Presseschau – Die Diskussion um Matthias Lilienthals Münchner Kammerspiele in der Übersicht

München jammert

München jammert

17. bis 21. November 2016. Matthias Lilienthal steht zu Beginn seiner zweiten Spielzeit als Intendant in der Kritik. Nachdem mehrere Schauspieler*innen aus ästhetischen Gründe ihre Kündigungen einreichten, steht die Zielsetzung Lilienthals auf dem Prüfstand. Wir fassen die Debatte in einer Zusammenstellung Pro- und Contra-Lilienthal zusammen.

Contra Lilienthal:

Null-Interesse

Anlässlich der Kündigung des Ensemble-Mitglieds Brigitte Hobmeier schreibt Christine Dössel in der SZ (3.11.2016), der Fall verweise auf ein grundsätzliches Problem einer Theaterorientierung à la Lilienthal: "das Null-Interesse und fehlende Sensorium für die Schauspielerei als Kunst. Diese Geringschätzung des Schauspielers an sich. Welch ein Skandal eigentlich!"

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Partyzone

Am 11.11.2016 erschien in der Süddeutschen Zeitung eine ganze mit "Jammerspiele" betitelte Seite über Lilienthals Intendanz. Erneut schreibt Christine Dössel, die findet, Lilienthal mache aus den Kammerspielen "eine Art Gastspielbetrieb mit angeschlossener Partyzone".

Die Zuschauer wie auch die Schauspieler würden "permanent unterfordert". Überfordert sei man dafür auf der chaotischen Internetseite des Hauses, "wo man nie genau weiß: Ist das ein Gastspiel, eine Eigenproduktion oder ein Kochabend mit Syrern?" Lilienthals "Sozialtheaterverein" fehle eines "schmerzhaft: die Kunst".

Egbert Tholl analysiert für die SZ (11.11.2016) die Kartenverkäufe der Kammerspiele. Seien die Zahlen für 2015/16 gar nicht so übel, schaue es zu Beginn der zweiten Spielzeit unter Lilienthal "düsterer aus. Die prozentuale Gesamtauslastung sank auf derzeit 60 Prozent, 18 Prozent der Abos wurden gekündigt, wobei etwa die Hälfte davon durch neuaufgelegte Probe-Abos teilaufgefangen wurde. Im Oktober konnte man etwa eine Jelinek-Lesung im Schauspielhaus verfolgen, bei der mehr Menschen auf der Bühne agierten als zahlende Zuschauer im Parkett saßen."

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Kunst, das Hasswort

Beate Kayser vom Merkur (4.11.2016) polterte bereits zuvor, was Matthias Lilienthal wolle, habe mit klassischem Theater nichts zu tun. Kunst sei ein Hasswort für ihn. "Aber dann gehört dieser Mann nicht in ein solches Haus. Soll er doch in Hallen und Schuppen seine Performances vorstellen und seine schrägen Gastspiele (­bezahlt übrigens aus der Kammerspiele-Kasse) herzeigen."

Robert Braunmüller von der Abendzeitung (2.11.2016) schreibt, die bisherige Bilanz des Intendanten sei durchwachsen. "Das Theater hangelt sich von einer lauwarmen Premiere zur nächsten. Auch wenn man die Politisierung des Spielplans und die Fokussierung auf das allgegenwärtige Thema Migration begrüßt: Vieles wirkt wohlfeil und predigt ausschließlich zu den ohnehin bereits Überzeugten."

 

Pro Lilienthal:

Sturm im Medienglas

Sven Ricklefs vom Bayerischen Rundfunk (14.11.2016) meint, Lilienthal stehe in der Tradition seiner Vorgänger Frank Baumbauer und Johan Simons, die auch schon mit neuen Regieformen, Genre-Crossovers und internationalen Schauspielern arbeiteten und  die Kammerspiele so nach Anlaufschwierigkeiten immer wieder zum interessantesten Theater im deutschsprachigen Raum gemacht hätten. Lilienthal gehe einen Schritt weiter, indem er das Haus für die freie Szene öffnete.

"Mit welcher Vehemenz einige Münchner Medien von Beginn an auf diesen Versuch einer Neudefinition von Stadttheater eingeschlagen haben, war doch mehr als befremdlich (…) Kritiker sollten sich die Offenheit bewahren, neue Entwicklungen zu begleiten."

