Lottes Wahnsinn außer Rand und Band

von Andreas Wilink

Köln, 14. Oktober 2016. Der Student der Geisteswissenschaft (die Bezeichnung "der junge Mann" ist nicht erst seit diesem Bücherherbst anderweitig besetzt), modisch in Benetton-bunten Lambswool-Pullovern mit V-Ausschnitt, reiste nach Berlin, hospitierte im Germanistischen Seminar der FU, ging abends zur Schaubühne am Halleschen Ufer und brachte sich selbst den Schlüsselbegriff zu Gehör, der unter seinesgleichen Theater-Gehern auch in der westdeutschen Provinz als Code funktionierte, damals um 1980 herum: "Wahnsinn", zehnfach bis zum Irre-Werden intoniert von Edith Clever als Lotte Kotte, der Land- und Stadtstreicherin in Botho Strauß' "Groß und klein" – gebürtig aus Remscheid-Lennep, wohnhaft in Saarbrücken, selbstständige Grafikern, Mitte Dreißig, getrennt lebend.

"Hören Sie?" Hören Sie! Es ist ein Gesang, Arien, in Prosa gesetzt. Gleich in der ersten Lausch-Szene in Marokko, wenn die Pauschaltouristin Lotte ("keine Extras") das Gespräch zweier schemenhafter Männer aufschnappt. Lotte ist allein. Und bleibt es. Ausgesperrt: hinter einem Vorhang, draußen vor dem Fenster, im Flur vor der Tür, an der Klingel- und Sprechanlage eines Mietshauses, in einer Telefonzelle, an der Haltestelle.

Groundklein1 560 David Baltzer uDeutschland betrachten: Sabine Orléans als Lotte  und Ensemble in "Groß und klein"
© David Baltzer

Von einem halben Paar bleibt weniger als ein ganzer Mensch. Lotte ist süchtig nach Menschen. Macht sich ein Bild von ihnen. Verkostet die Stimmen. Will Teilnahme, Teilhabe. Kommunikation als Kommunion. Die Frau – gewissermaßen im Monolog mit anderen – schaut und hört zu: Voyeurin des Durchschnittlichen und Enthusiastin von Möglichkeiten. Leben zweiter Hand.

Alter Westen passé

Die "BRD" ist uns historisch geworden. Eine Inszenierung von "Groß und klein" kann eine Reise durch ein Land sein, das es nicht mehr gibt. Wir erinnern uns an Redewendungen, Verhaltensweisen, Innerlich- und Äußerlichkeiten. Uns begegnet mit Lotte, der Führerin durch ein Land der toten Seelen, das unheimlich Heimelige, Betonstarre, Isolation, der eingefriedete Wohlstand und das bis zur Banalität Progressive und Intellektualisierte. Alles ist drin in der 1978 von Peter Stein uraufgeführten Szenenfolge.

Was Fassbinder fürs Kino, war Botho Strauß für die Bühne: zumal in dieser kultursozialen Chronik bundesrepublikanischen Verhaltens und ihrer Verhältnisse, die zugleich auch den für seine Gegenwart empfindlichen Autor Strauß mit seinem Frauenlob, Bildungswerk, seiner Sehnsucht nach einem Urzustand und dem geschmacklichen Ekel spiegelt. Auf zehn Stationen begegnet Lotte einer Reihe von Leuten aus allen Schichten, in jedem Alter, darunter Paul, ihr Noch-Mann, ihr Bruder nebst Familie, eine Schulfreundin, die neue Gefährtin ihres Mannes, Fremde, Partner, Paare, Passanten. Botho Strauß hat aus dem Nationalkörper das Wesenhafte herausoperiert und das Präparat zartfühlend als Realität offengelegt.

Ist bekannt? Kein Begriff?

