Die Musealisierung des Eisenhändlers

von Sascha Ehlert

24. August 2016. Jetzt, da die Ära Castorf an der Volksbühne zu Ende geht, ist offenbar die Zeit gekommen, um dessen Denkmal mit Ornamenten und Verzierungen zu verschönern, oder böse ausgedrückt: es zu verkitschen. Diese Befürchtung drängt sich jedenfalls auf, beschaut man zwei neue Publikationen, die dieser Tage erscheinen: zum einen die "Republik Castorf", herausgegeben von Frank Raddatz, insbesondere aber das "Arbeitsbuch Castorf" von "Theater der Zeit". "Seit seinem Durchbruch in den frühen neunziger Jahren hatte kein anderer Regisseur in den vergangenen Jahrzehnten mehr Einfluss", schreibt dort Staffen Valdemar Holm, schwedisch-deutscher Theatermacher und ehemaliger Intendant des Schauspielhaus Düsseldorf. Bedeuten Sätze wie dieser das Ende des Widerstands von Castorfs Kunst gegen die Gegenwart?

Wird er nun endgültig kanonisiert, sodass seine Kratzbürstigkeit zwangsläufig verloren geht? Wird er nun zum Klassiker erhoben, dessen Werk als abgeschlossen betrachtet wird, dem der Künstler selbst also höchstens noch Randnotizen hinzufügen darf, bis er dann endlich abtritt?

Erweckungserlebnisse am Rosa-Luxemburg-Platz

Castorf ArbeitsbuchDer dicke Mittelteil des Arbeitsbuches jedenfalls wird dominiert von kurzen Essays, in denen internationale Theatermacher*innen ihre Castorf-Seherfahrungen schildern. Oft sind das Erweckungserlebnisse, die man als Volksbühnen-Freund zwar gerne liest, die allerdings darüber hinaus nicht den größten Mehrwert bieten. "Bei Castorf begegneten wir einer neuen Methodik der Arbeit, die uns ganz andere Möglichkeiten der schöpferischen Tätigkeit eröffnete", schwärmt der brasilianischen Schauspieler Sidney Santiago von der Gruppe Os Crespos. Und Hung Hung aus Taiwan schreibt, Castorf habe "mit seinem radikalen Stil viele junge Theatermacher zu mehr Kühnheit und Intellektualität" ermutigt.

Diese Feststellung ist zwar aller Ehren wert und die im Arbeitsbuch aufgefahrene Künstlerriege durchaus beeindruckend, allerdings bleibt dennoch als Aussage vor allem der Satz stehen: Castorf hat eine ganze Generation junger Theatermenschen beeinflusst, und zwar weltweit. Hier erstarrt das Arbeitsbuch in Ehrfurcht.

Wider die Altersmüdigkeit?

Sowohl im "Arbeitsbuch" als auch in "Republik Castorf", gehören die letzten Worte Castorf selbst. Theater der Zeit druckt seine Kunstpreis-Rede aus dem vergangenen März ab, in der dieser einen breiten Graben mit einer Mischung aus persönlicher und kultureller Geschichte überspannte, um schlussendlich zu konstatieren: "Viele Menschen werden krank in unserer Gesellschaft, weil sie Angst haben, das, was wahr ist, das, was ihre Wahrheit ist, auszusprechen. Diese Angst habe ich nicht und insofern bin ich ein glücklicher Mensch." Gerade im Vergleich zu der Empörung, die zuletzt der offene Brief der Volksbühnenbelegschaft ausdrückte, klingt dieser Schlusssatz mehr versöhnlich als kämpferisch.

Republik CastorfDie "Republik Castorf" – ein klassischer Interview-Band – schließt offensiver: "Dieser Konsens im Theater war immer genau das, was wir hier versucht haben, durch den Konflikt zu zerstören. Es ging uns gerade darum, keinen Konsens von oben und unten zu schaffen, sondern immer einen Widerspruch und eine potenzielle Feindschaft zu behaupten. Auch das Böse, wenn man so will." Den Grund dafür, warum mit dem Ende der nächsten Spielzeit diese Ära besser nicht enden sollte, spricht jedoch Frank Raddatz (im Gespräch mit Castorf) selbst aus: "Die Volksbühne insistiert seit ihren Anfängen auf Geschichte. Geschichte als Obsession." Überhaupt tut Raddatz in diesem Buch sein Bestes, sich selbst als Interviewer in die große Lobeshymne auf dieses Theater und seinen Noch-Intendanten einzubringen. Oft setzt er seinen Gesprächspartnern keine Fragen, sondern eindeutige Aussagen vor. Zum Beispiel im Gespräch mit Alexander Scheer: "Verglichen mit der Volksbühne sind die anderen deutschsprachigen Theater eher konturlos." Kurz vorher insistiert Raddatz, die Berufung von Dercon zum Volksbühnen-Indentanden sei eine "Maßnahme gegen das Bewusstsein von Geschichte, das dieses als einziges in Deutschland hochhält." Er meint hiermit wohl das spezifische OST-Bewusstsein der Volksbühne, symbolisiert durch eben jene Buchstaben, die zumindest kommende Spielzeit noch auf dem Dach des Hauses thronen. Alexander Scheer hierzu: "Hier steht OST auf dem Dach und damit kann ich was anfangen. Aber an diesem Haus spielt es erst mal keine Rolle, wo du herkommst. Hier geht’s um eine Haltung. (...) Ich habe OST immer als Wegweiser verstanden, hier Sachen anders und eigenständig zu machen."

