Presseschau vom 22. September 2016 – Konrad Paul Liessmann fragt in Salzburg nach der Kunst
Die ganz andere Erfahrung
Die ganz andere Erfahrung
22. September 2016. Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele im Sommer 2016 fragte der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann was kann, was soll und was ist die Kunst in unseren "bewegten Zeiten"? Ein Leser hat uns auf die in den Salzburger Nachrichten (29.7.2016) im Wortlaut veröffentlichte Rede aufmerksam gemacht. Wir fassen den Text hier zusammen, um den Leserinnen die Möglichkeit zu geben, die Thesen Liessmanns zu diskutieren.
Muss Kunst eingreifen?
Vor dem Salzburger Publikum fragt Liessmann, ob es angesichts von Terroranschlägen, Amokläufen, des Militärputsches in der Türkei, des Brexit und der Krise der Europäischen Union, angesichts sozialer Spannungen und Ängste allerorten, von Kriegen und Bürgerkriegen, der unzähligen Flüchtenden überhaupt noch möglich sei, sich "ruhigen Gewissens dem Schönen und der Kunst, der Feier des ästhetischen Augenblicks" hinzugeben. Müsste nicht vielmehr die Kunst selber "ihre Stimme in einem politischen Sinne erheben, müsste sie nicht eingreifen, zumindest aufmerksam machen, über sich hinausweisen auf jene unerträglichen Zustände, müsste sie nicht die aufrüttelnde Aktion anstelle der Verehrung des Schönen setzen?"
Nachdem er die Frage so gestellt, springt Liessmann zurück in die Vergangenheit. Adorno habe sich 1967 von aufrührerisch gestimmten Studentinnen nicht abhalten lassen, an der Freien Universität in West-Berlin, wo just Benno Ohnesorg erschossen worden war, seinen Vortrag "Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie" zu halten. Adorno habe sich geweigert, den Goethe-Vortrag "umzufunktionieren", weil ihm "Iphigenie" als "ein Kommentar zur Zeit" erschienen sei, "der imstande war, Dimensionen freizulegen, die der tagespolitische Aktionismus ausblenden musste".
Liessmann sieht die Grundlegung dieses ästhetischen Programms bei Friedrich Hölderlin und zitiert dessen "Ode an die Parzen":
"... / Doch ist mir einst das Heil'ge, das am /
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,/
Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! /
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel /
Mich nicht hinab geleitet; Einmal /
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht."
Kritik aus dem jenseitigen Reich der Freiheit
"Und mehr bedarfs nicht." Hölderlins Schluss sei "Skizze" jenes ästhetischen Programms, das die "Kunstanstrengung und den Kunstbegriff über zwei Jahrhunderte" bestimmt habe. "Das Kunstwerk, wenn es denn gelingt, genügt, um dem Leben nicht nur einen Sinn, sondern eine nahezu religiöse Aura zu verleihen, die es von allen anderen Bedingungen und Angelegenheiten des Daseins radikal entfernt." In dieser "Absage an die Welt", in dieser "Konzentration auf die Kunst" liege selbst eine "Kritik", sagt Liessmann, die "nicht aktionistisch" eingreife, nicht einmal "Missstände" benenne, sondern sich zurückziehe in eine "ganz andere Sphäre", in der nur das "gelungene Werk" gelte. Eine Sphäre der (inneren) Freiheit.
Kunst sei deshalb schon durch ihr schieres Vorhandensein "Kritik und ein Einspruch gegen die Wirklichkeit", weil sie darauf bestehe "aus Freiheit zu schaffen" und die Maßstäbe für ihr Gelingen nur den "eigenen Ansprüchen verdanken" wolle, keiner "anderen irdischen, aber auch keiner göttlichen Macht" - und auch keinem anderen Zweck, wie Liessmann später ausführt.
Das Schöne und das Gute bilden keine Einheit
Das "Pathos", das die Kunst der Moderne kennzeichne, liege in diesem "Anspruch auf Autonomie, auf Selbstgesetzgebung, auf Unabhängigkeit von Märkten, Ideologien und Religionen".
Aber nochmals, sei diese Erfahrung des gelungenen Kunstwerks, vor dem alles andere für den Moment verblasse nicht "eine ungeheure Flucht aus der Wirklichkeit"? Müsste Kunst in Zeiten der Krise nicht "in die Wirklichkeit eingreifen, einen Beitrag leisten zur Veränderung der Gesellschaft"? Liessmann antwortet: Nein, die Kunst sei das eine, die politische Moral das andere. "Eine politisch korrekte Haltung ist noch kein Garant für gelungene Kunst." Das "Schöne" und das "Gute" bildeten keine Einheit.
Liege nicht gerade darin die "eigentliche Provokation" der Kunst, dass "das gelungene Werk uns von der Wahrheit ebenso wie von jedem moralischen Anspruch vorerst einmal entbindet?"
Die Zwecke der Kunst
Unverkennbar, so Liessmann weiter, habe sich der "kritische Impuls von Kunst, der die klassischen Avantgarden grundierte", verbraucht, "Parteinahmen oder Ideen zu einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft" würden "kaum noch von der Kunst erwartet". Im Gegenzug schmiege sich die "Siegerkunst" den Märkten an, sei zur Kunst der Oligarchen und Spekulanten geworden. Solche Kunst sei nicht verwerflich, auch sie könnte gelungene Kunstwerke hervorbringen, doch drohe ihr die Korrumpierung.
