinander kuscheln, um einander ernsthaft auf die Füße treten zu können, fehlten. Das ist es auch, was mir auch heute an der Theaterwelt am meisten gefällt: Hier nimmt man den Job der Kritik noch ernst, die Leser*innen und die Autor*innen. Selbstverständlich drehen sich auch hier viele meist im Kreis bzw. verlieren sich im (aus meiner Sicht) unnötigen Kleinklein. Es scheint mir, es gibt genug Kritiker*innen, ob professionelle oder Hobby-interessierte, die ihr Urteil über die letzten Inszenierungen von XY bereits so weit gefestigt haben, dass sie diese bei einer neuen Inszenierung nur im neuen Gewand wiederholen. Andererseits: Wer will ihnen dies vorwerfen, machen die meisten Autor*innen und Regisseur*innen nicht das Gleiche? Entscheidend ist doch: Die Diskussion über zentrale Theater-Themen wird leidenschaftlich geführt. Auch, wenn es eine sehr spitze Zielgruppe ist, die hier diskutiert, ist es doch immerhin eine – und ohne sie wäre das Theater nur noch halb so viel wert. Das Kritikenlesen macht mir jedenfalls mehr Spaß als in einer langweiligen Inszenierung gegen das Herunterklappen der Augenlider anzukämpfen.

Gut gemachtes Mittelmaß

Ungleich schwerer zu ertragen sind für mich streckenweise ellenlange Personaldebatten. Ich erinnere mich an diverse Redaktionsdienste, die ich damit zubrachte innerlich über die Kommentator*innen zu den Themen Latchinian vs. Rostocker Kulturpolitik, sowie Sibelius vs. Trier (gefühlt die ganze Stadt) zu fluchen: "Was zur Hölle haben all die Anschuldigungen mit dem zu tun, um das es hier eigentlich gehen soll?" Der Austausch von Schmähungen und Beleidigungen, die Pseudo-Insider-Gerüchte aus den Theaterkantinen des Landes – schon ärgerlich! Vielleicht spricht da aus mir aber auch nur der ignorante Hauptstädter: Als nämlich vor einigen Wochen die Diskussion um das Ende der Ära Castorf an der Volksbühne durch den Offenen Brief seiner Mitarbeiter*innen neu aufflammte, interessierte mich dann doch jeder Debattenbeitrag, ganz gleich wie irrelevant. Ohnehin ist dies für einen Außenstehenden eine gewöhnungsbedürftige Angelegenheit: Aus dem Pop ist man es gewohnt, dass der Markt bestimmt, wer im Radio läuft, wer in die Charts kommt und so weiter. Im Theater spielt das kapitalistische Schreckgespenst (glücklicherweise) eher eine untergeordnete Rolle, dafür ist die Verzahnung mit der Politik vielerorts größer. Auch nicht weniger unangenehm. Immerhin verwundert mich nach Feststellung der Allgegenwart von Kulturpolitik, Verbänden und Vereinen weniger, warum vieles, was ich in der vergangenen Theatersaison sah, so brav, so mittelmäßig, so wenig dringlich auf mich wirkte.

Überhaupt freut sich die Theaterwelt mir gegenwärtig allzu oft über gut gemachtes Mittelmaß: Gut erzählte, gut gespielte, ansprechend bebilderte Inszenierungen. Jüngstes Beispiel ist für mich Sebastian Hartmanns Berlin Alexanderplatz – sehr gut geschauspielert, minimalistisch ins Bild gesetzt. Generell: ein guter Abend. Dennoch, außer Kurzweil gab mir die Inszenierung nicht viel. Es hat Spaß gemacht, aber in mir so gar nichts hinterlassen. Nicht anders erging es mir an typischen Gorki-Abenden, an der Schaubühne oder bei 90 Prozent des diesjährigen Theatertreffens, bei dem ich neun der zehn ausgewählten Inszenierungen sehen konnte. Das schauspielerische Niveau ist hoch, zumindest solide unterhalten fühle ich mich beinahe immer. Aber beeindruckt oder so richtig abgeholt und verstanden? Nein, das ist viel zu selten passiert.

So ein junger Bursche!