Verlustängste

Dank der zahlreichen Gespräche mit Schauspielern und Schauspielerinnen (Henry Hübchen, Marc Hosemann, Sophie Rois, Lilith Stangenberg u.v.m.), aber auch gegenwärtigen und ehemaligen Mitstreitern hinter der Bühne von Bert Neumann, über Jürgen Kuttner, bis hin zu Matthias Lilienthal, die sich oft mit der Geschichtsbearbeitung im Theater beschäftigen und viel über den ideologischen und idealistischen Hintergrund der Castorf'schen Theatermannschaft verraten, ist "Republik Castorf" mehr noch als das "Arbeitsbuch" eine Veröffentlichung im Volksbühnen-Sinne. Raddatz versucht an keiner Stelle eine kritische Distanz zu seinem Gegenstand einzunehmen, bringt dafür aber durch seine Gespräche oft Lesenswertes über das Innenleben der Volksbühne an die Oberfläche, wo die Essayisten im "Arbeitsbuch" in Bewunderung schwelgen. Musealisiert wird der Gegenstand Volksbühne trotzdem in beiden Veröffentlichungen.

Moderner Klassiker

Selbstverständlich haben die Volksbühne und Castorf es "verdient", zum modernen Klassiker erhoben zu werden. Immerhin hat sich diese Mannschaft trotz anfangs erheblicher Widerstände, trotz künstlerischer Durststrecken und trotz ihrer langen Existenz ihre einzigartige und von keinem ihrer Kopisten je zerstörte Ästhetik und Identität bis heute erhalten. Auch 2016 zieht die Volksbühne noch neue, junge Theatergänger an. Insbesondere dieser Nachwuchs dürfte die beiden vorliegenden Text-Sammlungen nichtsdestotrotz mit Befremden lesen. Immerhin wird hier bereits Geschichtsschreibung betrieben, obwohl das mutmaßlich "gefährlichste Theater der Welt" (erneut: Alexander Scheer) erst in einem knappen Dreivierteljahr zumacht. Dieser Vorgang ist selbstverständlich nicht aufzuhalten, in den kommenden Monaten werden wir noch viel mehr solcher Texte vorgesetzt bekommen. Man kann nur hoffen, dass Castorf und Co. sie nicht lesen. So viel Lob erträgt kein Künstler.

 

Republik Castorf – Die Berliner Volksbühne seit 1992
Herausgegeben von Frank Raddatz
Alexander Verlag Berlin 2016, 376 Seiten, 18,00 Euro

 

Castorf – Arbeitsbuch 2016
Herausgegeben von Dorte Lena Eilers, Thomas Irmer und Harald Müller
Theater der Zeit Berlin 2016, 184 Seiten, 24,50 Euro

Kommentare  
Rezension – Castorf-Bücher: Angetan
Ich bin ja sehr angetan von der sehr differenzierenden Rezension von Dirk Pilz und staune ein bisschen, dass diese hier auf nachtkritk.de noch nicht erwähnt wurde. Oder habe ich das übersehen?
http://www.berliner-zeitung.de/kultur/buch-ueber-berliner-volksbuehne-der-castorf-kosmos-als-goetterhimmel-24623524
Rezension - Castorf-Bücher: Über Konsens-Vermeidung
Ich habe es immer als größtes Problem der Castorf'schen dramaturgischen Arbeit gesehen, dass dieser künstlerischen Anstrengung des "wir sind zu schnell einer Meinung"-Denkens der eher unkünstlerische Arbeits-Reflex folgte "deshalb dürfen wir n i e einer Meinung sein". Ich meine damit nicht die Arbveit der Castorf'schen Dramaturgen, sondern wirklich seine eigene dramaturgische Überlegung, mit der er sich schließlich für bestimmte Dramaturgen, Stücke und Texte sowie seine spezifische Art der Probenarbeit entschied.
Und, bezüglich der Nichtbefragten: ich kenne auch z.B. eine sehr gute Schauspielerin, die in der ersten absoluten Hochzeit der Volksbühne unter seiner Leitung als Absolventin ein Angebot von ihm bekam - Sie hat "Nein" gesagt und ein kleineres, viel weniger brühmtes Theater in der Schweiz bevorzugt. Weil sie sich "nicht verheizen" lassen wollte in einem großräumigen, s e e h r großräumigen, aber dennoch irgendwie als Gefängnis empfundenen Raum. Und seltsamerweise haben das damals ihre sämtlichen, mit ihr gerade gemeinsam probenden Kollegen und Kolleginnen vollkommen schnell verstanden - das war 1995 -
Das Problem, wenn man Konsenz unter ALLEN Umständen aus künstlerischen Gründen vermeiden will, ist, dass für diese Konsequenz Leute den Preis bezahlen. Und zwar immer andere. Nie derjenige, der die Behauptung aufstellt und an ihrer Darstellung mit Hilfe der anderen festhält. Mein Verdacht - bei allem Respekt und Bewunderung für seine hochartifiziellen Kraftakte - war immer, dass Castorf Konsenz reflexartig gleich mit kleinbürgerlichem Harmoniebedürfnis verwechselt hat und sich nie einer so richtig getraut hat, ihm zu sagen, dass das nicht zwangsläufig das gleiche ist... Ich hatte es einmal versucht, aber vermutlich nicht den richtigen Ton getroffen. Oder möglicherweise den zu richtigen. Das wäre auch denkbar... Bestimmt den richtigen Ton getroffen hat aber, denke ich, in dieser BZ-Rezension der Publikationen, Dirk Pilz. Hoffentlich können Verlage damit etwas anfangen, wenn sie ihre nächsten Bücher machen über die unangefochten wichtigen Künstler unserer Zeit. Zu wünschen wär es ihnen.
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