Man kann es auch anders machen, unbeschwert von historischen, mentalen Ge- und Verbundenheiten. "Ist bekannt? Kein Begriff?", würde Lotte fragen. Lilja Rupprecht zuckt weg von dem Stück und sucht ihr Unheil in der grell geschminkten Groteske – um den Preis der Genauigkeit. Was geschärft und überspitzt aussieht, bleibt letztlich stumpf. Es passiert ja nicht viel. Das Geschehen ist ein sprachliches. Hier wird es aufgelöst in ein choreografiertes, bildtechnisch aufgerüstetes Theater, das partout für Abwechslung und krasse Akzentuierung sorgt. Eine Inszenierung, die einen anschreit.

Groundklein2 560 David Baltzer uVor stilisierten Landschaften in "Groß und klein" © David Baltzer

Ab Szene zwei übernimmt vorzugsweise das mobile Video-Einsatz-Kommando: sei es, um Paul (Guido Lambrecht) visuell zu verdoppeln und wie unter Wiederholungszwang in Bewegung zu halten, sei es, um die aus dem Schlaf gebrachte neurotische "Frau" (Sophia Burtscher) als Leinwand-Figur durch die dunkle Leere des Raums zu transportieren. Der ist im Depot 1 frontal zugestellt von einer hölzernen Fassadenwand, geknickt mit Ecken und Kanten, mit Fensteröffnungen und Schwingtür. Kontakthof für alltägliche Störfälle.

Die diversen Ablenkungsmanöver verschieben im Übrigen Lotte streckenweise aus dem Zentrum. Was bei Sabine Orléans so leicht nicht geht: wonnig grollend, röhrend, in die Vollen greifend, nicht eben um Contenance bemüht, baritonal das "Jammertal" anstimmend. Passionara und weiblicher Hiob.

Nachbundesrepublikanische Fluchtbewegung

Ein Klavier plinkert, die Orgel braust, Stimmen sammeln sich zum Inferno, Songs munkeln schwermütig, maschinelles Stanzen signalisiert die Modern Times. Die Regie hat kein Vertrauen in die nüchterne Struktur der Erzählung. Schafft keine präzise Zustandsbeschreibung. Nur ein vage ungutes Gefühl. Bei zunehmendem Aufwand mit stark abnehmenden Ertrag. Noch eine Charade: die Dia-Show der zwei "Alten" blendet auf zur schmähenden Karikatur christlich ikonografischer und liturgischer Heilserwartung; auftretende Toten-Fratzen; das Sylter Familientreffen als Sketch wie aus dem "Klimbim"-Fundus. Noch eine halbe Pollesch-Pirouette, ein Viertel Castorf-Dreh, ein Stemann-Mikro-Standup, ein quäkender Comic, eine chorisch verachtfachte Situation (Bushaltestelle). Catch as catch can. Immer mehr Maske als Möglichkeit, sie zu füllen.

"Groß und klein" schrumpft so zum stilistischen Puzzlespiel. Rupprechts Inszenierung ist – je hilfloser, desto selbstgewisser auftrumpfend – eine einzige Fluchtbewegung vor dem Stück, das von einer ebensolchen Flucht-Suche erzählt. Lottes "Wahnsinn" außer Rand und Band.

Groß und klein
von Botho Strauß
Regie: Lilja Rupprecht, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Annelies Vanlaere, Video: Moritz Grewenig, Licht: Jan Steinfatt, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Sabine Orléans, Emre Aksizoglu, Joannes Benecke, Sophia Burtscher, Margot Gödrös, Nicola Gründel, Winfried Küppers, Guido Lambrecht, Seán McDonagh.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspiel.koeln


Kritikenrundschau

Szenen aus der alten Bundesrepublik arrangiere das Bühnendrama aus dem Jahre 1978, "Szenen also aus einer Zeit, als die Welt ganz anders tickte", schreibt Martin Oehlen im Kölner Stadtanzeiger (17.10.2016). Lilja Rupprecht peppe das nach allen Regeln der Unterhaltungskunst auf. All' die Leinwand-Videos und bühnenweiten Projektionen legen jedoch nur Zeugnis davon ab, "wie wenig die Inszenierung der Kraft der Worte vertraut". Die Inszenierung sehe oft mehr nach Jahrmarkt als nach Gesellschafts-Studie aus.

