So Little Time - Mit einer Uraufführung des libanesischen Regisseurs Rabih Mroué beginnt die Wiesbaden Biennale
Die Märtyrer sind Marionetten
von Alexander Jürgs
Wiesbaden, 25. August 2016. Die Bühne ist schwarz, spartanisch eingerichtet. Eine helle Pressspanplatte hängt in der Luft, daneben ein Tisch mit weißer Oberfläche und schwarzen Beinen, in den Tisch eingelassen ein durchsichtiges Behältnis mit einer Flüssigkeit. Lina Majdalanie steht da, mit roten Korkenzieherlocken, und beginnt zu erzählen. Sachlich, unaufgeregt, lakonisch. Sie berichtet von einem Gefangenenaustausch zwischen Israel und der PLO, im Jahr 1971. Die Überreste eines Soldaten der israelischen Armee werden eingetauscht gegen acht palästinensische Gefangene und den toten Körper von Deeb Al-Asmar. Er gilt als der erste Libanese, der für die Sache der Palästinenser den Märtyrertod gestorben ist. Die Heimkehr seines Leichnams setzt ein riesiges Brimborium in Gang. In den Straßen wird der Gefallene gefeiert, in Beirut wird eine Statue für ihn errichtet.
Während die Darstellerin von der Verehrung für Deeb Al-Asmar berichtet, lässt sie Fotografien in das Behältnis fallen, eine Videokamera filmt es aus der Vogelperspektive. Es sind private Fotos, die Lina Majdalanie zeigen, als Jugendliche, mit Freunden, mit ihrem Mann Rabih Mroué, dem Regisseur und Autor des Stücks. Nach kurzer Zeit in der Flüssigkeit verlieren die Fotos ihre Farbe. Als die Darstellerin schließlich auf die Bilder stupst, löst sich alles auf, werden sie weiß – ein Symbol für das Verschwinden der Erinnerungen.
Ein Neuanfang in Wiesbaden
Mit der Uraufführung von "So Little Time" startet die neukonzipierte Wiesbaden Biennale, die erste, seit Uwe Eric Laufenberg die Leitung des Staatstheaters in der hessischen Landeshauptstadt übernommen hat. Sie ersetzt das Festival "Neue Stücke aus Europa", das Laufenbergs Vorgänger Manfred Beilharz in den 1990er-Jahren in Bonn ins Leben rief und später in Wiesbaden fortsetzte. "Neue Stücke aus Europa" war, nach dem Ende des Sowjet-Kommunismus, vor allem ein Sprungbrett für die junge Theaterszene Osteuropas. Der Nachfolger soll jünger, experimenteller und interdisziplinärer sein. Dem Neuanfang haben die Kuratoren Maria Magdalena Ludewig und Martin Hammer das programmatische Motto "This is not Europe" verpasst. Nur folgerichtig, dass am Anfang des Festivals das Stück eines libanesischen Künstlers steht.
Die Geschichte des Märtyrers in "So Little Time" ist fiktiv. Die Wendungen, die sie nimmt, sind obskur und oft auch komisch. Einige Jahre nach der Einweihung des Denkmals taucht Deeb Al-Asmar plötzlich – quicklebendig – wieder auf. Benommen steht er vor seiner eigenen Statue, sieht seinen Namen in goldener Schrift auf wertvollem Marmor. Er bekommt Gänsehaut, wenn er sich dort gegenüber steht, und manchmal auch Mitleid mit sich selbst, so erzählt es Lina Majdalanie in arabischer Sprache – es gibt Übertitel in Englisch und Deutsch. Wer aber ist dieser Deeb Al-Asmar nun? Ein lebendiger Märtyrer? Ein aus der israelischen Haft entlassener Gefangener, der aus Versehen zum Märtyrer erklärt wurde? Und was ist mit seinem Denkmal? Muss es umbenannt werden? Oder abgerissen?
Libanesischer Bürgerkrieg im Schnelldurchlauf
Man spürt den Spaß am Geschichten erzählen, den Rabih Mroué beim Schreiben des Stückes gehabt haben muss, die Freude am Spinnen von immer neuen und immer abstruseren Entwicklungen. PLO-Chef Jassir Arafat und Gamal Abdel Nasser, der frühere ägyptische Präsident, tauchen auf. Der "lebendige Märtyrer" gerät zwischen die Fronten des libanesischen Bürgerkriegs, trifft auf Falangisten, die Amal-Bewegung, die Hisbollah, das Stück wird zur Geschichtsstunde im Schnelldurchlauf. Während des 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg ist Rabih Mroué, Jahrgang 1967, groß geworden, die Beschäftigung mit ihm zieht sich als roter Faden durch sein Werk.
