Antwort an die Schnellvernichter

von Uwe Eric Laufenberg

16. August 2016. Es ist ein großes Glück, dass wir in einer Demokratie leben, in der die Worte frei sind, man also so gut wie alles denken und sagen kann. Auch schnell und unbedacht. Und es ist ein Glück, dass die Kunst frei ist und sich nicht, nach welchem Wort auch immer, richten muss und ihre Unabhängigkeit behaupten kann. In Zeiten, in denen in benachbarten Demokratien dieses Recht auf Freiheit in Wort und Kunst zurückgedrängt wird, ist es wichtig, diese Grundvoraussetzung unseres Tuns zu betonen.

Nur leider wird diese Freiheit in der Kunstkritik oft nur einseitig genutzt, denn leider haben sich große Teile des etablierten Feuilletons in ein geschlossenes System begeben, das die unvoreingenommene Betrachtung eines Theater- oder Opernabends nicht mehr zulässt. Es wird nicht das Gezeigte an sich wahrgenommen, weitergedacht und kritisiert, sondern es wird nur überprüft, ob das Gesehene ebenfalls ein geschlossenes System anzubieten hat. Wenn das in Frage steht, wird mit Panik und übelsten Beleidigungen draufgehauen, wobei diese Beleidigungen geradezu grotesk ausfallen. Stadttheater gilt da als Beschimpfung, als Etikett des Billigen und Gewöhnlichen, Staatstheater würde wohl als Ort des Reaktionären gehandelt, das Festival bekommt das, was es verdient (meint dann wohl: Untergang), und Welttheater muss ausgeschlossen werden, weil das ja jedes geschlossene System ausschließen würde.

Wo "Fidelio" nicht spielen darf

Wir Macher können uns über eine sehr genau beschreibende Besprechung in der New York Times oder im Londoner Telegraph freuen. Viele deutsche Feuilletonisten natürlich nicht. Werden sie von den internationalen Kollegen eh nur belächelt, weil sie so sorgsam das einhegen, was man außerhalb Deutschlands als "German trash" bezeichnet. Das Mantra dieses Systems lautet: "Fidelio kann überall spielen, nur nicht im Gefängnis." Es fordert die Überschreibung, die, wenn möglich, vollständige Übermalung des eigentlichen Gegenstandes, ein meist nur intellektuell zu entwickelndes oder aber ästhetisch fest zu zurrendes Konzept. Das eigentliche Stück darf nur Anlass sein, nicht eigentlich vorkommen. Diese Forderung der Herangehensweise ist natürlich selbst ein Gefängnis. Mein größtes Bedürfnis ist, daraus auszubrechen.Parsifal 560 EnricoNawrath Bayreuther Festspiele uDie Feuilletons waren nicht gnädig: Szenenfoto aus dem ersten Aufzug von
Uwe Eric Laufenbergs "Parsifal"-Inszenierung © Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele

Im deutschen Kulturleben – wie natürlich auch auf der Bühne der Bayreuther Festspiele – gab es 1945 nach der Totalzerstörung des Landes und großer Teile der europäischen Kultur durch die nationalsozialistische Diktatur den größtmöglichen Bruch. Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, war laut Adorno barbarisch, von Stockhausen bis Zimmermann wurde an der radikalen Moderne gearbeitet, die alliierten Besatzungsmächte achteten aus gutem Grund genau darauf, dass sich nichts völkisch Vereinfachendes wieder in Kunst und Kultur schlich, nichts Wahres konnte im Falschen sein.

Die totale Entrümpelung?

Wieland Wagner hat dafür 1951 in Bayreuth die sprechende Ästhetik gefunden: nach dem verlorenen Totalen Krieg die totale Entrümpelung. Nichts wurde mehr stehengelassen, alles musste weg, ein Neuanfang mit Licht und einfachster Form, eine Art altgriechisches Oratorium. Nur war in diesem Wahren natürlich auch ein Falsches. Denn es waren ja noch die Menschen und Köpfe, die den Untergang, den Holocaust und die totale Zerstörung herbeigeführt hatten, die dort agierten und im Publikum saßen. Wieland Wagner war selbst ein Mittäter, geradezu ein Ziehsohn Hitlers. Aber das wurde nicht verarbeitet (starb er deswegen so früh, bereits 1966?) oder zu ergründen versucht, sondern entrümpelt, verdrängt. Daneben wucherte das nationalsozialistische Denken lustig weiter, Winifred Wagner empfing im Siegfried-Wagner-Haus und begrüßte zum Beispiel den Bass Karl Ridderbusch. Man unterhielt sich in einschlägigen Codes (USA stehend für: "Unser Seliger Adolf"), und Ridderbusch protzte damit, sein Auto ohne Behelligung durch die fränkische Landschaft mit lauten Hiltler-Reden und Nazimusik zu fahren.TristanWielandSchwennickeBayreutherFestspieleAlles leergefegt, und die braune Vergangenheit gleich mit: Wieland Wagners
Inszenierung von "Tristan und Isolde" (1952) © Schwennicke, BayreutherFestspiele