"Keine simple Rückfahrkarte ins Gestern. Allerdings schlägt Rupprecht zugleich das Angebot aus, Lottes Einsamkeit in unsere Gegenwart der oft autistisch benutzten sozialen Netzwerke fortzuschreiben", findet Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (17.10.2016). Auch verlange niemand von der Regisseurin in Textfrömmigkeit niederzuknien. "Der dröhnende Wirkungswille dieser Inszenierung aber macht Botho Strauß' blinkendes Sprachskalpell stumpf." Immer hektischer werden abgegriffene Requisiten aus dem Regietheaterfundus gezogen, "Lotte in der Krachmacherstraße, könnte man in Abwandlung eines Astrid-Lindgren-Titels sagen".

Zwar verlangt niemand, dass Lilja Rupprecht vor dem fast 40 Jahre alten Stück in Textfrömmigkeit niederkniet. Der dröhnende Wirkungswille dieser Inszenierung aber macht Botho Strauß' blinkendes Sprachskalpell stumpf. Immer hektischer werden abgegriffene Requisiten aus dem Regietheaterfundus gezogen: Die (ohnehin entbehrliche) Türkenszene wird zum Kasperle-Pandämonium aufgedonnert, der junge Mann an der Bushaltestelle zum achtstimmigen Chor verstärkt. Lotte in der Krachmacherstraße, könnte man in Abwandlung eines Astrid-Lindgren-Titels sagen. – Quelle: http://www.rundschau-online.de/24928240 ©2016

"Viele mutwillige Eingriffe in den Text und Beliebigkeiten im Umgang mit ihm, dazu Videoprojektionen, Sphärenklänge, Bildverdopplungen, auch Grusel- und Horroreffekte", summiert Andreas Rossmann die Inszenierung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.10.2016). Multimedial übermalt werde mit dem Stück auch seine Protagonistin, die gegen die Rolle besetzt sei: Sabine Orléans sei "eine Wuchtbrumme, die, wie sie grollt und donnert, sich anhört, als würden die Zurückweisungen sie weniger enttäuschen als vor Langeweile bewahren. Was auf eine Gegen-Interpretation hinauslaufen könnte, wird aber mangels Textvertrauen und Genauigkeit nicht weiter verfolgt."

Lilja Rupprecht "greift gar nicht groß in die Episoden-Dramaturgie des Textes ein, sie dreht nur an ein paar Schräubchen, und schon flippen Strauß' Szenen aus, knallen durch, schnappen über", ist Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (27.10.2016) voll des Lobes. Der "legendären Strauß'schen doppelbödigen Gemütlichkeit" sei das Gemütvolle genommen, "die lächerlichen Redensarten der Siebziger, in denen das Stück unverändert spielt (…) erhalten eine Schärfe, als würden die Figuren nicht mit leerem Stroh um sich werfen, sondern mit Maschinenpistolen schießen."

