Gehet hin und vernetzet euch!

von Sabine Leucht

München, 6. Oktober 2016. Das Gespräch zum Ausklang des ersten Festivaltags verläuft anders als geplant. Dass Herr "Magister Gerhard Wenninger" bereits 2001 gestorben ist, war klar. Der Mann hinter der Totenmaske, dem ein einschlägig bekannter Münchner Musiker und Theatermacher mit österreichischen Wurzeln eine gewitzte Betulichkeit verleiht, sollte aber ursprünglich live mit Alexander Karschnia sprechen. Doch der Mitbegründer des Performancekollektivs andcompany&Co sei – "wie es sich für einen freischaffenden Künstler gehört – in Berlin". Da haben wir ihn wieder, den zwischen Allüre und Komplex feststeckenden Münchner Glauben, dass anderswo der Bär besser boxt, wilder, kunstvoller – und vor allem sichtbarer.

Also sind seit Jahren "Internationalität" und "Vernetzung" die Zauberworte in der hiesigen freien Szene, weil es das ist, was ihr scheinbar chronisch fehlt. Sarah Israel hat sie ausgesprochen und wohl auch aufgeschrieben, als sie als Kuratorin für das Festival Rodeo anklopfte – und traf bei der Stadt auf offene Ohren und Arme. Nun also hat Israels "Rodeo" begonnen, es ist das vierte nach einer Festival-Sturzgeburt im Jahre 2010 und die vierte Neuerfindung einer Idee, die zu Beginn eigentlich ganz simpel klang: Den örtlichen freien Tanz- und Theaterschaffenden eine Plattform zu geben, auf der sie einander und allen Interessenten ihre Arbeiten zeigen können, die üblicherweise nur zwei- bis dreimal zu sehen sind und selbst dem eifrigsten Theatergänger schnell mal durch die Lappen gehen.

Münchner Individualisten

Das Ur-"Rodeo" war eine Idee des Münchner Kulturreferats, die an kleinere Vorgängerfestivals wie das bereits in den Achtzigern von Gerhart Neuner initiierte anknüpfte, und schon der daraus entstehende Zusammenrottungs- und Repräsentationsdruck war für manchen produzierenden und darstellenden Individualisten einen Tick zu groß. 2012 wurde das cowboymäßig konnotierte Nomen "Rodeo" nachträglich auf das Verb "rotieren" zurückgeführt – und gemeint war vor allem das emsige Sich-Bewegen durch die pfingstferienleere Stadt.

ALonely1 560 RodeoEine der Performances vom Eröffnungstag: "Alonely" © Rodeo Festival

Die angesagte Kunst im öffentlichen Raum nannte sich damals "Interventionen", zwei Jahre später dann "Rodeo streunt", als man mit dem Ex-Münchner und Darmstädter Schauspieldirektor in spe Jonas Zipf erstmals einen Kurator von außen berief, dem aber nach wie vor zwei Jurys beiseite standen. Ein eigenartiges Modell, das dem Festival interne Kräche und rätselhafte Entscheidungen einbrachte, die "wahren Münchner Helden" betreffend, unter denen sich plötzlich kaum noch ein alteingesessener befand, dafür aber das von Zipf gegründete O-Team mit einem Riesenflop.

Überraschende Verjüngung

Solche Seilschaften gibt es diesmal nicht. Doch die Alten fehlen noch immer, sieht man vom kantigen Szene-Urgestein Alexeij Sagerer ab, der im Rahmen von "Rodeo" seine Biografie vorstellt. Der Blick der 33-jährigen Israel hat das darstellende München sichtlich verjüngt und zu einer Überraschung selbst für die Einheimischen gemacht. Nach dem kulturellen Gedächtnis der Stadt muss man hier schon bohren, wie Benno Heisel und Ulrich Eisenhofer vom neuen Leitungsteam der Freien-Szene-Spielstätte HochX in ihrem "Stadtkernbohrung" genannten historisch-performativen Spaziergang durch Schwabing.

Sarah Israel PKRODEO 2016 Konrad Fersterero uDie neue Festivalleiterin Sarah Israel
© Konrad Fersterero
Und auch die Mittelalten sind kaum noch gefragt, die noch hie und da im überschaubaren Häufchen der Festivaleröffnungsbesucher gesichtet werden und statt von Vernetzung lieber vom eigenen Nukleus reden und ein großes Misstrauen mit sich herumtragen gegenüber der Institutionalisierung der Szene. Auch "Gerhard Wenninger" gibt diese Frage an Alexander Karschnia weiter, der dem "Eröffnungsspecial" schließlich doch per Skype zugeschaltet ist und der – gefördert durch den "Doppelpass"-Fonds – mit dem Schauspielhaus Düsseldorf koproduziert.

Also lauten die Fragen: Heißt "frei" 2016 nicht mehr wie früher Abgrenzung, sondern nur noch Gratiskultur? Ist die Kooperation mit einem Stadttheater für die eigene Arbeit förderlich, behindernd "oder ist es eh wurscht"? Doch ausgerechnet da bricht die Skype-Verbindung ab. Und als sie wieder einsetzt, hört man den Berliner sagen, dass für Stadttheaterakteure, die im Repertoirebetrieb eingebunden sind, die Zusammenarbeit mit einer freien Gruppe eher einem Straflager als einer Auszeichnung gleiche und deshalb ihre zeitweise Freistellung ratsam wäre. Das Gesicht des Münchner Kammerspiele-Intendanten Matthias Lilienthal habe ich in diesem Moment leider nicht gesehen.