Am meisten umgetrieben haben mich (vielleicht erwartbar) die paar Sachen, die in unserer Redaktion, aber auch in unseren Kommentaren am kontroversesten (bzw. tendenziell eher negativ) besprochen wurden. Zum Bespiel Tyrannis von Ersan Mondtag, das auf dem Theatertreffen von der Hauptstadt-Kritik größtenteils genüsslich zerpflückt und auch von unseren Kommentator*innen gebasht wurde. Was wohl vor allem damit zu tun hatte, dass Mondtag vorher so über die Maßen mit Lob überhäuft wurde, dass auf den Hype zwangsläufig die Kritik folgen musste. Vielleicht hat es aber auch etwas damit zu tun, dass Ersan Mondtag in der Öffentlichkeit mit einem Selbstbewusstsein auftritt, dass man "so einem jungen Burschen" nicht zugestehen will. Mir hingegen, auch klar, gefällt genau das: Der alten Garde an den Karren fahren, sich selbst einfach mal größer machen als man eigentlich ist, sich zum neuen Heilsbringer stilisieren. Auch neben der Bühne, in den Medien, wird eben Theater gespielt: komplett fein für mich!

Tyrannis1 560 N.Klinger uSich selbst größer machen, als man ist? Ersan Mondtags "Tyrannis" vom Staatstheater Kassel
© N. Klinger

Inhaltlich betritt "Tyrannis" zwar keine neuen Orte, überzeugte mich aber dafür mit anderen Qualitäten: Einer faszinierenden Erzählweise, einer offensichtlichen, aber sehr effektiven Versuchsanordnung, einem visuell beeindruckenden Stil und einer Form, die mich gefesselt hat. Die Geräusche aus der Außenwelt, das Spiel der stillen Darsteller, der unterschwellige Dauergrusel, der bis zum Ende kaum mittels echter Schock-Effekte aufgelöst wird, die Katharsis, die mir "Tyrannis" vorenthielt, das alles gefällt mir. Das Theater funktionierte perfekt als geschlossener Raum, in den man für knapp zwei Stunden eingesperrt ist, der einen in eine andere Welt hineinführt, in die durch kleine Gucklöcher aber immer wieder einzelne Lichtstrahlen unserer Gegenwart einfließen. "Tyrannis" war sicher kein Welt-veränderndes Meisterwerk, erinnerungswürdiger als beinahe der gesamte Rest des Theatertreffens fand ich die Inszenierung nichtsdestotrotz. Soweit das Thema, das mich in diesem vergangenen Halbjahr am zweitmeisten umtrieb.

Laufende Experimente

Mehr Platz in meinem Leben nahm, wie könnte es anders sein, nur die Volksbühne ein, worüber ich auf nachtkritik.de bereits einen kleinen Beitrag verfasst habe, in dem ich mich sehenden Auges als ein bisschen wertkonservativ oute. Dass Castorf und Pollesch gerne und oft dieselben Motive auf die Bühne schicken, das gönne ich ihnen. So machen es seit jeher gut 90 Prozent aller großen Künstler. Dass sie der Gegenwart nichts mehr zu erzählen haben, empfinde ich ganz anders, und vor allem: Ich sehe bisher keine wirkliche Nachfolge für dieses angeblich beste Sprechtheater der Welt. Ja, es gibt, vor allem durch freie Gruppen, vielerorts interessante Experimente mit Gaming-Elementen, es gibt das Dokumentar-Theater, das postmigrantische Gorki-Theater und was nicht alles noch. Allerdings empfinde ich alle diese Strömungen vor allem als eines: laufende Experimente. Weder im Gorki Theater noch bei Milo Rau oder anderswo habe ich im vergangenen Halbjahr Theater gesehen, das mich nicht nur intellektuell überzeugt oder in meiner politischen Einstellung bestärkt, sondern ganz profund künstlerisch befriedigt hat. Das mich auf einer emotionalen Ebene etwas anzugehen schien.

Habe ich deshalb von kaum einer meiner Seherfahrungen im letzten halben Jahr meinen Nicht-Theatergänger-Freunden erzählt? Vielleicht. An der Qualität der Schauspieler und an der Vielzahl an Theater-Ansätzen liegt es grundsätzlich nicht – was das angeht, nehme ich meine neue Umgebung als ganz fantastisch aufgestellt wahr. Und auf die großen, einschneidenden Theater-Ereignisse, die alles anders machen, hoffe ich dann in der nächsten Saison.

 

ehlert kleinSascha Ehlert,  geboren 1987 in Berlin, studierte Deutsche Literatur, Anglistik und Politik. Gründer der Pop-Zeitschrift Das Wetter und Mitgründer des Korbinian-Verlags. Er leitete knapp zwei Jahre lang die Print-Redaktion der Musikzeitschrift JUICE und schreibt unter anderem für taz und Spex. Seit Anfang 2016 gehört er zur Redaktion von nachtkritik.de.

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