Das gelte mit anderen Vorzeichen auch für die Bestrebungen die Kunst zu "öffnen", mit "sozialpädagogischer Geste" alles zur Kunst und jeden zum Künstler zu erklären. Dabei handele es sich um ein "Missverständnis", das verkenne, dass "das Faszinosum der Kunst in einem unerbittlichen Anspruch auf ein Gelingen liegt, das dem Leben selbst weder zugemutet noch abgerungen werden kann". Die Erfahrung eines gelungenen Kunstwerkes habe auch nichts zu schaffen mit den Erfahrungen der Entgrenzung von "Kunst, Geschäft, Spiel, Kommunikation, Werbung und Erregung", die "die Algorithmen der digitalen Maschinen vorschreiben".
Jenseits der Zwecke
Das "Faszinierende und Verstörende" an der Kunst bestehe darin, dass sie dies alles sein könne, "was man ihr zuschreibt und doch nie darin aufgeht". Die Kunst könne "ein Wettbewerbsfaktor" sein und ein "Kompetenztrainingsprogramm", eine "soziale Aktion und ein Ornament", sie könne "Kritik sein und Affirmation, politische Propaganda und apolitische Ästhetik, Unterhaltung der Massen und elitäre Abschottung". Aber sie sei erst Kunst, wenn sie gelungene Kunst sei und als solche sei sie immer mehr als ein Zweck. Ein gelungenes Kunstwerk sei etwas "nahezu Vollkommenes", das "keiner weiteren Rechtfertigung mehr bedarf und das für sich Gültigkeit, über die Jahrhunderte hinweg, beanspruchen darf".
(jnm)
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Nun scheint der Festspieleröffnungsredner explizit sich immer auf die vollkommene Kunst, das - er betont das offenbar vielfach, da es bereits in der Reden-Zusammenfassung mehrfach erwähnt ist, GELUNGENE Kunstwerk zu beziehen. Aber er sagt nie, was das ist! Das heißt vom österreichischen Deutsch ins deutsche Deutsch übersetzt: Er hat eigentlich gar keine THESE dazu mitzuteilen, was Kunst von der Kunst unterscheidet. Worüber soll man deshalb hier diskutieren? Über die mehr oder weniger große Schönheit einer Sonntagsrede?
Ich habe das inhaltlich schlicht so verstanden, dass der Philosophie-Professor Liessmann dem Publikum der Salzburger Festspiele eingangs vermitteln wollte, dass die Kunst, die es dort zu sehen bekäme sich von aller Kunst, die man gerade andernorts zu sehen bekommt, darin unterscheidet, dass sie gelungen und deshalb vollkommen ist. Und dass das Publikum deshalb kein schlechtes Gewissen zu haben braucht, trotz der schlimmen Weltenlage seine Kohle für Karten für die Salzburger Festspiele ausgegeben zu haben. Ich finde, das hätte er wesentlich kürzer sagen können. Und die Redaktion hätte sich dann auch eine Lese- und Zusammenfassungsarbeit sparen können.
Triumphierend biegt der Redner mit seiner verunstalteten Beute in den Gemeinplatz ein: „Das Pathos, das die Kunst der Moderne kennzeichnet und dem sich alle großen ästhetischen Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts verdanken, liegt in diesem Anspruch auf Autonomie, auf Selbstgesetzgebung, auf Unabhängigkeit von Märkten, Ideologien und Religionen.“ Daß diese pauschalisierende Behauptung vielleicht für „die Kunst der Moderne“, nicht aber für Hölderlin gelten kann, daß hier ein schwerwiegender Bruch zu den „großen ästhetischen Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts“ vorliegt, eine vulgäre Regression und Zersetzung der Kunst, die Hölderlin als den letzten Modernen erscheinen läßt, wird, selbstverständlich anspruchsvoll, geleugnet. Folgerichtig die zeitgenössische Bankrotterklärung: „Ja, die Kunst kann ein Wettbewerbsfaktor und ein Kompetenztrainingsprogramm sein, eine soziale Aktion und ein Ornament, sie kann Kritik sein und Affirmation, politische Propaganda und apolitische Ästhetik, Unterhaltung der Massen und elitäre Abschottung. Sie kann dies alles aber nur sein, sie kann all diese widersprüchlichen, anregenden und aufregenden, langweiligen und spannenden, dummen und dreisten, wunderbaren und faszinierenden Formen annehmen, weil es dahinter dieses ungeheure "Und mehr bedarfs nicht" gibt." Wir blicken noch einmal in Hölderlins Text. „Einmal/Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht". „Wie Götter“. Und „einmal“. Nicht wie Salzburger Festspielbesucher, alljährlich.
Als solche aber, tröstet uns der Festredner, „leben wir in den kostbaren Augenblicken, da wir solch einem Gelingen (!) beiwohnen dürfen, vielleicht sogar dazu etwas beitragen können, nicht wie Götter; aber wir leben - endlich - einmal (!) so, wie Menschen leben sollten.“ Von soviel reaktionärer Chuzpe muß ein SPD-Ortsverein zugegebenermaßen schon aus Kostengründen kapitulieren.
Der Herr Professor Liessmann hat ja einen sehr besonderen Philosohpie-Hochschul-Lehrauftrag. Das muss man verstehen: er muss Philosophie mit Pädagogik verknüpfen. Das ist selbstverständlich schon als Arbeitsaufgabe in sich reaktionär und damit müssen doch nun einmal die Wiener leben und nicht wir...