Jenseits des Showcase

Sarah Israel, die bereits bei Rodeo 2014 als Dramaturgin beteiligt war, ist eine kluge Frau, die es als Alleinjurorin geflissentlich vermeidet, irgendjemanden auf einen wie auch immer gearteten "Helden"-Thron zu setzen. Auch das "spezifisch Münchnerische", mit dem Zipf noch kokettierte, interessiert sie nicht. Sie hat "Rodeo", das 2014 im Staatstheater eröffnet wurde und längst nur noch "Münchner Tanz- und Theaterfestival" heißt, von jedem Showcase-Gedanken befreit, die großen Talentscouts, die ohnehin nie gekommen sind, gedanklich abgehakt und das Festival den Künstlern wiedergegeben, zumindest den Vernetzungslustigen unter ihnen, mit denen sie auch verwandte Festivals in Hamburg, Berlin und Stuttgart besucht.

In gemeinsam mit dem Goethe-Institut realisierten "Bloom-Ups" konnten sich Münchner Kreative außerdem gemeinsam mit Seelenverwandten aus dem Ausland um eine gut zweiwöchige Residency in München bewerben, die das Goethe-Institut mit je 5000 Euro unterstützt. Die dezidiert vorläufigen Recherche- und Arbeitsstände dieser insgesamt vier Begegnungen werden nun bei "Rodeo" gezeigt.

Open Labs und anderer Work-in-progress

Was im Falle des schon am Donnerstag vorangepreschten "Dancehouse, literally – Tanzhaus, buchstäblich" vor allem klar macht, dass das Nicht-Fachpublikum dabei nichts verloren hat. Der Münchner Choreograf und frisch ernannte Tanz-Förderpreisträger Stefan Dreher hat mit einer internationalen Gruppe von Tänzern, Performern, Visual Artists und Musikern gearbeitet und führt die Zuschauer auf den Spuren einer mysteriösen Vaterfigur durch die immer wieder bezaubernde Industriebrache, auf der irgendwann das lange beschworene Prestigeprojekt "Kreativquartier" entstehen soll.

Hartel SetFireToFlames2 560 Ulrike Theusner uManuela Hartels und Lorenz Schusters "Set Fire To Flames" © Ulrike Theusner

Mit markanten und halbherzigen Tanzeinlagen, Texten zum Körperdenken und dem Körper abgenommenen Rhythmen und Sounds markiert das Team Orte und zeigt, dass hier zwar einiges gekonnt, gedacht und noch mehr gefühlt worden ist, aber die Darbietung ist auch seltsam esoterisch und ein wenig so, wie hungrig in ein Restaurant zu gehen, wo einen der Koch nur zum Abschmecken ruft. Das bringt dem Koch mehr als dem Magen.

Doch das Unfertige, Künftige ist bei dieser Festivalausgabe Programm, das auf Vorzeigemünchner wie das Metropoltheater von Jochen Schölch oder die Komponistin Helga Pogatschar ebenso verzichtet wie auf die Überlebenskünstler der Szene und sich überhaupt mehr als Arbeits- denn als Präsentationsfestival sieht. So gehen etwa deutsche und kosovarische Künstler in einem "Open Lab" der Frage nach, was es heute bedeutet, Feministin zu sein. Und noch ein neues Format – die "Soloplattform" – soll vor allem dazu dienen, neue Arbeitsbeziehungen einzugehen. Nun gut, aber konnten Künstler so was früher nicht mal selbst? Und wo bleibt dabei der Zuschauer?

Auf eigenwillige ästhetische Positionen gesetzt

Vermutlich zuhause. Das kleinteilige Programm dieses Festivals, in dem nur die zahlreichen "Diskurse" länger als eine Stunde dauern, wird sein Übriges dazu tun. Das wäre aber schade. Denn es kommt ja noch was, wenn nicht gar das meiste. Und auch wenn die erste Münchner Wiederaufnahme, Manuela Hartels und Lorenz Schusters Sound-Videoprojektions-Collage "Set Fire on Flames" sich als ein erschreckend unironisches szenisches Gebet erwiesen hat, dessen anfangs noch schöne Bilder schnell im technisch überproduzierten Kitsch versanden ... – Im Pool mit den noch kommenden "fertigen" Performances wie Ceren Orans "Heimat... los!" – eine tänzerische und visuelle Studie über die Zerreißprobe Migration – oder Christoph Theussls kauzige Installation für je einen Zuschauer "Weltmaschine unterwegs" wird klar, dass Israel hier eher auf eigenwillige ästhetische Positionen denn auf das Exemplarische, schon Perfekte setzt. Auf das Streitbare und Diskussionswürdige, wozu möglichweise auch die neue Arbeit des letztmaligen Festivalüberraschungserfolges ausbau.sechs gehört. Und das ist ja nicht das schlechteste für ein Freie-Szene-Festival.

Rodeo Festival 
Münchner Tanz- und Theaterfestival
6. Bis 9. Oktober 2016
Verschiedene Spielstätten

www.rodeomuenchen.de

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