Presseschau vom 16. September 2016 – Tim Renner im Wahlkampf-Gespräch mit der taz
"Dercon ist alternativlos"
Berlin, 16. September 2016. "Ganz ehrlich: Das weiß ich genauso wenig wie Sie", antwortet Tim Renner auf die Frage, ob er auch in Zukunft noch im Amt sein werde. Im Interview mit Andreas Fanizadeh und Jens Uthoff von der taz (16.9.2016) präsentiert sich Berlins aktueller Kulturstaatsekretär bescheiden. "Ich denke über die Zukunft der Kultur in Berlin nach. Das ist mein Job."
Ob in einer rot-rot-grünen Koalition oder gemeinsam mit der CDU – Renner möchte den während seiner ersten Amtszeit eingeschlagenen Kurs fortführen. "Wir haben es mit Rot-Schwarz hinbekommen – und gehen davon aus, dass wir es erst recht mit Rot-Rot-Grün hinbekämen." Er betont seine Sympathien für die kulturpolitischen Ansichten von Klaus Lederer von Die Linke. Da gäbe es viele Gemeinsamkeiten: "Er will kulturelle Räume in einer wachsenden Stadt sichern – genau. Er möchte, dass Kultur über die Bezirke gedacht wird – einer unserer Schwerpunkte für den nächsten Haushalt (...)."
Angesprochen auf die vielfach kritisierten Neubesetzungen von Spitzenposten (zuletzt hagelte es Protest nachdem bekannt wurde, dass Sasha Waltz und Johannes Öhman ab 2019 das Berliner Staatsballett übernehmen sollen) gibt Renner Fehler in der Kommunikation zu: "Im Fall Chris Dercon/Volksbühne zirkulierte der Gedanke, ihn zu installieren, viel zu früh öffentlich – mein Fehler." In der "Causa Staatsballett" sei es wiederum so gewesen, dass 'man' davon ausging, die Stiftung Oper würde die am Staatsballett Arbeitenden informieren. "Dem war nicht so. Die Kompagnie hat von der Entscheidung aus den Medien erfahren. Das sollte so nicht sein."
Natürlich geht es im Verlauf des Gesprächs auch um die Diskussion um die Castorf-Nachfolge an der Volksbühne. Den Vorwurf, Chris Dercon sei ein verkappter Vertreter des Neoliberalismus weist Renner entschieden zurück: "Wenn ein Mensch alles andere als 'neoliberal' ist, dann Chris Dercon. Der Grund, warum er England und der Tate Modern den Rücken kehrt, ist doch gerade, dass er dort die neoliberalen Strukturen nicht erträgt." Die reflexhafte Kritik an Dercon verstehe er ohnehin nicht. Immerhin habe Dercon Christoph Schlingensief noch vor der Volksbühne entdeckt, zumindest behauptet das Renner: "Chris Dercon hat bereits vor Frank Castorf mit Christoph Schlingensief inszeniert und ihm eine Plattform geboten. Das, was wir im Prater gesehen haben, waren häufig Aufführungen, die vorher in der Turbine Hall am Tate Modern gastierten." Darauf, dass insbesondere erste Aussage falsch ist und Schlingensief bereits 1993 zuerst an der Volksbühne gearbeitet hat (und damit lange vor Dercon) gehen seine Interviewpartner nicht ein. Anstattdessen wird Renner nach seinen Plänen für die "neue" Volksbühne gefragt.
Renner gibt zu, dass es "kein einfaches Vorhaben" sei, an der Volksbühne eine "Post-Castorf-Identität" zu entwickeln. Es müsse dabei darum gehen, "das Gute, das die Volksbühne auszeichnet, weiterzuführen, ohne Castorf zu kopieren." An der Ernennung Dercons zum Intendanten sei im Übrigen selbstverständlich nichts zu rütteln: "Chris Dercon und sein Team sind alternativlos, sie sind bereits an den Planungen für 2017."
