Im Namen des Volkes. Was können eigentlich Juristen?

von Rupprecht Podszun

17. Oktober 2016. Gespräche, die Bekannte mit mir über das Theaterstück "Terror" führen, folgen einem strikten Schema. Erst kommt die allgemeine Begeisterungsbekundung ("also wirklich faszinierend!"). Dann folgt ein wortreicher Disclaimer, etwa so: "Du als gelernter Jurist wirst natürlich viel besser wissen, wie dieser Fall zu entscheiden ist." Im nächsten Schritt erhalte ich dann aber eine detaillierte Belehrung, wie dieser Fall zu entscheiden ist. Nämlich genau so. Und nicht anders. Gerade noch als Experte geadelt, erklären mir dann Experten des Alltags meine Welt. So müssen sich die US-Amerikaner fühlen, denke ich jedes Mal, denen die Deutschen eben mal ihr Land erklären. Aber richtig. Nach dem dritten Gespräch dieser Art begannen die Zweifel: Was kann ich als "gelernter Jurist" eigentlich? All diese Laienrichter, die sich dank Ferdinand von Schirach über eine Mordakte beugen, scheinen doch eigentlich kraft ihrer Begeisterung auch einen Schuldspruch fassen zu können.

terror 560 ARD u© ARD Degeto / Moovie Gmbh / Julia Terjung

Das Stück, die Show

Zur Erläuterung für diejenigen, die noch nicht von "Terror" erfasst worden sind: Das Stück bildet eine Gerichtsverhandlung nach, in der ein Kampfjetpilot des Mordes angeklagt ist. Er hatte eigenmächtig ein Flugzeug mit 164 Insassen abgeschossen, das offenbar von einem Selbstmordattentäter gekapert war und auf die mit 70.000 Menschen vollbesetzte Allianz-Arena in München zusteuerte. War Major Lars Koch schuldig? Landauf landab ist das in Theatern solch ein Hit, dass die ARD es mit Schauspielern der Gewichtsklasse Eidinger ins Fernsehen gebracht hat, als "Das europäische TV-Event des Jahres", darunter macht man ja heute eine Votingshow nicht mehr. Denn Clou der Aufführungen wie auch des Showprozesses im Fernsehen ist, dass das Publikum entscheidet: Nach den Plädoyers von Verteidigung und Staatsanwaltschaft wird pausiert, das Publikum stimmt ab, der Vorsitzende Richter verkündet ein entsprechendes Urteil: Freispruch oder Verurteilung. Im Namen des Theater- und TV-Volkes, sozusagen.

Spezialisten für Konfliktlösungen

"Im Namen des Volkes", diese Formel steht am Anfang der Gerichtsurteile in Deutschland, und sie drückt aus, welcher Vorgang dort eigentlich vor sich geht: Die Konflikte in einer Gesellschaft werden von Angehörigen eines eigens dafür ausgebildeten Berufsstandes gelöst. Die Gemeinschaft hat die Rechtsprechung an Profis übertragen. Ferdinand von Schirach überträgt – im Spiel – die Autorität zurück ans Volk. Damit wird eine Entwicklung umgekehrt, die spätestens von Karl dem Großen institutionalisiert wurde: die Professionalisierung des Gerichtswesens. Unter der Gerichtslinde oder im Thing entschied einst die männliche Bevölkerung der Gemeinschaft, heute erledigen diesen Job in Deutschland Männer und (immer mehr) Frauen, die mit zwei Staatsexamen und in der Regel weit mehr als nur mäßigem Verstand ausgerüstet sind. Dabei müssen sie weder dem Stärksten oder Mächtigsten gefallen (als Beispiel möge der Senat des Oberlandesgerichts Düsseldorf dienen, der Sigmar Gabriel seine Ministererlaubnis in einem Fusionsfall zerschoss), noch entscheiden sie so, wie die Mehrheit das gern hätte. Sie sind nur einer einzigen Macht unterworfen: dem Recht. Das ist wirklich faszinierend.

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Schöffen, Laienrichter ohne juristische Ausbildung, gibt es bei deutschen Gerichten nur noch in wenigen Fällen, sie spielen für die Urteilsfindung in der Praxis kaum eine Rolle. Demokratie-Folklore. Aber was haben Juristinnen und Juristen den Laien denn angeblich voraus, was lernen sie in ihrer überlangen Ausbildung? Sie lernen, rechtmäßige Entscheidungen in Konflikten zu treffen. Dazu braucht es drei Schritte: Die Tatsachen und die zugrundeliegenden Interessen werden ermittelt. Dann wird die Komplexität des Lebens auf die für die Entscheidung wesentlichen Aspekte reduziert. Und drittens wird der Konflikt entschieden, indem die Tatsachen anhand von Gesetzen und anderen Rechtsquellen bewertet werden.