1976 ereignete sich dann der unglaubliche Skandal. Ein junger französischer (!) Regisseur, von dem niemand in der Festspielleitung etwas gesehen hatte – selbst der ihn vorschlagende Pierre Boulez hatte nur von seiner Schwester gehört, er sei interessant (bis heute scheint es Usus an den großen Opernhäusern und Festspielen zu sein, dass man von den Regisseuren, die man engagiert, nichts gesehen haben muss) – interpretierte wie ein Parsifal das zentrale Werk Wagners und der Deutschen, den "Ring des Nibelungen", ohne Scheuklappen mit allen theatralen, brutalen und realistischen Versätzen als kapitalistische Untergangsoper, die die Ursachen des nationalen Untergangs mit streifte (Hitler hatte als letzte Oper "Götterdämmerung" gesehen, bevor er 1939 den Weltkrieg lostrat, der 70 Millionen Menschen den Tod brachte und europäische Städte und auch alle deutschen dem Erdboden gleich machte).

Durch Verrisse zum Triumph

Der Sturm der Entrüstung war mindestens so groß wie bei Hochhuths "Stellvertreter", der die Mitschuld der katholischen Kirche am Gemetzel zur Diskussion stellte. Auch gab es 1976 nicht eine Kritik, die Chéreaus Ansatz erkennen oder beschreiben konnte, es hagelte nur Verrisse. Es erforderte einen unglaublichen Mut und bewundernswerte Standfestigkeit der damaligen Macher, dass sie unbeirrt ihre Arbeit fortsetzten, zwar Korrekturen unternahmen, aber am Grundsätzlichen festhielten. Es bedurfte aber einer ausführlichen Nacherzählung der Inszenierung durch das Team selbst und solcher Kritikerpersönlichkeiten wie Joachim Kaiser, dass sich die Wahrnehmung in den nächsten Jahren änderte und die Produktion 1980 zu einem triumphalen Abschluss führte: Die Inszenierung führt heute gar den Ehrentitel "Jahrhundert-Ring".

Seitdem hat sich das kulturelle Klima in Deutschland sehr verändert, die Nazizeit, der Holocaust sind aufgearbeitet und gründlich erforscht (wenn auch bis heute nicht in Bayreuth), die erste Welle Terrorismus, Brandt, Schmidt, Kohl, die Ostpolitik, der Mauerfall, die deutsche Wiedervereinigung, das neue Europa sind Geschichte. Erfolgsgeschichte einer freiheitlichen Grundordnung, die wirtschaftlich prosperiert und eine friedliche Zukunft versprechen konnte. Die Erosionen dringen von den Rändern ein, dem abgehängten Süden, den alleingelassen Staaten in Nahost und Afrika, den neuen Alleinherrschern in Russland, der Türkei und anderen gelenkten Staaten auf dem Weg zu einer neuen Diktatur.

Übermalung zur Unkenntlichkeit

Die Kunst bringt in diesen Zeiten Unglaubliches zustande, als ein Beispiel nur: Ai Weiwei in seinen Kampf gegen die chinesischen Machthaber und seinen daraus entstehenden Werken. Auch Christoph Schlingensief ist in der Nachfolge von Josef Beuys ("Jeder Mensch ist ein Künstler") mit der "Church of Fear" Erstaunliches auf dem Feld der Performance gelungen. Seine "Parsifal"-Aufführung traf allerdings auf große Missverständnisse sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum und wurde ein Jahr früher als geplant abgesetzt, weil man nur noch schwer Karten verkaufen konnte. Dass die Aufführung post mortem heilig gesprochen wurde, ist verständlich. Sie war eine Totalübermalung des Bühnenweihfestspiels, und nur außergewöhnliche Sängerdarsteller wie Evelyn Herlitzius, die die Kundry in den letzten zwei Jahren übernahm, schafften es, überhaupt eine Figur sichtbar zu machen.Parsifal Schlingensief 560 Jochen QuastRegie als eigenständiges Kunstwerk: Christoph Schlingensief übermalt "Parsifal" (2004)
© Jochen Quast, Bayreuther Festspiele