Die nächste Spielzeit an der Volksbühne werde in den Hangars des Flughafen Tempelhof beginnen, erklärt Renner außerdem. "Das hat auch bauliche Gründe. Wir können erst nach der Castorf-Zeit dort neu gestalten." Die aktuell in Tempelhof untergebrachten Flüchtlinge will Dercon laut Renner in die Entstehungsgeschichte der neuen Volksbühne einbinden. "Das neue Volksbühnen-Team spreche darüber zum Beispiel mit Diébédo Francis Kéré, der mit Schlingensief das Operndorf in Burkina Faso gebaut hat." Renner betont, er wolle das "alte Berlin" in die Zukunft mitnehmen und die Stadt als "internationalen Platz freiheitsliebender Menschen denken".
Zu guter Letzt betont Renner, er und sein Team hätten in seiner ersten Amtszeit einen Schwerpunkt auf die Freie Szene gelegt. Diese will er auch in Zukunft verstärkt unterstützen. Dazu müsse der Berliner Kulturhaushalt weiter wachsen, und zwar "wie zuletzt, um 7 respektive 11 Prozent."
(sae)
Mitteilung der Redaktion: Auf Anregung von nachtkritik.de hat die taz aus der Online-Version des Interviews zumindest die Passage gestrichen, in der Tim Renner behauptet, Chris Dercon habe lange vor der Volksbühne mit Christoph Schlingensief zusammengearbeitet. (sle, 17. 9.2016)
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Schlingensief arbeitete 1993 zum ersten Mal an der Volksbühne und an einem Theater überhaupt. Da werkelte Chris Dercon noch in Rotterdam und hatte den Namen Schlingensief noch nie gehört.
2003 arbeitete Schlingensief zum ersten Mal mit Dercon zusammen und zwar in München im Haus der Kunst, zu einem Zeitpunkt zudem Schlingensief schon überall, aber wirklich überall, gewerkelt hatte, selbst in einem Museum, denn da wurde er zuvor von Klaus Biesenbach zu eingeladen. Und eben nicht von Dercon, der kein Entdecker, sondern ein Plagiator ist.
Was Dercon von 2003 an in München und später von 2011 an in der TATE präsentierte war ja prima, doch zu dieser Zeit hatte der Prater der Volksbühne schon lange Zeit gespielt.
Was soll denn das?
Soviel Dummheit noch zur Publikation frei zu geben, also wirklich... da bleibt mir die Spucke weg.
Am Sonntag bitte all diese Idioten abwählen!
Denn: In der Causa Volksbühne war es eben nicht "zu früh" (Zitat Renner) kolportiert worden, sondern *viel zu spät*. Diese Unverfrorenheit die eigene Unkenntnis zum Maß aller Dinge zu erheben ist unvergleichlich. (Siehe dazu meine anderen Beiträge in Bezug auf ein à-la-ivannagelsches Herangehen 2015/6.) Mit Sasha Waltz (so sehr ich sie schätze) ist es nun genauso.
Übermorgen ist Wahl. Dass die Berliner SPD in Gestalt von Tim Renner nun für Vorschläge der Linken (Lederer) Sympathie bekundet anstatt aus der eigenen Unkundigkeit aufrichtig und demütig Konsequenzen zu ziehen, ist bedauerlich und schauerlich. Es hätte in den letzten Jahren genug Gelegenheit gegeben, hier selbst aktiv zu werden: Sich auf einen DIALOG einzulassen anstatt in Gutsherrenattitüde Berlin(s Kultur) vermeintlich 'auf internationales Parkett' zu hieven.
Aber Kunst und Kultur sind wohl kein Wahlkampfthema. Warum also sollte Michael Müller seinen Staatssekretär noch vor dem Sonntag kassieren?
Das war im Jahr vier der Dercon-Direktion in diesem Museum.
Und "alternativlos" wäre Dercon, weil er schon in den Planungen für 2017 stecke? Albern! Wann platzt die Blase?
Wenn Dercon so falsche Lorbeeren nötig hat , scheint es ja nicht so viele echte zu geben, gell?
Das ist wirklich jenseits von allem ....
Er will offensichtlich Berlin wieder unsexy machen, damit die Touristen und Investoren wieder abhauen.
Sagen kann er das natürlich niemandem, aber das ist wohl der diabolisch geniale Hintergedanke dieser Misswirtschaft. Den Investoren das Wasser abgraben.
Johannes Ehmann, Pressebüro Volksbühne 2017/18
Vielen Dank für die Richtigstellung und Korrektur, Herr Ehmann, von Versachlichung kann doch wohl keine Rede sein, denn diese Diskussion wurde hier bereits mit höchst sachlichen Argumenten geführt.