Lottes Einsamkeit in unsere Gegenwart der oft autistisch benutzten "sozialen Netzwerke" fortzuschreiben. – Quelle: http://www.rundschau-online.de/24928240 ©2016
Lilja Rupprecht bucht mit ihrer Inszenierung am Schauspiel Köln keine simple Rückfahrkarte ins Gestern. Allerdings schlägt sie zugleich das Angebot aus, – Quelle: http://www.rundschau-online.de/24928240 ©2016
Szenen aus der alten Bundesrepublik hat Botho Strauß in seinem Bühnendrama „Groß und klein“ aus dem Jahre 1978 arrangiert. Angesiedelt in einem seelenkalten Bermudadreieck zwischen Saarbrücken, Remscheid-Lennep und Hannover-Vahrenheide. Szenen also aus einer Zeit, als die Welt ganz anders tickte. – Quelle: http://www.ksta.de/24924828 ©2016
Kommentare  
Groß und klein, Köln: störende Lautstärke
Ich war vorgestern in der Premiere in Köln und war nicht so begeistert. Man hätte mehr aus dem Stück machen können. Störend auch die Lautstärke, zeitweise war es so laut, dass man sich selbst hinten die Ohren zuhalten musste.
Groß und klein, Köln: kein Mäuschen mehr
Den negativen Kritiken kann ich mich nicht anschließen:
Ich war ebenfalls bei der Premiere, habe das Stück schon dreimal gesehen. Wenn Herr Rossmann von der FAZ meint, die Rolle der Lotte durch Sabine Orleans sei fehlbesetzt, ist dies unrichtig. Tempora mutantur et homines in illis. Solche unterdrückten Frauen wie im Jahr 1978 gibt es heute kaum noch; ja, es stimmt, Lotte ist kein "Mäuschen", und das macht die Inszenierung so interessant, auch für die Augen und Ohren bot die Inszenierung viel. Wichtig nach der sehr ruhigen und auf den Text zugeschnittenen Hamlet Inszenierung des Intendanten Stefan Bachmann. Und die schauspielerische Leistung von Sabine Orleans ist bravourös( insbesondere die Anfangsszene in Agadir) und unbedingt einen Besuch wert.
Groß und klein, Köln: ungenau
Ein ziemlich schwacher, grober u. ungenauer Abend.
Leider!
Habe von Lilja Ruprecht auch UNSCHULD in München gesehen und der Abend war ähnlich konturlos...
Groß und klein, Köln: bis zur Pause toll
Gar nicht übel!
Bis zur Pause eine tolle Inszenierung, die das Thema des Stücks absolut plausibel umsetzt. Die beste Orleans, die ich in Köln bisher gesehen habe. Einsam, verzweifelt auf Kontaktsuche, dabei so sympathisch wie hilflos. Der Videoeinsatz überhaupt nicht reißerisch oder oberflächlich, sondern eine Erweiterung des alleine für die Besuchsszene (aber nicht nur dort) schlüssigen Bühnenbilds. Nach der Pause geht der Inszenierung - zugegeben - ein wenig die Luft aus, vielleicht der auch dem Stück, das ich vorher nicht mehr gelesen habe. Aber das ist für die Botho-Aficionados (Botha & Heiner - die Säulenheiligen des deutschen Feuilletons) sicher undenkbar. Bleibt uns vom Hals mit Peter Stein und Edith Clever, wenn nicht mehr als name dropping dabei rauskommt. Opas Kino war auch mal tot und dieses Feststellung hat dem deutschen Kino seinerzeit nur gut getan!
Groß und klein, Köln: Hätte ich mal..
Hätte ich mal Wilink gelesen, bevor ich gestern nach Köln fuhr. So treffend, so präzise wird hier das fundamentale Scheitern dieser Inszenierung seziert.
Und zuletzt fragt man sich nur im entleerten Zuschauerraum: Wo waren da Intendant und Chefdramaturg als vielleicht noch etwas zu retten gewesen wäre?
Groß und klein, Köln: langweilige Verschlossenheit
Groß und Klein, köln: Inszenierung hinter die Fassade

Die Besetzung versprach viel und wirkte doch, vor allem durch die Inszenierung von Rupprecht, beengt und hinter ihren Möglichkeiten bleibend. Zwischen der Kulisse eingefercht oder hinter den Fassaden verschwindend waren nicht nur die Schauspieler für das Publikum unnahbar und um Schadensbegrenzung für die defunktionale Inszenierung bemüht: Kamerabilder und Bilderprojektionen hatten keinen Mehrwert sondern wirkten ebenso befremdend wie textuelle Eingriffe. Lediglich humoristische Dialoge der "Geister, die ich [Lotte] rief" und eine überaus stimm-, gestik- und mimikgewandte "Frau" (Sophia Burtscher) sorgten beim Publikum für kurzweilige Heiterkeit und Aufmerksamkeit in der ansonsten langweiligen Verschlossenheit und Befremdung der Inszenierung. Nicht die Schauspieler sollten daher hinter die Kulisse verbannt werden sondern diese Art der Inszenierung.
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