Und somit steht diese Aufführung stellvertretend als Denkmal für Herangehensweisen, welche die Regie nicht mehr als die Einrichtung eines Werkes sehen, um es mit heutigen Darstellern und Akteuren einem heutigen Publikum für ein heutiges Verständnis darzubieten, sondern die Regie als ein eigenständiges Kunstwerk mit einem eigenständigen System fordern, die das Originalstück als völlig neu und möglichst unkenntlich erscheinen lassen. "Fidelio kann überall spielen, nur nicht im Gefängnis." Wer da ausbrechen will, ist oberflächlich, platt und banal.

Das Eigentliche eines Theater- oder Opernabends, nämlich die (singenden) Schauspieler werden denn auch völlig unabhängig vom Ganzen gelobt, getadelt oder auch oft nicht beachtet. Das, was Theater eigentlich ist, ein Momentum von Menschen, die vor Menschen spielen, die mit offenen Augen und Ohren, Herzen und Verstand zuschauen, wird von nicht wenigen Kritikern nur noch mit Blick aufs Regiesystem wahrgenommen, sie sitzen ordnend und leider nicht mehr schauend vor einer Theateraufführung. Das Schlimmstmögliche, was ihnen dabei passieren könnte, wären eigene Emotionen oder gar Kontrollverlust. Heute würden sie Chéreaus "Ring", Hand aufs Herz, als altmodisch und gestrig abtun, obwohl Chéreaus Aufführung doch nur Kenntlichmachung war.

Der Untergang des Theaters?

Da muss jetzt Stefan Herheim ran, mit seinen historischen Puppenspiel-Taschentricks, das lässt viel Eigentliches offen, ist aber ein schön geschlossenes System. Nur keine Wirklichkeiten, das wäre peinlich. Castorfs System ist zwar durch Jahrzehnte lange Anwendung hinlänglich bekannt und langweilt inzwischen, aber wenn er nach 25 Jahren nach seinem 65. Geburtstag die Leitung des Vorreitertheatermodensystemhauses Volksbühne Berlin abgeben soll, wird der Untergang des deutschen Theaters herbeigeschrieben, und der neue Intendant Chris Dercon, der wirklich neugierig machen könnte auf Neues, wird als Verräter und "neoliberaler" Nicht-Künstler denunziert.

Und der arme Hans Neuenfels, der so einen wunderbaren, leichten und witzigen, wahren und bestürzenden Ratten-"Lohengrin" auf die Bayreuther Bretter zauberte, der zwar auch für viele martialische, politische Implikationen des Werkes keine Antwort wusste, aber das Werk jederzeit erkennbar ließ, wütet und lallt am Telefon mit dem Deutschlandradio Unverständliches über den Untergang der Kunst und der Theaterkunst schlechthin und besonders in Bayreuth.

Korrekturen am Meinungskanon

Wenn man es eben nicht mehr sehen will und kann, dass alte Meisterwerke zu uns sprechen, wenn man nicht mehr akzeptieren will, dass gute Darsteller und Sänger, die sich spielerisch im heutigen Verständnis bewegen, der Mittelpunkt eines Theaterabends sein können, dass Regie ein Versuch sein könnte, die Brücke zwischen einem alten Werk und dem Heute gangbar zu machen, statt sie endgültig einzureißen, dann muss man wohl sehr laut verurteilen, abkanzeln und verachten.

Aber im Zeitalter des Internets wird man diese Stimmen nicht mehr so laut machen können, dass es im allgemeinen Meinungskanon nicht doch zu lebendigen demokratischen Korrekturen kommt und somit die einzelnen Stimmen der Siegelbewahrer des geschlossenen Kunst- und Machtsystems schwächer und irgendwann unbedeutend werden. Auch ob ein Kunstwerk oder eine Aufführung einen Wert hat, wird die Zeit entscheiden.