Unterkomplex

In "Terror" werden die Laienrichter vom ersten Punkt entlastet – die meisten Details des Flugzeugabschusses bleiben unbestritten oder unaufklärbar, so passt die Aktion in 89 Minuten Fernsehkonserve. Das Herausarbeiten des Wesentlichen läuft nebenher, in den Fragen des Richters, in den Plädoyers. Wer hier nicht aufpasst, muss sich seine Argumentation später selber basteln. Entscheiden dürfen die Zuschauer allein, und genau hier wird’s simpel: Die rechtlichen Maßstäbe werden natürlich nicht vermittelt, dann würde die Sache ja auch ein paar Semester lang dauern, das würde also sogar die zeitlichen Grenzen einer Frank-Castorf-Inszenierung sprengen. Burkhard Hirsch und Gerhart Baum, ehemalige liberale Innenminister und unermüdliche Verfassungspatrioten, haben in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung kritisiert, dass den Zuschauern die verfassungsrechtlichen Grundlagen fehlten. Verfassungsrecht, auch das noch. Nicht einmal das entscheidungstheoretisch fast unterkomplexe Dilemma von "Leben gegen Leben" lässt sich juristisch so schlicht stricken, dass es einen Theaterabend lang funktioniert. Dabei müht sich die ARD-Produktion (Regie: Lars Kraume) ebenso wie wohl die meisten Inszenierungen um einen Extremrealismus, der jedem Gegner des Regietheaters wonniglich das Herz wärmen dürfte. Künstlerischer Zugriff auf Schirachs Drama? Nein, nein, alles soll so sein wie "in echt", sonst gibt das Voting ja keinen Sinn. Mit Realismus allerdings war der Rechtswirklichkeit noch nie beizukommen.

Gerechtigkeit und Schrankenschranken

Unterwegs zum Examen lernen Juristinnen und Juristen übrigens, dass binäre Entscheidungen (schuldig / nicht schuldig) bestenfalls in den allereinfachsten Fällen zu treffen sind. In einer Gesellschaft, die sich immer wieder zusammenraufen muss, lässt sich nicht mit scharfen Schwertern richten. In Gerichtsverfahren und in der Rechtsberatung geht es darum, Interessen zu koordinieren und eine gemeinsame Zukunft auszutüfteln. In anderen Rechtsbereichen gilt das noch viel mehr als im Strafprozess, aber selbst in Strafverfahren kann Gerechtigkeit (um dieses Wort auch noch einmal einfließen zu lassen) in der Regel nur durch feine Differenzierungen erreicht werden. Das Recht kennt daher Ausnahmen und Unterausnahmen, "Schrankenschranken", "dauerhafte Einreden" oder "Tatbestandsreduzierungen". Manchmal trägt das den Juristen den Vorwurf ein, sie seien Winkeladvokaten. Ja, sicher! Aber aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann eben nichts ganz Gerades gezimmert werden, wie Immanuel Kant einmal bemerkte (der sich übrigens in "Terror" vom Verteidiger verhöhnen lassen muss). Wer es gern einfach hat, der kann die Gegenseite mit Vorwürfen überziehen und schnelle Entscheidungen treffen. Das Recht aber macht es sich und den Seinen nicht einfach.

Im Dramaturgienotstand

Und dann noch das Verfahren! In "Terror" lässt sich die Förmlichkeit nur erahnen, wenn Richter und Schreibkraft ("belehrt!") kurze grandiose Momente des Strafprozessrechts aufblitzen lassen. Alles andere landet in einer Art übergesetzlichem Dramaturgienotstand zwischen Aktendeckeln. Was Nicht-Juristen als Bürokratismus und Förmelei empfinden mögen, ist auch für Juristinnen und Juristen "nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig", wie ältere Vertreter des Faches es wohl formulieren würden. Aber nötig ist es trotzdem. Weil es diese heikle Aufgabe, Konflikte "im Namen des Volkes" zu lösen, nachvollziehbar, kontrollierbar macht. So blinzelt aus jeder kleinlichen Verfahrensvorschrift irgendwie auch der Geist von Montesquieu.

"Aber nun sag doch mal, wie ist denn der Fall richtig zu lösen?" Höfliche Gesprächspartner wollen das am Ende ihrer Traktate zum Urteil in der Sache Lars Koch noch rasch wissen. Aber sie hatten ja ganz Recht, wenn sie mich über den Ausgang des Prozesses belehren: Ich weiß es nicht. Richtige Entscheidungen gibt es für Juristen eigentlich nicht. Vielleicht könnte ich eine ungefähre Einschätzung geben, welche Entscheidung ich für rechtmäßig hielte. Alles andere ist Show.

 

Rupprecht Podszun uProf. Dr. Rupprecht Podszun, geboren 1976,  ist Professor für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift "Wirtschaft und Wettbewerb" sowie Mitgründer und Mitherausgeber der Zeitschrift "Journal of European Consumer and Market Law".

 

Mehr zum Thema Terror im Fernsehen und auf dem Theater: Elske Brault besuchte die Premiere von Terror in Karlsruhe. Sie hat Zuschauer um ihre Meinung gefragt.

Im Februar 2015 berichtete Rupprecht Podszun für nachtkritik.de vom Urheberrechtsprozess am Landgericht München 1 Suhrkamp gegen Frank Castorfs "Baal"-Inszenierung am Münchner Residenztheater. Für diesen Text wurde ihm im Oktober 2015 der Michael-Althen-Preis für Kritik zugesprochen.

Über die Uraufführung von Konstantin Küsperts Rechtes Denken im Oktober 2015 in Bamberg schrieb Rupprecht Podszun die Nachtkritik.

 

 

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