Der einzige unsachliche im Gepäck ist der Kulturstaatssekretär, aber das ist längst nichts Neues.
Ich hoffe das Sie diesen Sachverhalt nicht nur hier, in einem kleinen Forum, sondern auch der breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Denn man kann davon ausgehen das Tim Renner seine absurden Thesen nicht nur der TAZ, sondern auch vielen wichtigeren Funktionsträgern, unterbreitet und damit gute Laune zum bösen Spiel macht. Und da geht es nicht nur um die Kausa Schlingensief, sondern auch um seine weiteren Behauptungen die Volksbühne betreffend (siehe das Stichwort Prater).
Es würde Dercon gut stehen, sich gegenüber Tim Renner in diesem besonderen Fall kritisch zu äußern. Dercon hat sich doch oft mit Künstlern beschäftigt, die der Politik kritisch gegenüberstehen und gerade daraus ihre Kraft beziehen.
So sollte er sich nicht selbst zum Mündel eines politischen Dummkopfs stilisieren lassen, bevor er überhaupt mit seiner Arbeit hier angefangen hat.
Was bitte soll das versachlichen? Dass Herr Renner falsche Behauptungen aufstellt, um seine Entscheidungen zu verteidigen, ist damit nicht vom Tisch. Und dass Dercon Schlingensief nicht entdeckt hat, wissen wir schon. Wir wissen jetzt, dass Herr Dercon weiß, dass er Schlingensief nicht entdeckt hat. Wen hat er denn aber entdeckt vor der Volksbühne?
http://www.rbb-online.de/kultur/beitrag/2016/08/renner-kulturstaatssekretaer-wahl-posten.html
"Wo sehen Sie Dercons Stärken?
Ich sehe seine Stärke darin, neue Talente zu entdecken. Viele Menschen, die wir später in der Volksbühne gesehen haben waren vorher mit Dercon unterwegs, und das ist genau das, was wir uns auch erhoffen: Er ist ein Mensch, der sehr nah an den Neuen dran ist, sehr gut vermitteln kann, ihnen Platz geben kann. Gerade weil er nicht selbst Regisseur ist, sondern sich aus einer stark zurückgenommenen Position hinstellen kann und anderen Leuten Platz machen kann."
Klaus Lederer von Die Linke, dessen kulturpolitischen Ansichten Renner plötzlich so "sympathisch" sind, hat die Petition "Gegen die Abwicklung der Strukturen und Kapazitäten der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz" unterzeichnet, die derzeit übrigens über 2.350 Unterstützer hat.
Interessant ist auch, dass es laut Renner "unser Ziel" war, "die Fritschs und Polleschs dieser Welt zu halten. Das gebe ich nicht auf. Wenn es aber nicht gelingt, bleibt gar nichts anderes übrig als ein radikaler Neustart." Will er die Volksbühne vielleicht selbst übernehmen? Welche Funktion hat dannn eigentlich Dercon? Und warum hat Renner vor der Berufung Dercons nicht wenigstens mit den "Polleschs und Fritschs dieser Welt" geredet?
Was Berlins Kulturpolitik angeht, bleibt wohl tatsächlich "gar nichts anderes übrig als ein radikaler Neustart". Oder um es mit Karl Kraus zu sagen: "Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten."
Identität gibt's nicht zu kaufen.
Da verprellt einer die Basis und wundert sich über fehlenden Rückhalt. Er diskreditiert Kritiker und fordert mehr Diskussion. Er steht vor Cobains Feuerzeug hinter Glas und fordert mehr Punk. Er kommuniziert nicht und fordert Gemeinschaft ein. Er propagiert (Sub-)Kultur und zitiert das inspirationsloseste Gedankengut der CDU. Er stellt unfundierte Behauptungen in den Raum und nennt die anderen Populisten.
Progressiv sieht anders aus. Links sieht anders aus. Punk sowieso.
Amtsmüdigkeit ist doch nicht die Frage, sondern Passung. Passt Chris Dercon mit seiner Qualifikation zur Volksbühne. Und diese Frage ist überhaupt nicht geklärt. Derjenige, der die Idee hatte, ihn dort hinzusetzen, operiert mit falschen Tatsachenbehauptungen. Und das nicht irrtümlich, sondern fortgesetzt und vorsätzlich. Und, mal unter uns Pastorentöchtern, jemand, der es nicht nötig hätte, würde sich den Job unter den Voraussetzungen nicht antun.