 

ue laufenberg 210 c lenaobst 0204© Lena ObstUwe Eric Laufenberg  geboren 1960, war zunächst als Schauspieler und Regisseur am Schauspiel Frankfurt, am Schauspiel Köln und am Schauspielhaus Zürich tätig, ehe er 1996 als Oberspielleiter ans Maxim-Gorki-Theater nach Berlin wechselte. Von 2004 bis 2009 war er Intendant des Hans Otto Theaters Potsdam, anschließend bis 2012 Intendant der Oper Köln. Seit Beginn der Spielzeit 2014/15 ist er Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden. 2016 inszenierte er bei den Bayreuther Festspielen Richard Wagners "Parsifal" und erntete mit dieser Arbeit bei den deutschsprachigen Kritikern überwiegend Verrisse.

 

Hier geht's zur Nachtkritik von Uwe Eric Laufenbergs "Parsifal" sowie zur Kritikenrundschau.

Es ist nicht das erste Mal, dass Laufenberg Kritik am Feuilleton übt. Anlässlich der Besprechungen seiner Inszenierung von "Otello" am Hesssichen Staatstheater Wiesbaden, schrieb Laufenberg seinen Kritikern im September 2015 einen offenen Brief.

 

Presseschau

Laufenbergs Text provozierte harrschen Widerspruch von Kritikern. So attestiert Detlef Brandenburg von der Deutschen Bühne (16.8.2016) Laufenberg "ein gestörtes Verhältnis zur Freiheit der Kritik". "Schon seine Formulierung, dass die Kritiker ihre Freiheit 'einseitig' benutzten, ist ja verräterisch." Wer anderen Vorschriften über Nutzung ihrer Freiheit mache, schränke diese ein. "Es gibt den schönen Satz, dass Freiheit sich vor allem als Freiheit der anders Denkenden bewährt." Die Freiheit der übereinstimmenden Meinung dagegen sei 'wohlfeil'. "Kunst ist geradezu konstitutiv definiert dadurch, dass ihre Wahrnehmung immer schon ('a priori', wie das in der Erkenntnistheorie heißt, denn es geht gar nicht anders) subjektiv gefärbt ist – so dass ich mich als Zuschauer rechtens der Illusion hingeben darf, dass ein Kunstwerk mich ganz persönlich anspricht und betrifft." Wenn nun ein Künstler wie Laufenberg vor diesem Hintergrund ausgerechnet vom Kunstkritiker erwarte, dass er ein "Gezeigtes an sich" wahrnimmt und ausschließlich dieses "weiterdenkt und kritisiert", unterstelle er der Kunst eine Wahrheit an sich, die offenbar nur der Schöpfer, Laufenberg selbst, kennt. "Dieses Kunstverständnis ist antiquiert."

"Hat Laufenberg das Eigentliche nicht kapiert, dass es bei Bayreuther Premierenrezensionen schon längst nicht mehr nur um das Gesehene geht? Das ist bei einer Produktion pro Jahr für nicht wenige doch nur der Vorwand, um der nach den obligatorischen Proben-'Skandalen' auf dem Grünen Hügel aufgeheizt sensationslüsternen Öffentlichkeit die Leitung und die Institution als Ganzes vorzuführen", schreibt Manuel Brug in seinem Die Welt-Oper-Blog (16.8.2016). Der Regisseur fungiere da nicht selten nur als "Crashtest-Dummy". "Das hätte er meinetwegen kritisieren können. Aber doch nicht, dass er als Verantwortlicher für eine unfertige, nicht wirklich ausgegorene Inszenierung wohlmöglich ein wenig zu hart rangenommen wurde."

Für Florian Zinnecker vom Nordbayrischen Kurier (17.8.2016) zeugt Laufenbers Text davon, "dass der Regisseur seine eigenen Ideen für nicht stark genug hält, für sich selbst zu sprechen, wenn er es für nötig erachtet, ihnen jetzt zu Hilfe zu eilen". Seine Verteidigungsrede sei ein Gegenangriff. "Einer, der nach allen Seiten losgeht. Und leider vor allem: nach hinten." Souveräner werde Laufenbergs Haltung auch nicht durch die Kritik an seinen Vorgängern Schlingensief, Castorf oder Herheim.

Volker Milch vom Wiesbadener Kurier (20.8.2016) vermutet: "Hinter Laufenbergs Texten steht die schiere Fassungslosigkeit darüber, dass Rezensenten seine wahren Qualitäten partout nicht erkennen wollen." Solchermaßen abgewertete Arbeit versuche der Regisseur aufzuwerten, indem er sie als Gegenstand einer großen Grundsatzdiskussion anbiete. Für deren Gewicht sei sie im Fall seines 'Parsifal' aber "nicht tragfähig genug".

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