Alles schwankt

von Dorothea Marcus

Bochum, 29. Oktober 2016. Wer ist Gregor Samsa? Ein Burn-Out-Geschädigter, ein autistischer Hikikomori, der sich freiwillig in sein Kinderzimmer einschließt? Ein Psychopath, ein Kafka-Double, ein Depressiver, einer mit Vaterkomplex, einer auf der Suche nach religiöser und künstlerischer Erweckung, eine Textstrategie? Die Interpretationen zu Kafkas berühmtestem Werk füllen Regale und sind doch nie genug, stets gleitet man ab an der rätselhaften Weltverweigerung der Hauptfigur aus Kafkas berühmter Novelle "Die Verwandlung" von 1912, die sich in ein "ungeheures Ungeziefer" verwandelt hat und mal groß, mal klein, mal hart, mal weich erscheint.

Erotischer Trost

In Bochum hat Jan-Christoph Gockel einen eigenen Zugang zu den schwankenden Perspektiven der Novelle gefunden: Seine Inszenierung schwankt einfach mit, und zwar mit Hilfe der großäugigen, melancholischen Puppen von Michael Pietsch und des beklemmend großartig-akkuraten Bühnenbilds von Julia Kurzweg. Unermüdlich kreist die Drehbühne und zeigt Samsas berühmtes Zimmer in insgesamt vier Größen, vom Puppenhaus-Format bis zum Riesenzimmer, in dem sich nur noch eine Tür in die Höhe reckt. Ansonsten erscheinen exakt gleich die freudlos graue Tapete, der weiße Nachttisch, die um 6.45 stehengebliebene Uhr – nur das berühmte Bild der "Dame im Pelz", Samsas latent erotischer Trost, wird von einer aufrecht Stehenden zu einer sich lasziv am Boden Räkelnden, je größer das Zimmer ist.

verwandlung1 560 diana kuester uNils Kreutinger als Gregor Samsa © Diana Küster

Ein Puppenheim

Nie passt hier etwas zusammen, ständig verändern sich Blickwinkel und Dimensionen: Zuerst erwacht Schauspieler Nils Kreutinger im winzigen Bett, verzweifelt darüber, sich Mini-Söckchen und Schühchen anziehen zu müssen, kommt kaum durch die Tür, sitzt wie einst Matthew Modine im Film "Birdy" von Alan Parker als Riesenvogel auf der Bettstange. Dann findet die Familie einen nicht mehr antwortenden Miniatur-Puppensamsa im normalen Menschenbett. Staunend holen die Schauspieler ihre – bis hin zu Echthaarperücke und Maßschuhen – irritierend ähnlich, nur trauriger aussehenden Ebenbilder aus einem großen Koffer. Besorgt fasst sich die Schauspielerin Katharina Linder als Mutter an die Labialfalte, als sie sie an der Puppe wiedererkennt.

Und dann wird die Anfangsszene, jener berühmteste Anfangssatz der Literaturgeschichte, in verschiedenen Versionen nachgespielt. Mal sitzt da eine Puppenfamilie am Frühstückstisch und ein menschlicher Riesen-Schauspieler stößt zu ihnen und wirft den Puppen-Prokuristen über den Haufen. Mal sitzt da eine Menschenfamilie und ist mit einem Winzling konfrontiert. Nie werden sie zueinander finden.

Wie auf LSD

Zur bedrohlich dröhnendem Elektro raucht die asthmatische Mutter auch beim Frühstück ihre Kippe, schläft der Vater beim Zeitungslesen auf dem Tisch ein, wenn er nicht haltlos selbstbezogen vor sich hin kichert, steckt sich die "bald erblühende" Tochter Grete ihre Apfelschnitze in den Mund, zusammen heulen sie lautstarke Krokodilstränen, als ihnen der fehldimensionierte Sohn begegnet. Den Käfer, als der sich Samsa fühlt, kann man nur in seiner schillernden Regenhose assoziieren – aber selbst Kafka wollte ja bekanntlich keinen Käfer auf dem Titelblatt der Erstausgabe. Vor allem ist Samsa ein Aus-Der-Welt-Gefallener. Einer, der das System verlässt.

verwandlung3 560 diana kuester uEine schrecklich kafkaeske Familie: Michael Pietsch, Nils Kreutinger, Luana Velis, Uwe Zerwer
© Diane Küster

Ob dies nun an Depressionen, Drogen oder einer Sinnkrise liegt, wird offen gelassen: Den Ursachen von Samsas radikalem Weltausstieg wird auch hier nicht auf den Grund gegangen, seine vielen Parallelwirklichkeiten eher durch einen Zerrspiegel gedreht. Das hat immer wieder fröhliche Züge: Mal schäkert Nils Kreutinger im Mini-Bett erleichtert lächelnd mit seinem agilen Puppen-Ich. Dann wieder sieht man auf einer der rasenden Drehbühnenfahrten Mutter und Tochter mit alptraumartig verzerrenden Gesichtsmasken, als würde man durch einen LSD-Trip hindurch auf sie blicken, während Samsa apathisch an der Wand lehnt.