Man hört ein trauriges Lied des arabischen Popstars Abdel Halim Hafez, Lina Majdalanie fügt die ausgeblichenen Fotopapiere mit Hilfe einer Leine und Wäscheklammern zu einer Projektionsfläche. Darauf erscheint das Bild einer Menschenansammlung. Die Darstellerin tritt hinter die Holzwand, wird Teil des Bildes. Während sie den Rest der Geschichte erzählt, sieht man sie nur noch per Video.
Der Märtyrer – eine erbärmliche Figur
Darf man das? Darf man so leichtfüßig, so fantasiereich und humorvoll von den Märtyrern sprechen, während die Kämpfer des Islamischen Staats im Nahen Osten und in Europa wüten, während sie Menschen in den Tod reißen? Ja, denn mit seinem Stück macht Rabih Mroué überdeutlich, dass der Märtyrer eine Marionette ist, dass er nicht mehr ist als ein Werkzeug der barbarischen Propaganda der Terrormilizen (aber auch der Armeen). Der echte Mensch, der dort stirbt, interessiert nicht. Es geht um ein Bild, das Aufopferung zeigen oder Schrecken erzeugen soll. Der Märtyrer ist eine tragikomische Figur, im Grunde: eine erbärmliche Figur. Auch wenn es schwer fällt, wenn es angesichts der vielen Opfer eigentlich unmöglich erscheint, kann man Rabih Mroués Stück trotzdem als Aufforderung verstehen: Lasst uns lachen über die Terroristen!
So Little Time
von Rabih Mroué
Regie: Rabih Mroué; Mitarbeit am Text: Yousef Bazzi und Lina Majdalanie; Bühne: Sama Maakaroun.
Mit: Lina Majdalanie.
Dauer: 55 Minuten, keine Pause
www.wiesbaden-biennale.eu
www.hebbel-am-ufer.de
"Ironisch-bittere Wendungen nimmt Mroués kleine Geschichte", schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (27.8.2016) in einer Besprechung des Auftakts der Wiesbadener Biennale. Mroué, der Fiktionen in tatsächliche Geschichte webe, lasse den fiktiven Al-Asmar zur Legende werden, mit 40-tägiger Gedenkfeier nach seinem Tod und stolzer Statue. "Und während Lina Majdalanie erzählt, legt sie Fotografie um Fotografie in ein Chemiebad – die Bilder schwinden, werden weiß". "So little time" überzeuge durch "unaufgeregte, zart lustige Schlichtheit".
Wie immer setze sich Mroué mit der Wahrheit hinter Bildern auseinander, so Stefan Keim in dradio Fazit (25.8.2016). Diesmal anhand der Biografie eines fiktiven islamischen Märtyrers. Nach seinem Tod komme er zurück und betrachte sein eigenes Denkmal. "Aus dieser absurden Situation wird bei Mroué und der Peformerin Lina Majdalanie ein hochintelligentes und witziges Spiel in einem Fotostudio."
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Und warum soll man hier, Ihrer Meinung nach, auch zugleich über die "Terroropfer" lachen? Soweit ich die Rezension verstehe, geht es hier doch allein um die (ehemaligen) Täter. Die PLO von 1971 ist ausserdem etwas anderes als der IS von heute, da empfinde ich Alexander Jürgs Aussagen als zu undifferenziert.
hier läuft eine diskussion, die wenig mit dem zu tun hat, was an diesem abend auf der bühne zu sehen ist. - das hat leider auch mit dem beitrag von alexander jürgs zu tun, der versucht, das thema terrorismus mit dieser arbeit von mroué zu verknüpfen. das stück hat überhaupt nichts damit zu tun. - der märtyrer begriff bezieht sich nicht auf "terroristen", sondern auf die klassische arabische bezeichnung des "helden".
"so little time" ist ein kammerspiel, in dem es um die heldische überhöhung eines kleinen soldaten geht, der mit dieser rolle völlig überfordert ist. da kommen für mich ganz andere fragen auf: was ist wahrheit? was ist erinnerung? wer möchte helden kreieren? warum? und was für sehnsüchte stehen da hinter? etc. etc.