Wer sind eigentlich die Fritschs und Polleschs dieser Welt. Richtig, das sind genau Fritsch und Pollesch. Noch fast drei Stunden. Dann gibt es auch eine Abstimmung über die Renners dieser Welt!
Ich finde die Strategie von Renner hat schon Trumpsche Qualität.
Wie ergeben sich diese Zahlen? Auf welche Zeitpunkte beziehen sie sich? Wer ist "unser" (sind da die Bezirke eingerechnet?)?
Ich habe (folgendermaßen) nachgerechnet. Quelle:
https://www.berlin.de/sen/finanzen/haushalt/haushaltsplan/artikel.5697.php
Daraus ergibt sich der Anteil des Kapitels "Kulturelle Angelegenheiten" (inklusive dessen Personalüberhang) am Gesamthaushalt (=Totalsumme aller Einzelpläne):
2012 1.78 %
2013 1.83 %
2014 1.87 % (Antrittsjahr Renner, April)
2015 1.92 %
2016 1.84 %
2017 1.84 %
Es kann also gut sein (und selbst das bestätigen die von mir berechneten Zahlen, die ich der Redaktion zukommen lasse, nicht in der von Renner behaupteten Größe; ich komme auf 3-4% pro Jahr), dass der Kulturhaushalt *an sich* gewachsen ist. Aber wenn der Gesamthaushalt wächst, wäre das (Mit-)Wachsen des Kulturhaushalts noch keine Indikation für eine erfolgreiche Kulturpolitik. Es sei denn, ein Beibehalten des relativen Status Quo wäre schon ein Erfolg an sich.
Ein bloßes "Wachsen" reicht mir persönlich jedenfalls nicht um einen Erfolg zu verbuchen. Das Wachsen muss qualitativ im doppelten Sinne sein. Erstens relativ zum Gesamthaushalt. Und zweitens inhaltlich-wegweisend-demütig-klug. Alles andere ist kein Erfolg, sondern Misserfolg.
Tim Renner ist seit 2014 im Amt. Der erste Doppelhaushalt, der seitdem beschlossen wurde ist der für 2016/17 (das zugehörige Haushaltsgesetz ist vom 15.12.2015). Und da geht der Kulturanteil jedenfalls zurück (gemäß obiger Quelle und Rechnung, sowie den Planungen für 16/17 zufolge).
Per Copy-and-Paste sollte das in Excel auch leicht verarbeit- und prüfbar sein.
Jahr Gesamthaushalt Kulturelle Angelegenheiten Kulturelle Angelegenheiten (Personalüberhang) Kulturelle Angelegenheiten (Summe) Anteil KA and GH [%] Wachstum HH Wachstum KA
2017 26'423'991'900.00 485857400 1241300 487098700 1.84 2.98 3.18
2016 25'660'446'800.00 470871400 1210700 472082100 1.84 9.03 4.46
2015 23'535'240'800.00 450239500 1685600 451925100 1.92 0.42 3.12
2014 23'436'050'100.00 436616300 1653600 438269900 1.87 2.10 4.26
2013 22'953'746'900.00 420356600 5000 420361600 1.83 -0.93 1.82
2012 23'168'599'800.00 412846100 5000 412851100 1.78
Renner hat Sympathie für Klaus Lederers kulturpolitische Ansichten? Seltsam, wo diese doch beim Thema Volksbühne in eine völlig andere Richtung gehen.
Außerdem tut Renner nun plötzlich so, als sei der radikale Neustart eine Notlösung, weil Pollesch und Fritsch die Zusammenarbeit verweigern. Er hat doch aber im Zuge des Bekanntwerdens der Berufung Dercons selbst eben jenen radikalen Neustart gefordert. Oder war das nur ein Kommunikationsfehler?
Hoffentlich sind bald andere Personen für die Kulturpolitik zuständig. Aber wahrscheinlich hat Renner schon vorgesorgt und bei Dercon in der Volksbühne angeheuert. Dann haben wir den Salat, so oder so.
http://www.morgenpost.de/kultur/article208334349/Tim-Renners-kuriose-SMS-an-die-CDU.html