Das Spielfeld lesen lernen

von Shirin Sojitrawalla

30. August 2016. Im Fußball spricht man davon, ein Spiel lesen zu können. Dieses Lesen ist nicht nur so genannten Fachleuten, sondern auch sachkundigen Laien zuzutrauen. Ähnlich verhält sich das im Theater. Auch eine Aufführung will gelesen werden. Was geschieht wo und wieso und mit welchem Ergebnis? So weit, so klar, doch wie bewertet man das Spiel, äh, Stück?

In dieser Hinsicht gehen die Meinungen oft haarsträubend weit auseinander. Was die einen empört, reißt die anderen von den Sesseln. Doch wie kommt ein ästhetisches Urteil eigentlich zustande?

"Schule der Wahrnehmung"

bernd sucher coverFür den Kritiker C. Bernd Sucher, der sein halbes Leben im Theater saß, ist die Antwort klar: "durch präzise und differenzierte Wahrnehmung". An der Bayerischen Staatsoper initiierte er vor ein paar Jahren gemeinsam mit den jeweiligen Produktionsdramaturgen eine "Schule der Wahrnehmung", die Laien lehrte, genau hinzusehen. Dabei sollten sie sich mit Urteilen, Vorurteilen gar, zurückhalten, und erst einmal nur beschreiben, was sie gesehen hatten. Unbedingt nachahmenswert.

Als Nebenprodukt hat Sucher jetzt einen Theaterverführer verfasst, der sich in erster Linie an Otto-Normalzuschauer wendet. Dabei macht er sich mit geradezu missionarischem Eifer an die Arbeit, den Leuten "theatrale Wahrnehmung" beizubringen. Los geht's mit einem 1x1 des Theaterbetriebs. Mit historischer Übersicht und Weltwissen stellt er unterschiedliche Berufe vor, vom Regisseur über den Dramaturgen bis hin zu Bühnenmusikern und Maskenbildnern.

Erst lesen, dann wahrnehmen

Danach beschäftigt er sich mit der Wahrnehmung an sich, die für ihn ohne Vorbereitung nicht zum Ziel führt. Das heißt: Ohne vorherige Lektüre des Stücks geht gar nichts. Im Falle von Übersetzungen sei es gut, sich obendrein mit dem Original zu befassen, bei Adaptionen von Romanen oder Filmen sind auch diese zu lesen und anzuschauen. Da ist Sucher streng und vor allem von keinem Zweifel angekränkelt. Dass diese Art der Vorbereitung beim Dechiffrieren eines Theaterabends hilft, geschenkt. Manchmal aber steht sie einem Sich-Unbefangen-Einlassen, Sich-Intuitiv-Hineinbegeben auch im Weg. Dasselbe gilt für die eigene Theater- und Lebenserfahrung, die nicht nur das Urteil leitet, sondern auch die Wahrnehmung. Sucher weiß darum und richtet seine Aufmerksamkeit nicht nur auf Licht, Symbole, Bewegungsabläufe und anderes mehr, sondern auch auf die Selbstwahrnehmung. Dabei wiederholt er sich schon mal und zitiert besonders gerne Lessing.

Keine Zumutung – ein theatrales Zeichen

Nicht nur in puncto Vorbereitung ist Sucher unerbittlich, auch im Saal soll sich der Zuschauer fügen. Das im Theater schrecklich gern zelebrierte Blenden des Saals mittels Batterien von Scheinwerfern sollte seiner Meinung nach durchlitten werden, handele es sich hierbei doch nicht um eine Zumutung, sondern um ein theatrales Zeichen. Selbes konstatiert er fürs unbeliebte Mitmachen. So gewiss wie sie klingen sind Suchers Gewissheiten natürlich nicht. Das gilt auch für seinen Ratschlag, Interviews mit Regisseuren zu lesen. "Bloß nicht!", möchte man rufen, zumindest nicht vorab. Denn die Gefahr, dass die Zuschauer dann auf der Bühne sehen, was der Regisseur sich bei all dem gedacht hat, nicht aber, was er wirklich auf die Bühne gebracht hat, besteht durchaus.

Nicht zu unterschätzen

Dabei ist Suchers Hinweis, man solle Dramatiker und ihre Werke, Regisseure und ihre Inszenierungen nicht unterschätzen, mehr als angebracht. Dass er sich in seinem Buch an die Seite der Künstler stellt, geht in Ordnung. Ein Frauenversteher ist einer, der weiß, wie Frauen ticken. Und Suchers Buch schimpft sich schließlich Theaterversteher, wenn auch nur kleiner.

Es lehrt tatsächlich die Kunst der Wahrnehmung, wartet dabei mit vielen alten und aktuellen Beispielen auf, holt sich Schützenhilfe bei Adorno, Schiller, Diderot, macht mit den Gepflogenheiten des postdramatischen Theaters und der Performance-Kunst vertraut, erklärt die Zuschauer zu Mitschöpfern der Aufführung und sonnt sich überflüssigerweise in Kollegenschelte.
Sucher weiß, was Theatermacher wünschen. Als Leser indes wünschte man sich zuweilen von ihm mehr gemischte Empfindungen. Diese postuliert der im Buch zitierte Philosoph Konrad Paul Liessmann auch als wesentlichen Reiz ästhetischer Empfindungen.

 

Wie es euch gefällt. Der kleine Theaterversteher. Alles, was auf, vor und hinter der Bühne geschieht
von C. Bernd Sucher:
Verlag C.H. Beck, 266 Seiten, € 16,95.

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