Explizit und laut

Gockel hat die siebzig Seiten stark ausgedünnt, Michael Pietsch als bleichgeschminkter Conferencier mit Melone gibt den Erzähler und stellt immer wieder Schlüsselsätze des Textes heraus ("Es war zweifellos besser so, wie es der Vater eingerichtet hatte"). Oder er lässt sich an den Frühstückstisch der Familie fallen, wo ihm die Tochter des Hauses (Luana Velis) verschämt sexy Apfelstückchen anreicht – später wird sie ihn lasziv spinnen-sphinxgleich antanzen, während ihre Puppen-Doubles unter dem Zimmer bereits echten Sex haben.

Das kommt in der Novelle so explizit nicht vor, und das ist an diesem Abend, in dem so gekonnt die Wahrnehmungsebenen verschwimmen, auch ein wenig das Problem: Da werden mit dem Holzhammer die so subtil angedeuteten Kafka-Subtexte hervorgezerrt, da neigt mancher Darsteller zum karikaturhaften Over-Acting, da ist so viel laute (tolle) Musik und Geschwindigkeit drin und performt jeder Hauptdarsteller auch noch äußerst gekonnt einen Song – Katharina Lindner etwa "The Beast in Me" von Nick Lowe –, dass man an die stilleren Schichten der Verzweiflung kaum noch herankommt.

Die Welt ist leer

Gegen Schluss gibt es gar noch eine Art von Happy End: Samsa bricht durch das Bild mit der Dame im Pelz, zwängt sich durch eine Art Tunnel der Kunstsublimierung und ist per Videoeinspielung im Park gelandet, wo ihn eine echte Dame im Pelz (es ist natürlich Luana Velis, die Schwestern-Darstellerin) umtänzelt und eine keusche Liebesfantasie vorgaukelt – Leben außerhalb des Ich-Gefängnisses ist nur in Fantasie möglich. Wieder zurück, spielt Kreutinger als Samsa alles nochmal ganz alleine durch, längst schon entschwunden im Paralleluniversum eines Toten: Die Welt ist verwaist und leer, allein stolpert er durchs Bühnenbild, als sei er nur noch leerer Körper.

Souverän werden hier die irritierenden Verschiebungen und Widersprüche von Kafkas Sprache in Bilder gegossen, der Einsatz von Puppen erhält so einen ganz neuen Sinn. Ein souveräner, formal großartiger Abend, der die Bochumer Zuschauer zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Etwas weniger Getöse hätte ihm aber noch besser getan.

 

Die Verwandlung
von Franz Kafka
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Matthias Grübel, Puppenbau und –spiel: Michael Pietsch, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt.
Mit: Nils Kreutinger, Uwe Zerwer, Katharina Linder, Luana Velis, Michael Pietsch.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

In den Ruhrnachrichten (31.10.2016) lobt Max Florian Kühlem vor allem Hauptdarsteller Nils Kreutinger, der Gregor Samsa "wunderbar verängstigt, schaudernd über die Schrecken der eigenen Existenz" spiele. Ansonsten legten die Puppen von Michael Pietsch "tiefer liegende psychologische Schichten frei" und würden von den Schauspielern erstaunlich gut geführt, so Kühlem: "Aufgesetzt wirken allerdings Szenen, in denen Pietsch völlig freien Lauf bekommt und ziemlich platt auf die Meta-Ebene der Kafka-Interpretation wechseln darf."

"Der philosophische Gehalt der Novelle wird in der mit großem Applaus bedachten Aufführung gut erfasst, allerdings birgt die Bühnenadaption einer so komprimierten Literatur, wie Kafka sie schrieb, auch Gefahren", schreibt Jürgen Boebers-Süßmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (31.10.2016). Was beim Lesen in nuancierten Andeutungen erscheine, und erst im Kopf des Leser zur Ungeheuerlichkeit aufsteige, müsse auf der Bühne robust und körperlich bebildert werden. Der "Clou" des "sonst sehr gelungenen Abends" seien die Puppen, aber er wirke auch stellenweise übersteuert, "das gilt für den trällernden Soundtrack, vor allem aber für die als schlüpfrigen Kalauer angelegte Episode mit der Aufwartefrau."

 

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