Diese "sogenannte Krise" der Münchner Kammerspiele sei wohl vor allem eins: "Ein Sturm im Medienglas".

Sehnsucht nach alten Zeiten

Christoph Leibold von Deutschlandradio Kultur (12.11.2016) betont, ein Umbruch unter einem neuen Intendanten brauche Zeit. Oft auch länger als ein Jahr. Das Problem in der aktuellen Debatte sei aber weniger, dass manche Kritiker Lilienthal diese Zeit nicht einräumen wollten. "Vielmehr scheint es so, dass sie seinen Kurs grundsätzlich ablehnen. Hilfe, da ist einer gekommen, der uns unsere liebgewonnenes Theater wegnehmen will!"

Leibold stimmt der Kritik an vielen Produktionen zu, sieht aber auch Erfolge: Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Wut oder Yael Ronens Point of No Return etwa. "In beiden Fällen war zu erleben, wie beglückend es sein kann, wenn große Schauspielkunst auf performative Theaterstrategien trifft. Und dass sich beides in keiner Weise ausschließt, Lilienthals Kurs also nicht verkehrt ist."

Anke Dürr von Spiegel online (12.11.2016) hält es für "gut möglich, dass sich in der Sehnsucht mancher Berichterstatter nach dem Theater, wie es früher war, in der Solidarität mit altgedienten Ensembledarstellern, insgeheim die Sehnsucht nach alten Zeiten in ihrem eigenen Job widerspiegelt".

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Kampfgeist

"Die behauptete Theaterkrise ist an den Haaren herbeigezogen. Diese Krise wird anhand von normalen Vorgängen herbeigeschrieben und herbeigeredet, ohne dass es dafür eine fundierte Grundlage gibt", sagt Martin Kusej, Intendant am Münchner Residenztheater im Gespräch mit Michael Stadler in der Münchner Abendzeitung (14.11.2016). "Ich ziehe den Hut vor Matthias Lilienthals Kampfgeist (...) Was an den Kammerspielen gezeigt wird, finde ich nicht immer gelungen, aber ich zolle dem Respekt, was dort ausprobiert wird."

Zur ausführlichen Zusammenfassung des Interviews. 

Reaktionen der Münchner Kammerspiele

Im Interview mit nachtkritik.de (12.11.2016) weist Matthias Lilienthal die Kritik am Profil seines Hauses zurück: "Die Kammerspiele haben nichts mit dem HAU zu tun" (zum kompletten Interview)

Lilienthals Chefdramaturg Benjamin von Blomberg wirft im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.9.2016) der Presse "Stimmungsmache" vor.

Die Münchner Kammerspiele laden ihre Kritiker, allen voran Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung, zur Podiumsdiskussion (20.11.2016) ein: Welches Theater braucht München?

Gegenüber der dpa, zitiert u.a. auf fokus.de (21.11.2016), zeigt sich Matthias Lilienthal von der Kammerspiel-Debatte getroffen: "Wenn von dem Ensemble der Kammerspiele als Laienspielschar die Rede ist, dann finde ich, ist das in Anbetracht von zum Beispiel Julia Riedler, Franz Rogowski oder Wiebke Puls einfach nicht richtig. Und wenn gesagt wird, ich richte das Theater zu Grunde, dann bin ich davon auch verletzt."

(miwo / chr)

 

Mehr zum Thema:

- Bericht von der Podiumsdiskussion am 21. November 2016 – Welches Theater braucht München?

– Presseschau vom 18. November 2016 – Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele wirft Kritikern Stimmungsmache vor

– Interview mit Matthias Lilienthal vom 12. November 2016 – Münchner Kammerspiele in der Krise?

– Presseschau vom 8. November 2016 – die Münchner Abendzeitung interviewt Matthias Lilienthal

– Presseschau vom 3. November 2016 – die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass die Schauspielerin Brigitte Hobmeier ihren Vertrag mit den Münchner Kammerspielen kündigt

– Meldung vom 31. Oktober 2016 – Münchner Kammerspiele sagen "Unterwerfung" ab

– Podcast vom 27. April 2016 – die turbulente erste Spielzeit Matthias Lilienthals an den Münchner Kammerspielen

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