Presseschau vom 27. September 2016 – In ihrer Laudatio zum Frank-Schirmacher-Preis für Michel Houellebecq polemisiert Necla Kelek gegen Migrationsforschung und das postmigrantische Theater

Unter Beleidigungsschutz

Unter Beleidigungsschutz

27. September 2016. Die "Welt" veröffentlicht auf ihrer Onlineseite die Laudatio der islamkritischen Publizistin Necla Kelek zur Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preis an Michel Houellebecq. Der mit 20.000 Schweizer Franken dotierte Preis für "herausragende Leistungen zum Verständnis des Zeitgeschehens" wurde in diesem Jahr zum zweiten Mal vergeben. Houellebecq erhielt ihn für seinen Roman "Unterwerfung", der eine islamische Machtübernahme in Frankreich imaginiert.

Der Roman thematisiere "die Einsamkeit der Seele und die Fühllosigkeit einer Gesellschaft, die ihre innere Heimat verloren hat", sagt Kelek und stellt ihn in den Kontext eigener gesellschaftspolitischer Reflexionen. Im Widerspruch zu einer religionsfreundlichen Interviewaussage von Houellebecq fordert Kelek mit Nachdruck die Säkularisierung des Islam und kritisiert die Migrationsforschung, die durch Tabuisierungen etwa im Umgang mit dem Koran verantworte, dass "die Integration in Deutschland – vor allem der muslimischen Migranten – in erheblichem Maße gescheitert ist". Kelek spitzt zu: "Die 'ideologische Liederlichkeit' (Dalrymple) der Intellektuellen, die alles abschätzig behandelt, was nicht ins eigene Weltbild passt, kommt einer kulturellen Demontage gleich. (...) Wer eine Gefahr von fremden Kulturen ausgehen sieht, gilt in ihren Augen als Brandstifter."

Das Theater als Ort der Realitätsverweigerung

Da Houellebecqs Roman "Unterwerfung" derzeit von vielen deutschsprachigen Theatern adaptiert wird, kommt Kelek auch auf die Bühnenlandschaft zu sprechen. Houellebecqs Werk folge "weder den formalen Sprachexperimenten und der gehäckselten Realität des Nouveau roman, der Agitprop-Prosa oder des Bad-Acting-Staatstheaters oder dem Politkitsch des Agitationstheaters von einer 'Neomigrantin', das mit Hilfe von Raubtiernummern zum 'Theater des Jahres' emporrezensiert wird", heißt es in Anspielung auf das Berliner Maxim Gorki Theater und die Aktion Flüchtlinge fressen.

Kelek weiter: "Während in diesen intellektuellen Versuchen auf der Bühne und im Buch die westliche Welt und deren Lebensentwürfe und Traditionen erbarmungslos kritisiert und geschreddert werden und die bürgerliche Identität gar als grundlegend verdächtig, schuldig angesehen wird, steht denselben Leuten die 'fremde Kultur' unter Beleidigungsschutz. Moralische Hybris inszeniert Opferhöllen. Die Bühne als Ort der Realitätsverweigerung, die sich bis heute nicht wirklich mit den verschiedenen Facetten des Migrantenseins beschäftigt."

Die "Kulturbeamten" verhielten sich in ihren Ausblendungen "nicht anders als die muslimisch-orientalische Community selbst, die die Debatte nicht kennt. Debatten um Burka, Kopftuch, Kinderehen, Zwangsheirat, Ehrenmord, Parallelgesellschaften werden von Muslimen höchst selten geführt. Weder in einer Moschee von organisierten Muslimen noch in der Theaterwelt. (...) Die Muslime selbst haben ihre Chancen, in der Freiheit anzukommen und sich dabei der Kunst zu bedienen, ungenutzt gelassen", so Kelek. Houellebecqs Roman stoße dagegen auf eine "Sehnsucht des Publikums, das sich wünscht, dass im Theater so ein wichtiges Thema vorkommt".

(chr)

Kommentare  
Houellebecq-Laudatio: Abschied von political correctness
Interessant, warum gibt es hierzu keine Kommentare?
Das heutige Theater als moralische Hybride zu benennen finde ich vollkommen richtig, insofern wäre wohl die einzige Überlebenschance sich am Theater möglichst schnell von jeglicher political corecctnes zu verabschieden.
Houellebecq-Laudatio: polemisch
@ Salome: Interessant, denn genau diesen Satz empfand ich auch als polemisch formuliert. "Moralische Hybris inszeniert Opferhöllen." Ist das eine Tatsachenbeschreibung oder nicht eben doch die (Einzel-)Perspektive bzw. subjektive Sichtweise von Frau Kelek? Um Hybris geht es z.B. dem ZPS doch gerade nicht, oder? Und wohl auch nicht um Opfer"höllen". Hölle? Ist das christlich-abendländisch? An Gott und seinen Gegenspieler, den Teufel, zu glauben? Oder interpretiere ich hier jetzt auch nur wieder? Ich habe den Eindruck, jede/r schreibt und kann eben auch immer nur aus seiner Perspektive schreiben/reden. Komisch, dass mir das gerade hier einfällt, aber Frau Emcke hätte zu diesem Thema sicherlich etwas anderes gesagt bzw. es anders formuliert.
Houellebecq-Laudatio: okay
#2: Das will man hoffen. Ehrlich gesagt, bin ich da vollkommen sicher. Sonst wäre ja Frau Emcke Frau Kelek oder "Inga". Ich persönlich würde gern für, sagen wir: 100 Tage, die Wörter "Klamauk" und "Hybris" mit einem Tabu belegen. Kann man so etwas irgendwo beantragen? Okay, "okay" geb ich auch noch dran für 100 Tage...
Houellebecq-Laudatio: zum kritischen Lesen
Ich fand interessant und unbedingt prüfenswert, was Frau Kelek im Zusammenhang mit ihrer Laudatio gesagt (Link auf den Redetext s.o.) hat zum kritischen Lesen und Interpretieren des Koran in den Studienrichtungen an den Universitäten, die sich in irgendeiner Weise mit dem Islam befassen. Dazu dürften gehören: die evangelische und die katholische Theologie, die Religionswissenschaften, die Arabistik, die Orientalistik, die Vorderasiatische wie Klassische Archäologie, neuerdings verstärkt die Politikwissenschaft, die Geschichtswissenschaft, die Philosophie, die Soziologie, die Journalistik, die Kulturwissenschaft, die Theaterwissenschaft - bitte gern ergänzen!
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